E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-552-07562-7
Verlag: Zsolnay, Paul
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Was für eine couragierte Frau, was für eine Autorin: Friedl Benedikt war lebensfreudig, tatendurstig, neugierig, zielstrebig. Für Elias Canetti ist die junge Frau, die er 1936 in Wien kennenlernt, »eine geborene Erzählerin«. Er wird ihr Lehrer und Geliebter, ihr Lebensmensch bis zu ihrem frühen Tod 1953. Und er fordert sie auf, »jeden Tag zu schreiben«. Sie befolgt seinen Rat, auch in London, wohin sie beide nach dem »Anschluss« emigrieren müssen. Drei Romane erscheinen in England, doch das Beste, was sie geschrieben hat, fand sich im Nachlass Canettis und wird hier erstmals veröffentlicht: Aufzeichnungen von Begegnungen mit Freunden und Fremden, Szenen auf der Straße und in Pubs, Eindrücke von Reisen durch das Nachkriegseuropa, die Dinge der Liebe. Eine große Entdeckung.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1939 —
Sommer in Tichborne
Nach ihrer Ankunft in England Anfang 1939 lebt die 22-jährige Friedl Benedikt zunächst in London im Haus ihrer Tante Heddie, der Frau des Ägyptologen Alan Gardiner; den Sommer vor dem Kriegsausbruch verbringt sie mit ihnen in Tichborne, einer kleinen Gemeinde nahe Winchester in der Grafschaft Hampshire im Süden Englands, wo die Gardiners ein weitläufiges Landhaus gemietet haben. Elias Canetti (»Ilja«) ist ebenfalls seit Beginn des Jahres 1939 in England. Tichborne, Sommer 1939
Ilja, aus mir ist nun fast ein Schloßfräulein geworden, aus meinem Fenster blicke ich auf grüne, geschorene Rasen und einen Teich, da schwimmen Enten und Schwäne, und Felder und Wiesen — so weit kann man gar nicht sehen. Das gehört alles der Familie Tichborne, das ist ein uraltes Geschlecht, aber augenblicklich ohne Geld, und so bewohnen Gardiners das Haus, das recht häßlich ist, das alte wurde nämlich zur Zeit der napoleonischen Kriege niedergerissen, und das jetzige besteht nur aus Gängen mit unzählbaren Türen, und Heddie hat auf jede Türe den Namen des Bewohners geklebt. Nur in das Speisezimmer wagt man kaum in hellen Kleidern zu kommen, denn an der Wand hängen die Ahnen der Familie. Nachts hat jedes Bild ein eigenes Lämpchen, und es scheint einem, als ob man nur in schweren schwarzen Trauerkleidern diesen Raum betreten dürfte. Auch eine eigene Kapelle hat das Haus, am Sonntag kommt ein Pfarrer und predigt hier. Unten sitzen die Bauern und Bewohner von Tichborne und oben auf der Balustrade die Familie. Und dann gibt es Möbel, die mit hellblauer Seide überzogen sind, sehr gebrechlich, und rote Plüschteppiche und Fenster mit farbigem Glasmuster, und überall stehen Diener, so als ob sie bitten würden, man soll doch etwas von ihnen verlangen. Die Zimmer sind groß und voll Blumen und mit sehr hohen Fenstern, aber so, wie aus allen Zeiten mühsam zusammengesetzt, und auch die Luft ist so, wie wenn sie schon hundertfach veratmet wäre. Es gibt eine eigene Bibliothek für die Familiengeschichte mit dicken Bänden und gelblichem Papier. Soweit ich bisher gesehen habe, wird hier hauptsächlich viel und gut gegessen, Tennis und Croquet gespielt und nach dem Nachtmahl auf Oscar Wildes Art gesprochen, geblödelt, gespielt. Es sind jetzt nur fünf Gäste hier, übers Weekend kommen mehr. Cerny ist hier, heute vormittag habe ich einen langen Spaziergang mit ihm gemacht. Zu einer Kirche aus dem 11. Jahrhundert sind wir gekommen, da sind die Tichbornes zum Teil begraben, die Grabsteine sehen aus wie blinde Spiegel, ganz dünn und gelb, man kann nichts mehr darauf erkennen, und die Bänke sind jede einzelne von Holzzäunen umgeben, so sitzen die Betenden in einem richtigen Stall. Außer Cerny ist Olaf hier, ein alter Freund Heddies, der den ganzen Sommer hierbleiben wird, Kinderbücher schreibt und täglich nach Winchester in die Bibliothek fährt. Er ist sehr schmal und hat müde Augen, macht ewig Witze und lächelt mit falschen Zähnen. Ferner ist Odette hier, eine arme Freundin Heddies, die ihre grauen Haare mit einer schwarzen Masche zusammenbindet, geschminkt ist und ganz dünn und verwickelt französische Worte in ihr Englisch streut und ständig von Heddie beschäftigt wird. Und dann Mr. und Mrs. Swan. Beide spitz und grauhaarig, Mrs. Swan starrt verloren in die Luft, man glaubt, sie