Bellová | Toter Mann | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 184 Seiten

Bellová Toter Mann


1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-99200-111-8
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 184 Seiten

ISBN: 978-3-99200-111-8
Verlag: Braumüller Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



'Opi haben sie im September 1950 aufgehängt. Ja sicher, ich fang ein bisschen brutal an, aber nur, damit ich deine Aufmerksamkeit kriege. Du weißt doch, wie das heute so läuft: Ohne Sex, Gewalt oder verfaulendes Fleisch interessiert's keinen.' Eine Frau blättert in ihrer ganz persönlichen Geschichte: Momentaufnahmen aus dem von politischer Indoktrination geprägten Leben in der Tschechoslowakei der 1970er und 1980er-Jahre sowie aus den Dramen ihrer Familie. Scheinbar unbewegt, teils mit zynischer Distanz berichtet sie von der Ermordung ihres Großvaters, dem dramatischen Schicksal ihres Bruders, der Geisteskrankheit der Mutter und dem späten Coming-out des Vaters. Eine lakonische, fast schnoddrige Erzählung, die immer wieder von plötzlichen, leidenschaftlichen Gefühlen durchbrochen wird.

Bianca Bellová wurde 1970 in Prag geboren, wo sie auch ihr Studium an der Wirtschaftshochschule absolvierte. Nachdem sie für verschiedene internationale Gesellschaften und Zeitschriften tätig war, arbeitet sie momentan als Dolmetscherin und Übersetzerin für Englisch und lebt mit ihrer Familie in Prag. Die auch als Bloggerin aktive Autorin veröffentlichte nach ihrem Debütroman 'Sentimentální román' ('Sentimentaler Roman'), IFP Publishing, Prag 2009, kürzere Prosatexte sowie den Roman 'Mrtvý muz' (Toter Mann), Host, Brünn 2011. Im Oktober 2013 erschien ihr neuestes Werk 'Celý den se nic nestane' ('Den ganzen Tag passiert nichts') im Host Verlag.

