E-Book, Deutsch, 464 Seiten
Benedict Doktor, lehren sie mich singen
2. Auflage 2017
ISBN: 978-3-7448-0621-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Tagebuch der Psychoanalyse einer Patientin
E-Book, Deutsch, 464 Seiten
ISBN: 978-3-7448-0621-3
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sophia Benedict - Schriftstellerin, Wissenschaftsjournalistin Lebt und arbeitet in Wien
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
1993
Psalmen, 69:20
6. Jänner 1993
Die Krise ist vorbei, es scheint, ich konnte ein weiteres Knäuel entwirren. Alles in meinen Gefühlen ist verwirrt! Sie lehren mich zu unterscheiden, was in meinen Empfindungen zur Vergangenheit gehört und was zur Gegenwart. Sie sagen, nur so könne ich mich von den alten Ängsten befreien. Sie sagen, diejenigen, vor denen ich mich damals fürchtete, hätten heute keine Macht mehr über mich, sie könnten heute mein Leben nicht mehr beeinflussen. Aber sie beeinflussen es trotzdem! Sie sitzen in mir und versuchen mich zu steuern. Ich übertrage meine früheren Gefühle auf die Menschen, die mich heute umgeben. Die Macht der Vergangenheit hat sich in meinem Bewusstsein verfestigt. Entschuldigen Sie bitte, im Unbewussten.
Sie haben recht, ich muss mich von dieser Macht befreien!
Das Gefühl der Dankbarkeit, das ich empfinde, erwärmt mein Herz. Es ist ein wunderbares Gefühl!
Die Unzufriedenheit mit mir selbst und dem eigenen Äußeren. Besonders schwierig ist es, wenn ich krank bin. Ich warte auf die Befreiung... Wovon? Vom eigenen Körper? Vom Unwohlsein? Ich schäme mich. Wie wunderbar sind die Momente, in denen ich mir selbst gefalle! Das sind die tatsächlich glücklichen Momente meines Lebens! Aber es sind trotzdem nur Momente. Sie sagen, die überwiegende Mehrheit der Frauen sind bei weitem keine Schönheiten. Aber hassen sie sich deshalb? Sind nur die Schönen glücklich? Ich weiß, dass ich nicht schlecht aussehe, aber ich hätte gerne... Als wir darüber sprachen, sagten Sie, wäre ich eine herausragende Schönheit, hätte mir das meine Leiden auch nicht erspart. Offenbar gehöre ich zu den Menschen, die ihren Körper so wahrnehmen, als sei er etwas Störendes, ein Gefängnis, eine Barriere zwischen ihnen und ihrer Umgebung. Daher dieses Gefühl der Ungeschütztheit, der Verletzlichkeit. Ich wurde mit diesen Verletzungen nicht geboren, ich bekam sie mit der Zeit. Aber... manche Menschen sind einfach empfindlicher und andere stärker.
Sensibilität. Wenn man von einem Menschen sagt, er sei sensibel, klingt das wie ein Kompliment. Vielleicht nur, weil es das Gegenteil von Gefühllosigkeit ist? Ist Sensibilität an sich etwas Positives? Steht sie in einer Reihe mit Anstand, Ehrlichkeit, Uneigennützigkeit? Erhöhte Sensibilität ist auch ein Leiden.
Kindheit... Müdigkeit... Mein Bruder und ich gingen um zwölf oder sogar noch später zu Bett. Mit den Erwachsenen. Am Morgen war ich zum Umfallen müde und dann den ganzen Tag nervös. Ich ging meist ohne Frühstück in die Schule. Solange Großmutter noch am Leben war, ließ sie, wenn sie bei uns wohnte, meinen Bruder und mich nie ohne Frühstück aus dem Haus.
Ich hatte oft Angina und bekam dann Spritzen. Dafür musste ich mich freimachen... Es war peinlich. Die Eltern gaben sich keine Mühe um mein Einverständnis, sie banden mich fest und ich wurde... ich leistete verzweifelt Widerstand. Sie sagen, in meinem Widerstand habe es einen unbewussten spielerischen Anteil gegeben. Ich weiß nicht...
20. Jänner 1993
Mein lieber Doktor, vorigen Dienstag kam ich eine Stunde zu spät zu Ihnen, versäumte also meine Stunde. Sie glauben, das sei ein Zeichen dafür, dass ich das begonnene Thema ablehne.
Für mich haben Sie sogar gelesen...
Und wieder diese Frage... Meine Gefühle...
Meine Gefühle zu Ihnen ändern sich ständig. Zunächst war ich begeistert von Ihrem Verstand und Ihrem Talent, später war es etwas, was der Liebe ähnelte, und jetzt fühle ich mich abhängig wie ein kleines Kind. Es ist unerträglich. Sie haben gefragt, ob ich mich fürchte, von Ihnen enttäuscht zu werden. Ich habe geantwortet, dass ich mich fürchte, nicht enttäuscht zu werden. Aber am meisten fürchte ich mich davor, Sie zu enttäuschen.
