E-Book, Deutsch, Band 48, 260 Seiten
Bender / Kanitscheider / Ruso Organismus-Umwelt-Beziehungen
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-7693-3207-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Perspektivenwechsel im wissenschaftlichen Diskurs
E-Book, Deutsch, Band 48, 260 Seiten
Reihe: Matreier Gespräche zur Kulturethologie
ISBN: 978-3-7693-3207-0
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Der Tagungsband der 48. Matreier Gespräche 2023 befasst sich mit der Betrachtung von Organismus-Umwelt-Beziehungen. Die zwölf Themen entstammen den Forschungsgebieten von Pädagogik, Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Linguistik, Geschichts- und Geowissenschaft sowie Bio- und Ökologie, wobei mehrere Beiträge Brücken zwischen verschiedenen Fächern schlagen. Wie gesellschaftliche oder disziplinäre Perspektiven- und Paradigmenwechsel oder auch neue Denk- und Sichtweisen durch ein Wechseln zwischen Disziplinen den Erkenntnisfortschritt vorantreiben, wird an einer Vielheit konkreter Beispiele ausgelotet: Bestattungstechniken, Evolutionsökonomik, Gender, Hannibals Alpenquerung, Landstreicher/Vagabunden, materialistische Sozialisationstheorie, Psychoanalyse, Sprachinseln und dem "Wood Wide Web". Grundsätzliche Überlegungen zur Rolle von Genen und Menschen als Konstrukte oder Konstrukteure und zum generellen Erkenntniswert des Perspektivenwechsels runden den Band ab.
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Vorwort
Lange Zeit herrschte die Auffassung, die Welt und die Beziehungen des Menschen zur (Um-)welt als ein rein von der Natur gegebenes Geschehen zu begreifen, die Natur zur Ursache und Norm aller Erscheinungen zu erklären (Naturalismus, Natur- und Geodeterminismus). Dies bildete eine Grundlage, sich von spirituellen und religiösen Deutungen abzugrenzen. Im Gegensatz zur ‚Natur‘ nennt man vom Menschen künstlich geschaffene materielle und immaterielle Dinge ‚Kultur‘; und in diesem Sinne geht der europäische Kulturbegriff auf die ‚neolithische Revolution‘ zurück (lat. colere = den Boden bestellen). Auf den ersten Blick bildet dies eine scharfe Abgrenzung. In der alltäglichen Betrachtung schließen sich die beiden Begriffe aber nicht aus, sondern können sich in verschiedenen Betrachtungsobjekten vermischen – oder es können diese Objekte je nach Perspektive von der einen in die andere Kategorie hinüberwechseln (Baum – Wald – Natur-/Kul-turlandschaft). Die Soziologen Peter Berger und Thomas Luckmann ließen 1967 mit der Idee aufhorchen, dass menschliche Gesellschaften die Realität konstruieren. Zuvor hatten schon andere – besonders bekannt wurde das Werk von Ludwik Fleck (1935) – auf die soziologischen Prozesse hingewiesen, die den wissenschaftlichen, speziell auch naturwissenschaftlichen Betrieb prägen. Gesellschaftliche Prozesse konstruieren demnach Realität und naturwissenschaftliche Tatsachen. Für Biologen war es ziemlich selbstverständlich, dass Organismen ihren Lebensraum nicht nur wählen, sondern auch umgestalten können und so für sich und andere neue Bedingungen mit Konsequenzen für die evolutionäre Entwicklung konstruieren. Richard Lewontin (1983) präsentierte dazu ein einfaches formales Konzept. Der Oxforder Biologe John Odling-Smee (1988) erfand den Begriff ‚Nischenkonstruktion‘, der dann von einigen anderen Biologen aufgegriffen und beworben wurde. Das sind zwei prominente Beispiele für Perspektivenwechsel, die mehr oder weniger radikal alte Denkgewohnheiten und Vorurteile aufgeben, in Frage stellen