hört nie, was gesprochen wird, aber dann antwortet sie ganz erstaunlich auf Fragen, die man an ihren starren Blick stellt. Mr. Swan spielt Klavier, verabscheut moderne Musik, spielt Schach mit John Simon, hat einen Automaten erfunden, der verschiedene Antworten gibt, wenn man Geld einwirft, singt in einem Chor, studiert die hiesige Familiengeschichte, schlägt Alan in Tennis, was er aber wirklich ist, konnte ich bisher nicht entdecken. Unter allen diesen Leuten benehme ich (mich) möglichst damenhaft und zurückhaltend und versuche sie näher kennenzulernen. Das ist schwer genug, weil sie immer nur wenige Tage hierbleiben, dann kommen Neue. Ich bin auch erst seit gestern hier und war sogar 1 ½ Tage in London. In Anbetracht Deiner Ratschläge über Raffinement habe ich Dich nicht angerufen, obwohl ich sehr, sehr gerne gehört hätte, wie es mit Dir steht, wie Georg sich benommen hat, was weiter mit Dir geschehen wird. Ach Sternchen, wie ich hier etwas erreichen soll, sehe ich nicht, es müßte das Glück vom Himmel springen, um zu helfen. In London habe ich Margaret gesehen, sie war sehr lieb, kommt aber gar nicht hierher, »I detest this life«, sagte sie. Ich werde ihr in den nächsten Tagen schreiben, ausführlich über Dich, und sie bitten, Dich anzurufen. Sie hat auch ein Häuschen am Land, aber viel Arbeit jetzt — vielleicht kann sie Dich aber eine Zeitlang dort einladen — darüber werde ich aber natürlich kein Wort schreiben. Sie hat auch Kafka gelesen, und er ist einer ihrer liebsten Schriftsteller. Morgen kommen Rolf und seine Frau, heute Paul Stobart, ach Ilja, nur eine Woche hier muß den Gardiners mehr kosten, als Du in einem halben Jahr ausgeben würdest — daran aber darf man hier überhaupt nicht denken. Wahrscheinlich erstickst Du in dem schwarzen London. Geliebtes, liebes Sternchen, vielleicht wird hier noch alles anders, und es muß schließlich gehen, nach einem Tag kann man eigentlich noch gar nicht urteilen, derweil ist alles sehr fremd noch für mich. Aber zwei große Nachttöpfe habe ich in meinem Zimmer — sie sind mein Trost. Heute ist meine Tante weggefahren, und das ganze Haus mit fünfzehn Zimmern steht ausschließlich nur zu meiner Verfügung. Ich wandere daher lässig die Treppen hinauf und besichtige die Räume eingehendst und mit Muße. Die Fußböden sind mit hellgrauem Linoleum bespannt, auf denen weiße Möbel herumvegetieren. Außerdem sind die Zimmer leer, so leer, daß man sich zum Beispiel auf den Fußboden setzen und laut schreien kann: »Der Tee dreier Wochen befindet sich unverdaut in meinem Magen, der deshalb überfüllt ist! Ich wagte es nicht, die Wasserspülung am Closett zu ziehen, weil sie einen unfeinen Lärm macht, noch unfeiner aber ist es, sie nicht zu ziehen, und deshalb diese quälenden Folgen!« Niemand antwortet. Daher begebe ich mich zum Stiegenaufsatz, und der Tee dreier Wochen rinnt die Treppen hinunter, plätschert über das wohlgepflegte Linoleum. Ach, es ist eine wahre Freude. So ein Geschäftchen beschwingt einen mehr, als Worte es ausdrücken können. Hierauf tänzle ich in die Bibliothek meiner Tante. Sie enthält Bücher jeder Art: allermodernste Surrealisten, altmodische Liebesgedichte, psychologische und politische Abhandlungen, Bücher über Kindererziehung und Bücher »Auf der Suche nach Gott« und Kochbücher, Reisebeschreibungen, Lehrbücher, pornographische Schriften, »Wie halte ich mein Haus rein?«. An allen diesen Büchern nippt meine Tante wie ein Schmetterling an Blüten. Das Genippte bietet sie ihren Gästen, je nach Profession, wie einen Leckerbissen an, und die Gäste beißen alle an, und meine Tante entflieht, wieder wie ein Schmetterling, den auf solche Weise entfachten Leidenschaften. Meine Tante hat auch ein Arbeitszimmer, in welchem die »Konstruktion« steht. Die »Konstruktion« ist aus Glas und heilig. Vor ihr sitzt meine Tante und arbeitet. Die »Konstruktion« regt meine Tante zu witzigen, pointenreichen Geschichtchen an, denn sie stammt von einem Künstler. Noch dazu von einem russischen Künstler. Dabei muß natürlich jedem Dummkopf etwas einfallen. Das Schlafzimmer meiner Tante besteht aus einem Bett und eingebauten Schränken. Das Bett ist für ihren Freund bestimmt, einen schwächlichen Fleischsack, aber faszinierend. Das Bett füllt den Raum vollkommen aus. Und so schlendere ich in das...