Nach meiner Dummheit mit den Tabletten... Ich verspreche es: Es war zum letzten Mal! Ich werde Ihnen nie mehr Kummer bereiten. Ich werde leben. Ich verspreche es. Ich werde dankbar sein. Vergessen wir das! Ich will nie mehr darüber reden. Voriges Mal wollten Sie dieses Thema ansprechen, ich zog beschämt den Kopf ein und sah unter dem Tisch Ihr Bein – im Hausschuh und mit der eingerollten Tennissocke. Wie bei einem Kind. Plötzlich überflutete mich ein zärtliches Gefühl... Sie sind ja auch nur ein Mensch. Wie alle Menschen haben Sie wahrscheinlich auch Ihre Probleme. Wozu brauchen Sie meine auch noch dazu? Ich gestehe: Ich beneide Sie nicht! Was Sie sich für einen Beruf ausgesucht haben! Im fremden Seelenmüll zu wühlen...
Das Geheimnis der Übertragung... Es scheint, manchmal übertrage ich die zärtlichen Gefühle, die ich für Sie empfinde, auf mich selbst. Sie glauben, so soll es sein? Das helfe mir, mich selbst besser leiden zu können.
Mein Körper... Sie meinen, meine Überzeugung, dass ich gemocht würde, wenn ich nur richtig schön wäre, entbehre jeder Grundlage. Ich weiß nicht. Waren die Körper derer, die ich liebte, immer vollkommen?
Traurigkeit. Sie sagen, es sei nicht schlimm, traurig zu sein...
22. Jänner 1993
Am Montag war ich beim Zahnarzt. Dann ging ich hinaus und merkte plötzlich, dass der Tag außergewöhnlich warm war. Solche Tage sind wie geschaffen, um sich des Lebens zu freuen.
Es ist so wichtig, Namen für die eigenen Gefühle zu finden! Sie haben recht, ich kann das nicht besonders gut. Aber ich lerne. Die Gefühle überfluten mich, ich zapple hilflos in ihnen, verliere mich in meinen Ängsten... Mein Leid kommt nicht nur von meinen früheren Erlebnissen, Mein derzeitiges Leben ist auch nicht besonders lustig. Ich fühle mich krank. Das Herz schmerzt, Atemnot, Kraftlosigkeit...
Wie ich bereits sagte, habe ich mich voriges Mal verspätet. Ich kam eine Stunde später und wartete auf die Fortsetzung des Gesprächs über . Sie haben recht. Wenn man der Freudschen Theorie der Fehlleistungen glaubt, wollte ich einfach nichts davon hören.
Ihre Auffassung des Romans unterscheidet sich von dem, was ich darin sehe... Ihre Lebensansichten unterscheiden sich überhaupt von dem, was ich von Kindheit an gelernt habe. Sie wollen, dass ich das ablege, was längst mein Wesen, mein Charakter geworden ist...
Wahrscheinlich bin ich wirklich Opfer einer moralisierenden Erziehung... Wenn man immer wieder das Eine sieht und etwas Anderes hört, weißt man nicht, wem man glauben soll: den eigenen Augen oder fremden Worten. Sie sagen, schlimm sei, dass diese Worte von Menschen kommen, die Macht über einen haben, die man liebt und nicht verlieren möchte. Ihnen nicht zu glauben, ist also verboten. Sie meinen, so einfach sei das. Es fällt mir nicht schwer, Ihnen zu glauben. Ich höre die Wahrhaftigkeit aus Ihren Worten. Aber kann ich mich ändern? Wo ich doch eine Moralistin bin, vor allem mir selbst gegenüber?
Ihrer Meinung nach gibt es in viele Stellen, wo Gleichgültigkeit und Hartherzigkeit ganz anders benannt werden. George Sand sagt, dass Consuelo gut, uneigennützig und aufopfernd ist. Tatsächlich aber macht sie alle unglücklich, die sie lieben. Aber die anderen machen doch sie auch unglücklich...
Wieder diese Unruhe...
Sie haben gefragt, warum ich mich verspätet habe. Wollten Sie, dass ich mit Ihnen über meine Gefühle für Sie rede? Nein, das kann ich nicht. Und wozu auch?
Als Consuelo Anzoletto zurückwies, bezeichnete er sie als grausam, hart und egoistisch. Meinen Sie, sie hätte seinem Wunsch nachkommen sollen? Oder einfach sanfter Nein sagen? Immer war die Frau die Hüterin der Moral, diese Verantwortung oblag immer ihr. Der Mann war immer ein impulsives, von Instinkten geleitetes Wesen, nicht wahr? Das ist nicht neu. Ihre Worte haben aber in meinem Inneren einen Sturm entfacht. Bis zu diesem Moment sah ich in Ihnen fast schon einen Engel. Aber Sie sind doch auch ein Mensch! Was denken Sie über mich? Hätte ich auch die Männer nicht zurückweisen sollen, die mich begehrten?
Sie haben gesagt, dass Albert keine Chance hatte, aus seiner Höhle herauszukommen... Der Weg zur Höhle führte durch einen Brunnen. Ich hatte immer schon das Gefühl, in einem kalten Brunnen zu leben. Ich habe darüber sogar ein Gedicht geschrieben.
Ist Albert möglicherweise ein richtiger Neurotiker? Darüber habe ich nie nachgedacht. Ich hielt ihn mit George Sand einfach für einen sehr guten Menschen mit kranker Seele. Ist das aber nicht dasselbe?
Sie...