und zu ersetzen trachten. Vorher versuchten Kulturanthropologen herauszufinden, wie ökologische und damit ökonomische Gegebenheiten Gesellschaften formen, und Biologen erklärten evolutionäre Vorgänge als Anpassungen an die Umwelt. Allen schien klar zu sein, dass der Mensch den Weizen und den Hund domestizierte, bis jemand schrieb, Weizen, Reis und Kartoffel hätten den Menschen (Harari 2011) oder wir uns selbst domestiziert (Roberts 2017; Zanella et al. 2019). Das biologische Geschlecht konstruierte über Jahrtausende Gender und Rollenverhalten; nun tut dies das Konstrukt ‚Gesellschaft‘. Die evolutionären Erkenntnistheoretiker meinen, der Erkenntnisapparat sei ein Geschenk der Evolution, das uns die Realität erkennen lässt, also abseits von gesellschaftlichen Prozessen: Epistemologie, früher eine Domäne der Philosophie, nun ein Spielball von Soziologen und Evolutionsforschern? Halten sich die Gene einen Organismus, wie uns das Richard Dawkins (1976) weismachen wollte, oder nutzten autonome Organismen die Semiotik, die RNS und DNS ihnen boten (Deacon 2021)? Perspektivenwechsel fördern den Fortschritt in der Wissenschaft, solange die jeweiligen Sichtweisen selbst nicht verkrusten und zu neuen Vorurteilen herabsinken. Flecks ‚Denkstile‘ beziehungsweise Kuhns ‚Paradigmen‘ (Kuhn 1962) bergen diese Gefahr, insoweit die ‚Denkkollektive‘ Perspektivenwechsel zeitweise be- oder sogar verhindern können. Vielmehr sollten Perspektivenwechsel Teil von ‚hermeneutischen Zirkeln‘ sein (Ast 1808, 180; Gadamer 1960), die sich nicht einfach in geschlossenen Kreisen, sondern in weiterführenden ‚Spiralen‘ bewegen (Bolten 1985). Man kann nicht umhin, an die hegelsche Dialektik erinnert zu werden; sie in allen ihren Facetten zu übernehmen, braucht man deswegen nicht. Die Teilnehmer der Matreier Gespräche im Dezember 2023, traditionellerweise ganz verschieden positioniert auf der weiten Skala zwischen Natur und Kultur, fanden Beispiele aus ihren jeweiligen Fachbereichen zu Beziehungen oder Systemen, in denen in der einen Perspektive Organismen (in weitestem epistemischen Sinne: Individuen, Gruppen, Gesellschaften, Systeme) ihre Umwelten konstruieren und möglicherweise in einer anderen Sichtweise von ihren vorgeblichen Schöpfungen gestaltet werden. Der Begriff der Umwelt ist im Sinne von Uexkülls (1909) zunächst als die Umgebung von Organismen anzusehen, die deren Lebensumstände beeinflusst und beim Wechsel der Perspektive wiederum von ihnen geprägt wird. Analog zum Menschen können dann auch solche Umwelt-Beziehungen von anderen Lebewesen erörtert werden; und davon ausgehend wollen wir den aus der Biologie übernommenen Umweltbegriff interdisziplinär im weitesten Sinn auffassen, so etwa als Umgebung von Unternehmen, Organisationen oder generell offenen Systemen (entsprechend den Systemtheorien). Max Liedtke stellt zunächst anhand herausragender historischer Beispiele (Kopernikus und Darwin) grundsätzliche Überlegungen zum Erkenntniswert des Perspektivenwechsels an. Auf dieser Basis werden dann grundlegende Fortschritte aus der Entwicklung der Erziehungswissenschaft erörtert: die Erfindungen von Schrift, Gebärdensprache und Blindenschrift. Durch die Diskussion des Sichtwechsels von einer bloß geisteswissenschaftlich verstandenen in eine durch naturwissenschaftliche und speziell evolutionstheoretische Aspekte erweiterte Erziehungswissenschaft dringt er zu grundlegend neuen Fragen hinsichtlich der Begründung von Normen vor. Helmwart Hierdeis sieht Perspektivenwechsel als