E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 1250 mm x 2050 mm
Beldner / Dean Der Sommer, in dem ich Schwarz wurde
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-7152-7000-5
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 192 Seiten, Format (B × H): 1250 mm x 2050 mm
ISBN: 978-3-7152-7000-5
Verlag: Atlantis Literatur
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Angélique Beldner, geboren 1976 in Bern, als Tochter einer Schweizerin und eines aus Benin stammenden Vaters, den sie erst im Alter von zwanzig Jahren kennenlernte. Beldner ist ausgebildete Typografin und Schauspielerin und hat einen Master of Advanced Studies in Communication Management and Leadership. Die Journalistin arbeitete bei verschiedenen Radiosendern als Redakteurin und Moderatorin sowie als Redaktionsleiterin. Seit 2015 arbeitet sie beim Schweizer Fernsehen SRF und moderiert dort die Tagesschau und die Quiz-Sendung 1 gegen 100. Angélique Beldner lebt mit ihrer Familie in Bern.
Autoren/Hrsg.
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Der Sommer 2020
»Du hast mir die Augen geöffnet und gezeigt, wie wichtig die Black-Lives-Matter-Proteste auch bei uns waren. Ich konnte es nie ganz einordnen, warum die Proteste von den USA aus so stark auf uns ausstrahlten – und ob es gerechtfertigt sei, die Verhältnisse in den USA mit unseren hier gleichzusetzen. Du hast mir zu meiner Beschämung eine klare Antwort geliefert. Dafür danke ich dir sehr.«
Ich: Nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd ging es mir am Anfang so, wie den meisten anderen Menschen in unserem Land wahrscheinlich auch. Er bewegte mich, tat mir leid und weh, mit mir zu tun hatte er zunächst aber eigentlich nichts. Es ging um Polizeigewalt, die ich selbst nie erlebt habe, und es ging um die USA. Für mich fühlte es sich erst mal noch ganz weit weg an. Wie war das bei dir, Martin?
Martin: Die Bilder des auf Georges Hals knienden Polizisten haben mich empört und gleichzeitig ein mir bekanntes Ohnmachtsgefühl hervorgerufen. Doch dann merkte ich an den Kommentaren, dass sich etwas änderte. Ich redete mit Freund*innen darüber, und eine Zeit lang gingen wir davon aus, dass es sich um eine typisch amerikanische Situation handelte. Doch plötzlich ging mir auf, dass es auch in der Schweiz vergleichbare Situationen gab. Ja, dass ich schon etliche Male von der Polizei angehalten worden war, Gott sei Dank nie so brutal. Und dann versammelten sich die Menschen auf dem Barfüsserplatz in Basel, und ich wusste, ich musste da hin, ich war es meiner eigenen Lebensgeschichte schuldig, dem, was ich seit Kindsbeinen erfahren und auch erlitten hatte. So stand ich dann mit meiner Geschichte bei den anderen, die auch ihre Geschichte hatten, und fühlte, was sie fühlten. Was haben diese Solidarisierungen bei dir ausgelöst?
Ich: Was zunächst vermeintlich nichts mit mir zu tun hatte, bewegte mich allmählich sehr. Es geschah etwas mit mir, das ich erst gar nicht bemerkte. Etwas, das dazu führte, dass mir diese Geschichte und alles, was mit dem Schwarzsein und mit Rassismus zu tun hat, immer näher kam. Es kam mir geografisch näher, aber auch emotional. Es hatte damit zu tun, dass die Rassismusdiskussionen nicht mehr aufhörten. Im Gegenteil: Sie wurden lauter und intensiver, und ich begriff allmählich, welche Gefühle und Meinungen in der Gesellschaft vorhanden sind. Ich spürte auf einmal eine große Solidarität, das war schön. Ohne dass ich danach gesucht oder verlangt hätte, tauchten plötzlich Menschen auf, die die gleichen Erfahrungen machen wie ich. Sie erzählen das Gleiche wie ich, sie erleben das Gleiche wie ich. Das war etwas komplett Neues für mich.
Martin: Für mich war neu, dass ich auf einmal mit so vielen Menschen darüber sprechen konnte. Früher waren es nur einzelne – meist ebenfalls Betroffene. Das fühlte sich dann jeweils an, wie wenn zwei Kranke sich unterhalten und der eine sagt: »Hast du auch so Kopfweh?«, und dann der andere bestätigt: »Ja, ich hab’ auch so Kopfweh«. Doch hier war es etwas ganz anderes. Der blinde Fleck wich einem Bewusstsein, und Freund*innen und Bekannte sprachen das Thema an. Es gab plötzlich einen Resonanzraum in der weißen Gesellschaft, der mich erschreckte, aber auch begeisterte. Und es gab viele Freund*innen, die zu Kompliz*innen wurden. Man hat dann auch über jene Bücher von mir gesprochen, in denen ich Diskriminierungserfahrungen beschreibe. Kurz: Es gab wie aus heiterem Himmel plötzlich ein Verständnis. Die Demonstrationen, die Berichte und Analysen waren im wahrsten Sinne eine Ermutigung. Warst du auch auf diesen Demonstrationen?