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Opi haben sie im September 1950 aufgehängt. Mami ist im Januar des darauffolgenden Jahres geboren, aber da war ihr noch nicht klar, dass sie Halbwaise ist. Auch Omi hat nicht gewusst, dass sie Witwe ist, als sie sich damals zerstreut über den Bauch fuhr. Dass sie’s wohl geahnt hat – keine Frage. Wahrscheinlich hat sie gedacht, Opi ist von einem Erschießungskommando hingerichtet worden, so wie’s die Deutschen gemacht haben. Garantiert hat sie aber nicht gewusst, wie das mit dem Aufhängen gelaufen ist. Zum Glück. Anstelle der humanen k. u. k. Hinrichtungen, bei denen der Henker dem Delinquenten sofort das Genick gebrochen hat, mussten die Verurteilten hier noch zehn Minuten am Strick zappeln, bis sie sich endgültig erdrosselt hatten. Ja sicher, ich fang ein bisschen brutal an, aber nur, damit ich deine Aufmerksamkeit kriege. Du weißt doch, wie das heute so läuft: Ohne Sex, Gewalt oder verfaulendes Fleisch interessiert’s keinen. Klar würde ich lieber über Kinder mit dir reden und über die seltsamen Sachen, die mir in letzter Zeit passieren. Alles zu seiner Zeit, wir müssen nur erst mal den richtigen Rhythmus finden. Du hast es gerne auf die harte Tour, hast du gesagt, und ich war einverstanden. Eigentlich hab ich ja bloß nicht Nein gesagt. Ich hab gar nichts gesagt. Ich hab’s auf die harte Tour gemacht, wie du’s wolltest, obwohl ich das nicht unbedingt gebraucht habe. Du hast gesagt, je mehr ich die eigene Scham überwinde, desto besser wird’s mir gefallen. Das hat nicht funktioniert, hm? Daran siehst du, wie viel Mühe ich mir gegeben habe. Scham, das schon, klar, davon hab ich mehr als genug. Dass es mir gefallen hätte, kann ich nicht behaupten. Ich musste neben mir stehen, so tun, als ob das jemand anderem passiert, denn so ein Spaß ist das nun auch wieder nicht gewesen. Jetzt kann ich’s dir ja sagen, inzwischen ist mir das pupsegal. Ich kann mittlerweile ohne rot zu werden darüber reden, wie du mich gefesselt und von hinten genommen hast. Dass ich nach den Spielchen mit dir kaum noch sitzen und gehen konnte. Dass meine Mundwinkel derart eingerissen waren, dass ich nicht mal lächeln konnte. Nicht, dass mir das jetzt auch nur ein µ besser gefallen würde, es haben sich bloß ein paar Rahmenbedingungen geändert. Erstens: Wir werden jetzt offen zueinander sein – oder zumindest ich zu dir. Es wäre nur fair, wenn du genauso rangehen würdest, aber eigentlich ist das auch schon egal. Es gab Zeiten, da waren meine Infektionen der einzige Beweis, dass du mit jemand anderem schläfst. Als ich dich danach gefragt habe, hast du gelächelt und behauptet, du bist mir so treu, dass es kaum zu glauben ist. Tatsache. Zweitens: Jetzt habe ich die Fäden in der Hand. Lange hab ich diese Reise in meine Vergangenheit vorgehabt, und es hat mich viel Mut gekostet. Du kannst dir sicher sein, dass ich keine Haltestelle auslasse, obwohl ich nicht garantieren kann, dass wir nicht ab und zu einen kleinen Abstecher machen. Von nun an bin ich die souveräne Herrscherin über deine Manschettenknöpfe, deine Kreditkarte und deine Intimpartien. Du kriegst es so richtig auf die harte Tour, wie du’s immer gewollt hast – und noch ein bisschen härter. Noch viel härter. Und last but not least wirst du mir jetzt zuhören. Was ich erzähle, wird dir vielleicht sogar gefallen; jetzt endlich willst du alles über mich wissen. Das ist wie mit dem Foto von David an der Ostsee, das ich in Mamis Tasche gefunden hab. Ich behaupte nicht, dass es nun besonders von Bedeutung ist, dass sie ausgerechnet das Foto von ihm in der Bademanteltasche hatte, weil da noch Unmengen andere Sachen drin waren: ein Kamm, Streichhölzer, Kaugummis, eine Sicherheitsnadel, Kleingeld, ein paar Visitenkarten von Leuten, die ich nicht kenne, eine Kastanie, voll das Survival-Kit. Aber das passiert ganz von alleine: Wenn jemand einen Nervenzusammenbruch hat, dann denkt man, die Sachen, die er in den Taschen mit sich rumträgt, haben irgendeinen Bezug zu seinem Zustand. Auf dem Foto ist David, er steht bis zu den Knöcheln im Wasser, der Wind zerrt so richtig an dem Foto, David ist dermaßen durchgefroren, dass man Lust kriegt, ihn in die Hände zu nehmen und anzuhauchen: Er guckt in die Kamera, aber irgendwie abwesend, die Oberlippe ist wie immer leicht aufgestülpt, sodass die Schneidezähne rausgucken, kein Mensch in Sicht, und überall hinter ihm das Meer, falls man nicht von Davids Gänsehaut zu sehr abgelenkt ist, um es zu erkennen. Wenn man das Foto anguckt, will man nur noch sein Testament schreiben und sich in seinen besten Klamotten in den Sarg legen. Mir will das nicht so recht in den Kopf, warum Mami ausgerechnet mit dem Foto im Anstaltsgarten rumrennt; nicht dass ich eifersüchtig wäre, dass das nicht ich bin auf dem Foto, aber ich begreife nicht, warum ausgerechnet das Foto. Denn wenn sie Lust gehabt hätte, sentimental