E-Book, Deutsch, Band 2, 608 Seiten
Reihe: Fairiegolden Town-Reihe
Benkau Fairiegolden Town – Der König der Verdammten
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-32324-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, Band 2, 608 Seiten
Reihe: Fairiegolden Town-Reihe
ISBN: 978-3-641-32324-0
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Jennifer Benkau wurde im April 1980 in der Klingenstadt Solingen geboren. Nachdem sie in ihrer Kindheit und Jugend Geschichten in eine anachronistische Schreibmaschine hämmerte, verfiel sie pünktlich zum Erwachsenwerden in einen literarischen Dornröschenschlaf, aus dem sie im Dezember 2008 von ihrer ersten Romanidee stürmisch wachgeküsst wurde. 2013 erhielt sie den DeLiA-Literaturpreis für die Dystopie »Dark Canopy«. Sie lebt mit ihrem Mann, vier Kindern, zwei Hunden und einem Pferd zwischen Düsseldorf und Köln.
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 2
Kayleigh
Seit Stunden trommelte der Regen auf das Dach des Wohnwagens. Ein endloses Klopfen an die Wände ihrer kleinen Zuflucht. Die Nacht schien mit jedem Tropfen dunkler zu werden, so dunkel, dass die Finsternis mit langen, dünnen Fingern erst durch die Fensterläden und dann durch das schwache Licht der Öllaterne tastete. Als wollte sie nach ihnen greifen. Still und unbemerkt, um die flackernde Hoffnung in ihnen auszulöschen.
Kayleigh legte den Füllfederhalter beiseite und dehnte ihren verspannten Nacken. Jetzt nur nicht die Schwermut siegen lassen. In den Nachtstunden kreisten ihre Gedanken allein um Bria. Sie musste sie finden, sie retten. Doch es gab keine Spur, keinen Hinweis, wo Chapman sie gefangen hielt.
Kayleigh hatte die Meerjungfrau um Hilfe gebeten, nur für den Fall, dass Bria auf ein Schiff gebracht wurde. Aber selbst, wenn sie sie auf einem entdeckte – was sollten sie schon ausrichten? Piraten anheuern, um das Schiff zu kapern? Nun, das war wenigstens eine Idee.
Die unheilvollen Worte des Dämons hallten wie Echos in ihren Gedanken wider. »Du weißt, dass du keine Chance hast, deine Freundin zu retten, Tinkerin. Für mich wäre es ein Leichtes.«
Seine Anwesenheit im Wagen lag wie eine Klaue um ihre Kehle, die jederzeit brachial zudrücken konnte. Aber sie musste sie ertragen, denn nirgendwo sonst konnten sie auf ihn aufpassen. Chapman ließ die Stadt Tag und Nacht durchforsten. Offiziell fahndeten seine Leute nach den Tätern, die für das Chaos am Hafen verantwortlich waren. Doch in Wahrheit war er hinter dem Dämon her. Und mit Gewissheit streiften auch die Skysons nicht auf der Suche nach Pilzen durch Wald und Heide. Wenn Crocell in die falschen Hände geriet und freikam …
Er hatte ihnen unzählige Male in den bildhaftesten Worten geschildert, was dann geschehen würde. Formulierungen wie: »Die Gedärme der Menschen werden wie Weihnachtsschmuck aus den Baumkronen hängen, während ihre ausgeweideten Körper mit euch tanzen, weil ich es ihnen befehle«, gehörten noch zu den harmlosen Drohungen, die aus dem Korb gekommen waren, der so unschuldig auf der Küchenzeile stand.
Vielleicht log er – auch wenn Rory behauptete, er würde niemals lügen, nur nicht immer alles aussprechen. Kayleigh wollte keinesfalls herausfinden, wie viel Macht dieser uralte Dämon besaß, sollte er jemals wieder aus seinem geflochtenen Gefängnis gelangen, in das Rory ihn mit etwas Feenmagie und einem Übermaß an Mut gesperrt hatte.
