Benjamin | Into madness | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

Benjamin Into madness

Geschichten vom Verrücktwerden
Version 1.null
ISBN: 978-3-8437-2056-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Geschichten vom Verrücktwerden

E-Book, Deutsch, 288 Seiten

Reihe: Ullstein eBooks

ISBN: 978-3-8437-2056-4
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



A. K. Benjamin ist Neuropsychologe und hat sein Leben der Behandlung und Erforschung von psychischen Erkrankungen gewidmet. In seiner mitreißenden Memoir lässt er uns teilhaben an der spannenden Enträtselung der menschlichen Psyche - die seiner Patienten und seiner eigenen. Denn auch er selbst leidet an einer Erkrankung. Eindrücklich und erschütternd gewährt A. K. Benjamin Einblick in das Leben von Menschen, die kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Anhand zahlreicher Patientengeschichten und seiner eigenen zeigt er, dass das menschliche Bewusstsein ein Ort ist, an dem selten alles so ist wie es anfangs scheint. Ein ungewöhnliches Memoir, das schonungslos und doch einfühlsam von der Suche nach Heilung erzählt.

Dr. A. K. Benjamin wurde in Yorkshire geboren. Er studierte Englische Literatur in Oxford, arbeitete lange Jahre als Drehbuchschreiber, bevor er eine NGO für obdachlose Drogenabhängige gründete und zwei Jahre in einem Kloster in Kalifornien verbrachte. Mit dreißig studierte er Klinische Neuropsychologie und arbeitete über zehn Jahre in einem großen Londoner Krankenhaus. In einer Fortbildung widmete sich Benjamin der Rolle von Meditation und anderen fernöstlichen Praktiken im Bereich der Neurorehabilitation. Er lebt inzwischen in Indien, wo er eine Klinik für Kinder mit neurologischen Störungen aufgebaut hat.
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Du


Wir haben uns an die Kameras gewöhnt, die Fernsehcrews, die verkaterten jungen Männer und Frauen mit Frisuren wie Frank-Gehry-Bauten, die rauchend in der Rettungswageneinfahrt stehen oder vor den Operationssälen herumlungern, immer auf der Lauer, immer auf der Jagd nach einem neuen Notfall. Zuerst wurden unsere Hemden frischer, die Ärmel bis über die Ellbogen hochgekrempelt, gemäß den Richtlinien der Krankenhausstiftung, dann wurden unsere Fragen einfühlsamer, unser Ton sanfter, und zum ersten Mal seit Jahren sahen wir den Patienten wieder in die Augen. »Reality« war ansteckend. Niemand war dagegen immun, die meisten waren Naturtalente. Dann ändert sich alles.

Jetzt betreten wir von links die Bühne: die Jungen, die Alten, die Ernsten, die Zornigen, die Hoffnungsvollen und die Schuldigen; die meisten sind Männer, auch wenn viele von uns noch wie Jungen aussehen und auch so klingen; überwiegend sieht man Anzüge, hier und da einen anachronistischen Kneifer oder eine Fliege, einige tragen OP-Kittel und Joggingschuhe; unterschiedlich, gegensätzlich, und doch durch unsere sprachliche Besonderheit verbunden, als entstammten wir alle derselben Kaste. Und auch wenn wir die Kameras kaum mehr bemerken, ist unser Auftritt immer noch Show, ein Theaterstück, das es ohne euch, unser Publikum, nicht gäbe: Wir kommen, um abzuholen.

Wir blättern in Krankenakten, die wir gerade erst auf-geschlagen haben, und rufen laut Namen aus, als wären es Fragen:

»Miss Jennifer Almendy?«
»Mr Konrad Kuchzynski?«
»Doktor Mohammed Mosham Alawi?«

Manche sprechen wir falsch aus, in London heutzutage keine Seltenheit. Wenn wir Glück haben, hebt einer von euch die Hand, steht mithilfe eines Partners oder Gehstocks auf oder kommt im Rollstuhl auf uns zugefahren. Aber es ist nicht ungewöhnlich, dass gar nichts passiert, dass Namen verhallen, ohne in Anspruch genommen zu werden, vielleicht weil unser Brief in der Post verloren gegangen ist, nicht verschickt oder geschrieben wurde, weil der Termin versäumt oder vergessen wurde, was in der Allgemeinen Neurologie natürlich symptomatisch wäre. Oder, schlimmer noch, es ist zu spät, jemand hat sein Sprachvermögen verloren, kann den Arm nicht heben, kennt seinen eigenen Namen nicht mehr.