zu werden, dann hätten wir zu Hause kistenweise sentimentale Fotos aus meiner Kindheit, x Fotos, auf denen Mami, Papi und die beiden Kinder zum Frühstück im Bett Kakao trinken und in die Kamera lachen. Sie spaziert in dem entsetzlichen lila Bademantel im Garten rum, zum ersten Mal in all den Jahren ist sie nicht zurechtgemacht, und ich werde den Verdacht nicht los, dass sie ihren Kollaps voll auskostet und in Wirklichkeit genauso wenig unzurechnungsfähig ist wie die rote Staatsanwältin Brožová-Polednová, nachdem sie 2007 für die politischen Todesurteile in den Fünfzigerjahren zu acht Jahren ohne Bewährung verurteilt worden ist. Wenn man das so im Ganzen vor sich sieht, meinetwegen auch noch wild durcheinander, dann ist das zum Schmunzeln, denn wenn man schadenfroh wäre, könnte man das Ganze als Folge von Ereignissen sehen, bei denen man nach und nach feststellt, dass sie an einem vorbeirauschen: An einem Punkt wird einem klar, dass man wohl nicht mehr Schönheitskönigin wird, dann Sprint-Juniorenweltmeisterin, dann deine Femme fatale, dann die Femme fatale von irgendwem, dann irgendeine Meisterin von irgendwas in irgendeiner Disziplin, dann stolze Geliebte Ehefrau Mutter und so weiter. Und so weiter. Zum Glück wissen du und ich, dass man jeden Tag mit Bedacht genießen muss, denn wer weiß, was dich hinter der nächsten Ecke erwartet. Weich mir wenigstens nicht dauernd mit dem Blick aus. Ich bin zwar inzwischen eher wenig begeistert, wenn ich was Neues lernen soll – zum Bungee-Jumping zum Beispiel würde mich keiner kriegen, nicht mal bewusstlos –, aber umso mehr freu ich mich nach wie vor, dass mein eigener Körper immer noch straff und belastbar ist. Wenn ich mir die Mädels auf der Straße so angucke, dann bin ich mir sicher, dass ich denen bei den hundert Metern immer noch in aller Ruhe den Arsch aufreißen würde. Jetzt geht es nicht darum, dass ich diesmal keinen Bock auf den nächsten Griff ins Klo hab. Jetzt geht es um alles. Sollte ich mit dieser Geschichte nicht fertig sein, ehe der Hahn dreimal kräht, dann kommen sie mich holen, und nichts von mir bleibt … Diesmal werde ich mich wohl mäßigen können und mich bei meinen Äußerungen bremsen; das Wesentliche auswählen und mich bei den Worten zurückhalten, damit ihre Bedeutung klarer zum Vorschein treten kann … Wenn du, mein Liebster, dir diese Geschichte als einen aus vielen Wörtern gesponnenen Faden vorstellst, dann ist es meine Aufgabe, ihn so zu kürzen, dass er auf eine einzige Seite passt, in einen einzigen Satz, vielleicht auch nur in ein einziges Wort … Ich habe eine einzige Nacht (also eigentlich einen Tag, aber dann würde die Parallele hinken, stimmt’s?), um alles zu erzählen, tausend weniger als Scheherazade, mehr steht mir nicht zu, da kann meine Geschichte noch so fesselnd sein, mein Liebster …, ich brauche dazu Weisheit, die mir fehlt, und Disziplin, die nie meine Stärke war …, und da red ich noch gar nicht davon, dass so viele Winkel dieser Geschichte für mich im Dunkeln bleiben … Ich habe einen einzigen angeknabberten Bleistift und eine halb runtergebrannte Kerze, bis zum Morgen darf ich ein Blatt Papier vollschreiben, und so forsche ich fieberhaft nach dem Wort, nach dem Satz, der alles sagt, aber meine Zelle schwankt und verändert ihre Form, sodass mir das Wort andauernd entgleitet. Ich weiß, ich lass mich von meiner eigenen Vorstellungskraft hinreißen …, ich pfropfe Bedeutungen aufeinander, stelle Parallelen her, die keiner außer mir verstehen kann … Ich bin keine Scheherazade. Ich bin weder schön noch weise. Ich sitze nicht abgeurteilt in einer Zelle, sondern hier mit dir im Park in der Sonne und trage für dich Schmuckfedern und Stöckchen zu einem Haufen zusammen, um daraus irgendeine fassbare Gestalt zusammenzupappen … Langweilst du dich? In meiner Vergangenheit kenne ich jeden einzelnen Eckstein, jeden Winkel. Ich habe sie durch tausendfaches Durchspielen in meinem Kopf auswendig gelernt, mich kann also keiner durcheinanderbringen. Ich bin wie ein Blinder, der vom Tastsinn her jeden einzelnen Zentimeter seines Weges von zu Hause bis zur Arbeit und zurück kennt. Emil Zátopek meets Haile Gebrselassie. Als Mami entbunden hat,...


Bianca Bellová wurde 1970 in Prag geboren, wo sie auch ihr Studium an der Wirtschaftshochschule absolvierte. Nachdem sie für verschiedene internationale Gesellschaften und Zeitschriften tätig war, arbeitet sie momentan als Dolmetscherin und Übersetzerin für Englisch und lebt mit ihrer Familie in Prag. Die auch als Bloggerin aktive Autorin veröffentlichte nach ihrem Debütroman "Sentimentální román" ("Sentimentaler Roman"), IFP Publishing, Prag 2009, kürzere Prosatexte sowie den Roman "Mrtvý muz" (Toter
Mann), Host, Brünn 2011. Im Oktober 2013 erschien ihr neuestes Werk "Celý den se nic nestane" ("Den ganzen Tag passiert nichts") im Host Verlag.



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