Ihr schauderte, als sie an ihren ersten und letzten Versuch dachte, seine Emotionen zu erkunden. Ein brutaler Schmerz war ihr durch Kopf, Herz und Seele gefahren. Ein Gefühl, als kochten ihre Gedanken und brächten ihr Hirn zum Platzen wie einen verstopften Kessel. Noch Tage später war ihr Blut aus Nase, Augen und Ohren gelaufen. Aber besser, sie dachte an etwas anderes. Manchmal war ihr, als bemerkte Crocell es, wenn sie über ihn grübelte, und dann begann er von vorn, ihr und Rory das Schlimmste anzudrohen. Seitdem Rory dem Korb allerdings am Tag zuvor einen Tritt verpasst hatte, mit dem sie sich beim Liverpool Football Club hätte bewerben können, war er still – und das sollte besser auch so bleiben.
Rory saß ihr am Tisch gegenüber, auf der Bank, auf der sie jede Nacht schlief, und wo auch Bria geschlafen hatte. Noch immer beugte sie sich über ihr Papier und ihr rotes Lockenmeer nahm Kayleigh den Blick auf ihr Gesicht. Nur das leise Kratzen des Füllfederhalters verriet, dass sie nicht eingedöst war, sondern trotz der späten Stunde nach wie vor verbissen die Zeilen abschrieb, die Kayleigh ihr vorgegeben hatte. Das schummrige Licht spielte in ihren grün schimmernden Flügeln, wenn diese sich regten. Das taten sie ständig. Rory konnte nicht still sitzen, ohne ihre Füße, ihre Hände oder ihre Flügel zu bewegen. Eigentlich bewegte sich alles an ihr ununterbrochen – selbst im Schlaf.
Rory erinnerte sie so sehr an Bria, dass es manchmal wehtat, sie nur anzuschauen.
Bria … immer wieder geisterten Kayleighs Gedanken zu ihr. Von ihr gab es kein Lebenszeichen, seit Lord Mayor Chapman sie festgenommen und seinem Widersacher Samuel Everett demonstriert hatte, dass er nicht davor zurückschreckte, eine Frau foltern zu lassen. Allein die Gedanken daran stießen bohrende Finger in Kayleighs Nacken.
Chapman hatte mit Bria auch Samuel in der Hand, und Kayleigh war nicht sicher, wie weit beide gehen würden. Samuel war der Cormorant – der Anführer der Skysons, und damit vermutlich der mächtigste Mensch in Liverpool. Die Stadt, in der Fairies selbst nach dem Krieg noch so frei leben konnten wie nirgendwo sonst in Europa. In der es keine Checkpoints zwischen den Vierteln gab und wo die Gleichberechtigung fast greifbar schien! Liverpool – Fairiegolden Town – war Samuels Lebenswerk. Er hatte alles dafür gegeben, selbst all seine Ideale und seine eigene Identität. Doch nun war er bereit, die Stadt in die Hand seiner Feinde zu legen, für das Leben der Frau, in die er sich verliebt hatte.
Kayleigh hatte die zerstörerische Kraft, die zwischen Bria und Samuel aufgekeimt war, von Anfang an gespürt. Bereits bei ihrer ersten Begegnung im Drunken Dragonfly, hatte sie ihr vernichtendes Potenzial gefürchtet, nur ihre Schlussfolgerung war die falsche gewesen. Sie hatte angenommen, Samuel sei ein Risiko für Bria. Dass Bria für Samuel die viel größere Gefahr war, damit hatte sie nicht gerechnet.
Ihr Blick ging zum Fenster. Regenfäden rannen an der Scheibe herab und fingen das schwache Licht der Lampe. Es sah aus, als wuschen sie es fort.
Sicher war nur, dass sie nicht mehr im Liverpool Prison war. Eliah und Selina hatten Kontakte zu Wärtern, und niemand von ihnen hatte sie dort mehr gesehen.
Gerüchten zufolge war sie nach London gebracht worden, doch das roch nach einer falschen Fährte.
»Gibst du mir das Tintenfass, bitte? Meine Füllfeder ist leer.« Zum ersten Mal seit sicher zwei Stunden sah Rory auf. Ihre hellen Augen waren vor Erschöpfung gerötet.