Aber du bist hier, kommst durch das Wartezimmer auf mich zu, dein Gang ist normal. Ich stelle mich mit routinierter Ungezwungenheit vor, lächle, gebe dir die Hand – »Bitte, nennen Sie mich Ally« – in der Hoffnung, dir die Aufregung zu nehmen (auch wenn es manchmal den gegenteiligen Effekt hat). Ich führe dich einen langen Flur hinunter, der von Türen mit Aufschriften wie »Epilepsie«, »Multiple Sklerose«, »Neuroonkologie«, »Chronischer Schmerz« und »Neurodegenerative Erkrankungen« gesäumt ist. Wenn das Schweigen zu lange dauert, frage ich dich vielleicht, ob du den Weg gut gefunden hast oder schon einen Tee hattest. Du antwortest mit nachdenklicher Höflichkeit, platzt mit einer Geschichte heraus, kannst nicht mehr aufhören zu reden oder hast meine Frage überhört, weil du in Gedanken woanders bist als in diesem Höllenflur.

Mein Büro ist das letzte auf der linken Seite. Ich nenne es meins, auch wenn ich hier kein eigenes habe: unterschiedliche Tage, unterschiedliche Räume. Es gibt hier keine Fotos von Kindern oder Hunden, keine Renaissance-Kupferstiche von Medizinstudenten, die sich um ein freigelegtes Zerebrum scharen, keine kalkuliert beruhigenden, abstrakten Gemälde in warmen Rot- und Gelbtönen, nur knochenweiße Wände mit kühl-blauer Bordüre, Neonbeleuchtung, einen mattgrauen Schreibtisch mit schlichten Stühlen davor und in der Ecke einen kleineren Schreibtisch mit einem klobigen alten Computer (eine Grafik am Bildschirmrand zeigt die E.-coli-Neuerkrankungsrate in Echtzeit), Aktenschränke, ein paar Regale mit veralteten Lehrbüchern und Zeitschriften, die noch nicht für immer »ausgeliehen« waren. Es könnte auch der Verhörraum einer Polizeiwache sein. Vor ein paar Jahren haben wir den Sicherheitsdienst gebeten, für den Fall eines Angriffs einen Alarmknopf oder sogar eine Überwachungskamera zu installieren. Lange Zeit passierte nichts, dann tauchte über Nacht ein roter Knopf auf, der, wenn man ihn drückt, keinerlei Geräusch von sich gibt.

Wir sitzen uns am Schreibtisch gegenüber, sehen uns an, und die Atmosphäre lädt sich auf. Du bist jünger als die meisten, Anfang vierzig, in meinem Alter. Dein silbernes Haar ist noch feucht. Ein Hauch von Zigarettenrauch im Chlorgeruch. Der schwache Abdruck einer Brille rahmt deine kühlen grau-blauen Augen ein wie Anführungszeichen. Deine Augen: Luftblasen-Lassos, Wasser und Licht, Stigmata des Herzens. Auf irgendeiner nonverbalen Ebene dauert das, was passieren muss, nur einen kurzen Augenblick; es muss nicht viel sein, es genügt, dass der Kanal offen ist, dass ich und alles sehen kann, was du mitbringst, ganz gleich, wie niederschmetternd es sein mag.

Der Moment verstreicht, dann noch einer und noch einer … Es gab eine Zeit, in der ich all das nicht für Liebe gehalten habe, aber was sollte es sonst sein?

Vor unserem Treffen gab es einen formaleren Kontakt: den Arztbrief. Kurze Mitteilungen von Arzt zu Arzt, über die der Patient in Kenntnis gesetzt werden muss. Sie sind – auf eine fast kaltherzige Art – unglaublich explizit und gleichzeitig nicht annähernd detailliert. Nicht, dass ich mich beschweren will, ich weiß, wie beschäftigt wir sind. In deinem Arztbrief werden »allgemeine Gedächtnisprobleme« und einige »ungewöhnliche Verhaltensweisen« erwähnt, ohne »ungewöhnlich« näher zu erläutern; es heißt, in deinem Leben sei »gerade viel los« – als wäre das nicht bei jedem so. Aber jetzt, da du mir in natura gegenübersitzt und deine feuchte Haarmähne dunkle Flecken auf deiner Seidenbluse hinterlässt, ist mir der Brief meines Kollegen, der offen zwischen uns auf dem Tisch liegt, peinlich: platte Komplimente von der Stange über deine »Attraktivität«, deine »Resilienz«, deinen »Charme« – als hätten die letzten hundert Jahre nicht stattgefunden …

Aber vielleicht merkst du gar nichts davon, du wartest gespannt auf den Endpunkt des Briefs, der plötzlich kommt, wie aus dem Nichts, in Form der Frage, ob es sich in deinem Fall um eine »psychogene Überlagerung, wahrscheinlich belastungsbedingt« oder einen »beginnenden organischen Prozess« handelt?