unauflösbare Verbindung von kognitiven und emotionalen Neuorientierungen auch in der Wissenschaft an. Anhand von Fallvignetten aus der psychoanalytischen Therapie arbeitet er die Notwendigkeit von auch schmerzhaften Perspektivenwechseln als Mittel gegen Denkblockaden und Ideologisierungen heraus. Achim Würker beleuchtet das Zusammenspiel von Organismus und Umwelt aus der Perspektive einer psychoanalytisch-materialistischen Sozialisationstheorie des Sozialwissenschaftlers und Psychoanalytikers Alfred Lorenzer. Vermittelt über den mütterlichen Organismus nimmt das werdende Lebewesen an den sozialen Verhältnissen teil. Angeborene Strukturen werden damit sowohl als ererbt wie als sozial bestimmt verstehbar. Roland Girtler zeigt, wie aus einem bemitleidenswerten Landstreicher ein aus der Perspektive des ‚guten Bürgers‘ angesehenes Individuum werden kann. Das Stigma des Verachteten wird umgedreht und zum Charisma. Dies stellt er in einem weiten Bogen von der Fremdenangst als anthropologische Konstante über antike und frühmittelalterliche Landstreicher (‚Gyrovagen‘ und ‚Asylanten‘) bis zur Verklärung im studentischen Leben des 18. und Jahrhunderts dar. Dagmar Schmauks stellt in kulturethologischer Perspektive dar, wie sich Weltanschauungen auf Bestattungstechniken auswirken. Die vielen kulturund zeitabhängig variablen Umgangsweisen mit dem Leichnam bilden eine Skala zwischen zwei Extremen, nämlich seiner schnellstmöglichen Vernichtung und seiner möglichst langen Weiterexistenz. Thomas Simon erläutert die Evolutionsökonomik als neuen Zugang zu den Wirtschaftswissenschaften, der die Wirtschaft als ein eigenes lebendes System auffasst, in dem es keinen Gleichgewichtszustand geben kann. Im Gegensatz dazu sieht er – basierend auf Überlegungen von Konrad Lorenz – Wirtschaft ‚nur‘ als lebenswichtige Funktion des Systems ‚Leben‘ und folgert, dass sie naturwissenschaftlichen Regeln, wie zum Beispiel der Evolution, unterliegt. Resümierend plädiert er, Überlegungen der Evolutionsökonomik in den klassischen Wirtschaftswissenschaften jedenfalls zu berücksichtigen. Ein weiterer Beitrag von Thomas Simon versucht vor dem Hintergrund der kulturellen und geostrategischen Situation des Mittelmeerraums um 200 v. Chr. den Feldzug des Hannibal über die Alpen nachzuvollziehen, mit dem der Zweite Punische Krieg eröffnet wurde. Seine Darstellung bildet einen Perspektivenwechsel von der philologisch dominierten Exegese der antiken Geschichtsschreiber Polybios und Livius hin zu einer Analyse der topographischen und klimatischen Bedingungen. Entsprechend weicht die vom Autor als wahrscheinlich angesehene Route bei der Überquerung des Alpenhauptkamms von der in der herrschenden Meinung vertretenen ab. Oliver Bender unternimmt eine interdisziplinäre und vergleichende Analyse der deutschen und ladinischen Sprachinseln in den südlichen Alpen. Dabei werden die ethnolinguistischen Minderheiten in diesen ‚Inseln‘ im Sinne des Tagungsthemas als Organismen aufgefasst und im Hinblick auf die Evolution ihrer Umweltbeziehungen erörtert – mit der natürlichen Umwelt und mit den sie umgebenden Mehrheitsgesellschaften, aus den Perspektiven der Binnen- und Außensicht (emisch/etisch) sowie derjenigen verschiedener Forschungsdisziplinen. Hans Jürgen Böhmer entlarvt die Geschichte vom ‚Wood Wide Web‘, in dem vorgeblich ein harmonisch-fürsorgliches Zusammenleben von Bäumen und Pilzen in Wäldern praktiziert wird, als eher pseudo- denn noch populärwissenschaftliche Erzählung zweier Protagonisten aus der...