Kayleigh war auch müde, aber erst, wenn sie sich kaum noch wach halten konnte, war ihr das Einschlafen möglich. Und selbst dann brauchte sie Unterstützung von ihren entspannenden Teemischungen.
Es war viel zu viel passiert, um noch ruhig zu schlafen.
Kayleigh hob das Tintenfass an und hielt es an die Lampe, sodass Rory durch das blassblau gefärbte Glas hindurchsehen konnte. »Meine auch. Wir müssen erst neue Tinte besorgen. Ich fürchte, das wird gar nicht so einfach.«
»Wegen der Ausgangssperren?«
»Übermorgen ist Markttag. Die letzten Male habe ich dort nur noch einfache Lebensmittel gesehen.« Und das zu Preisen, die ihr die Sprache verschlagen hatten. »Aber ich höre mich um, ob man irgendwo Tinte ertauschen kann. Und kaufe eine Handvoll Erbsen. Ich kann die Zwiebeln langsam nicht mehr ertragen.«
Rory beugte sich vor, um einen Blick auf den Text zu werfen, den Kayleigh verfasst hatte. »Wie weit bist du denn gekommen?«
»Deine Eltern haben gerade geheiratet«, antwortete Kayleigh mit einem Lächeln. »Aber glaub nicht, ich würde ihre Hochzeitsnacht beschreiben.«
Rory kicherte. »Das würde ich auch nicht lesen wollen.«
Sie hatte Kayleigh gebeten, für sie die Geschichte ihrer Familie aufzuschreiben; aus den Leben von Menschen zu erzählen, die Rory selbst nur noch aus Erinnerungen kannte, die bereits zu verblassen drohten. Von Menschen, die sie geprägt hatten, bevor der Krieg sie ihr genommen hatte. Rory konnte für ein solch umfangreiches Projekt noch nicht gut genug schreiben, aber sie wünschte sich, dass etwas von ihren Eltern blieb. Für sie, für die Welt, vielleicht für irgendjemanden, der eines Tages von ihnen lesen wollte.
»Du lernst doch zu schreiben«, hatte Kayleigh gesagt. »Warum bist du so ungeduldig und wartest nicht, bis du die Geschichten selbst aufschreiben kannst?« Die Frage war rhetorischer Natur. Rory war ungeduldig, weil sie eine Fee war.
Doch die Antwort hatte Kayleigh zuerst überrascht und dann berührt. »Ich habe einen Dämon in meinem Korb. Er ist fast eine Art Freund für mich geworden. Ein sehr seltsamer Freund, der mich töten möchte. Ich habe eine Art Bombe gezündet, als ich Crocell bannte. Ich kann sie ticken hören. Es wäre naiv, zu denken, ich hätte noch genug Zeit, um die Geschichte selbst zu schreiben. Aber womöglich bleibt nach dem Knall noch jemand übrig, der sie lesen sollte, um etwas daraus zu lernen.«
Rory war still geworden und auch Kayleigh hatten die Worte gefehlt. Die Fee schien immer so unbelastet. Als verstünde sie gar nicht, in welch gefährlichen Zeiten sie lebte, in welch heikle politische Phase sie geraten war. Die Situation in Liverpool hatte die Kraft, einen neuen Weltkrieg zwischen Fairies und Menschen auszulösen – und in Rorys Korb lag die schrecklichste und mächtigste aller Waffen.
Nur selten gab Rory zu erkennen, dass sie sich der Bürde, die sie trug, überaus bewusst war.
»Aber Lesen und Schreiben«, hatte sie dann eifrig ergänzt, »das will ich trotzdem lernen! Dumm war ich lang genug!«
Kayleigh lächelte bei der Erinnerung. Rory war so klug und wusste doch so wenig. Ihre Intelligenz hatte nichts mit Bildung zu tun, die man ihr verwehrt hatte, aber das konnte sie ihr hundert Mal sagen – die Fee glaubte es ihr hundertundein Mal nicht.
»Wie weit bist du mit den Sätzen gekommen?«, fragte Kayleigh, während sie das Tintenfass aufschraubte und schräg hielt, in der Hoffnung, dass die letzten Tropfen zusammenliefen...