Mit anderen Worten: Stress oder tödliche Erkrankung?

Die Fragen, die wir stellen müssen, beruhen auf solchen Alternativen, man nennt das »Differenzialdiagnose«. Ge-genüberstellungen von Namen, wie bei einem Boxkampf: Alzheimer gegen Vaskuläre Demenz? Alzheimer gegen Depressionen? Alzheimer gegen Lewy-Körper-Demenz? Lewy- Körper-Demenz gegen Parkinson-Demenz? Parkinson-Demenz gegen progressive supranukleäre Blickparese? Progressive supranukleäre Blickparese gegen corticobasale Degeneration? Große Namen, Titelkämpfe. In den Vorkämpfen die Außenseiter: Prion-Krankheit, Guam-Krankheit, Hirayama-Syndrom, Erb’sche Lähmung, Morbus Gaucher, Sanfilippo-, Rasmussen-, Dandy-Walker-, Wallenberg-Syndrom und Hunderte, Tausende mehr, ein internationales Telefonbuch des Schreckens. Im Grunde sind auch wir nichts anderes als glorifiziertes Empfangspersonal, das einen Namen – deinen neuen Namen – unter unzähligen anderen auswählt, manchmal im altmodischen persönlichen Ton, heute jedoch eher im Stil eines Callcenters in Hyderabad.

Durchschaust du den Fachjargon? Ja, ich sehe es in deinen Augen. Weil du es in meinen gelesen hast. Die Frage, die sich stellt, ist: Zeigst du die ersten Symptome einer schrecklichen Krankheit, die in deinem jungen Alter deinen Körper vermutlich innerhalb von drei bis fünf Jahren funktionsunfähig macht und dich innerhalb von sieben bis zehn Jahren tötet? Oder bist du einfach nur menschlich?

Ich führe das Gespräch. Dabei interessiert mich alles: deine Art zu sprechen (ein gelegentliches leichtes Lispeln), Syntax, Wortschatz, Intonation, Humor (du bist ein Naturtalent), Konzentrationsfähigkeit, geistige Flexibilität, Temperament, Selbstwahrnehmung und ob du mir in die Augen siehst oder nicht (ununterbrochen). Ich frage dich nach deiner Stimmung, deinem Alltag, deiner Arbeit, deinen Hobbys (»Ich schwimme wie ein Fisch«), danach, was du liest (Grace Paley, Pema Chödrön und Proust, immer wieder Proust – »lebenslänglich«), wie du liest (im Stehen, dabei knabberst du Chips), welche Musik du hörst (Brass Bands, Hank Williams, Radiohead) – manchmal übertreibe ich es mit der Fragerei, gehe über das offensichtlich klinisch Relevante hinaus, aber bisweilen ist Neugier auch hilfreich –, ich frage dich nach deinem Glauben, deinen Zweifeln, deinen Essensvorlieben (»Ich esse auch wie ein Fisch«?), nach deinem Sehvermögen, deinem Gehör-, Geschmacks-, Geruchs- und Tastsinn. Gemeinsam rekapitulieren wir deine Krankheitsgeschichte und die deiner Familie (eine Tante hatte semantische Demenz), deine Beziehungen, dein Sexualleben...


Jakob, Simone
Simone Jakob lebt und arbeitet in Mülheim an der Ruhr und übersetzt englischsprachige Literatur ins Deutsche, u.a. von David Nicholls, Philip Kerr und Abi Daré.

Benjamin, A. K.
Dr. A. K. Benjamin wurde in Yorkshire geboren. Er studierte Englische Literatur in Oxford, arbeitete lange Jahre als Drehbuchschreiber, bevor er eine NGO für obdachlose Drogenabhängige gründete und zwei Jahre in einem Kloster in Kalifornien verbrachte. Mit dreißig studierte er Klinische Neuropsychologie und arbeitete über zehn Jahre in einem großen Londoner Krankenhaus. In einer Fortbildung widmete sich Benjamin der Rolle von Meditation und anderen fernöstlichen Praktiken im Bereich der Neurorehabilitation. Er lebt inzwischen in Indien, wo er eine Klinik für Kinder mit neurologischen Störungen aufgebaut hat.



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