Ich: Ich war auf keiner dieser Demos. Ich hatte nicht das Bedürfnis hinzugehen – oder vielleicht muss ich eher sagen: Ich hatte Angst, hinzugehen. Denn ich habe das Thema nicht an mich herangelassen und ich wollte es auch nicht an mich heranlassen. Aber ich habe natürlich die Bilder gesehen, ich habe gesehen, welche Transparente die Demonstrant*innen in die Luft hielten. Und ich dachte: Krass, da steht ja das, was ich denke. Woher wisst ihr das? Ich war mein ganzes bisheriges Leben lang davon ausgegangen, mit meinen Erfahrungen, Gedanken, Empfindungen alleine zu sein. Kaum je habe ich mit jemandem darüber gesprochen. Doch auf einmal sah ich überall Schwarze Menschen und habe mich gefragt: Woher kommt ihr plötzlich? Euch habe ich bisher gar nicht registriert. Schlimm, oder? Ich bin – salopp gesagt – in meiner Kindheit stehen geblieben, in der es in meiner Umgebung kaum andere gab, die so aussahen wie ich. Mit diesen Scheuklappen lief ich 44 Jahre lang durch die Welt. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass sich meine Umwelt längst verändert hatte, dass sie viel diverser geworden war. Diese Erkenntnis hatte etwas Schönes. Aber da war eben auch noch die andere Seite. Das Thema Rassismus war allgegenwärtig. Jede und jeder äußerte sich dazu, hatte eine Meinung. Und viele äußerten sich auf eine Art, die mich verletzte. Als wüssten sie genau, wovon sie sprechen, als wüssten sie genau, welche Probleme bestehen und welche nicht, als wüssten sie genau, was verletzend sein kann und was man »nicht persönlich nehmen« sollte. Es wurde so viel debattiert, dass der Moment kam, wo ich dachte: Ich kann nicht weiter schweigen. Denn im Gegensatz zu den allermeisten Menschen ohne Diskriminierungserfahrungen begleitet mich das Thema schon mein ganzes Leben. Ich habe dazu wirklich etwas zu sagen.
Martin: Es braucht Geschichten, in denen Menschen wie wir unsere Erfahrung anderen zugänglich machen. Und jede Erfahrung, das weiß ich mittlerweile, ist verschieden. Es sind nicht dieselben Blicke, Worte und Gesten am Werk, wenn ein halb-indischer Mann und eine halb-afrikanische Frau ausgegrenzt werden. Auch wenn die Grundmechanismen die gleichen sein mögen. Deswegen braucht es auch die Offenheit der Mehrheitsgesellschaft, uns zu hören und zu sehen. Und diese Bereitschaft hat, durch die Ereignisse in den USA und die Berichterstattung, spürbar zugenommen. Wenn ich zurückblicke, erstaunt es mich, wie sich die Gesellschaft langsam aber stetig verändert hat. Der Umgang mit den »Fremden« in dem oberwynentaler Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist heute um einiges selbstverständlicher und lockerer als zu der Zeit, als ich ein Kind war. Aber er ist noch lange nicht selbstverständlich genug. War dieser Prozess für dich auch eine Befreiung?
Ich: Am Anfang war ich noch weit von einer Befreiung entfernt. Es passierte etwas mit mir, doch ich konnte es nicht erklären. Ich konnte nicht damit umgehen. Ich machte das mit mir alleine aus und habe es keinem gesagt. Dann kam der Tag … Ich war bei meiner Mutter zu Besuch, und sie fragte mich, was die aktuelle Debatte eigentlich bei mir auslöse. Ich brach in Tränen aus. Erst in diesem Moment konnte ich mir eingestehen, dass mich das, was sich in unserem Land gerade abspielte, alles andere als kalt ließ. Und dass es sehr wohl viel mit mir und meiner Geschichte zu tun hat. Ich begriff auch, dass es nicht nur mit meiner, sondern genauso mit der Geschichte meiner weißen Mutter zu tun hat. Ich glaube, es war auch das erste Mal, dass mir bewusst wurde, dass sie sich all diese Gedanken, die ich mir ein Leben lang schon gemacht habe, ebenfalls gemacht hat. Sie ist für sich nur nicht zur selben Erkenntnis gekommen. Sie hat – wie ich bis dahin teilweise auch – Rassismus oft beschönigt, entschuldigt. So hat sie mir bis zum Sommer 2020 regelmäßig gesagt, dass das N-Wort ja früher nie böse gemeint gewesen sei und dass sie selbst es als Kind ja auch noch benutzt habe. Immer wenn sie mir das früher gesagt hat, ärgerte es mich. Denn mit dieser Aussage kann man eigentlich alles entschuldigen. In dieser Aussage steckt so viel drin: vor allem aber, dass man Leute nicht verurteilen soll, wenn sie aus Unwissenheit, Ungebildetheit oder Unüberlegtheit rassistisch sind. So jedenfalls habe ich das empfunden, wenn sie damit kam. Widersprochen habe ich nicht. Doch ich hatte den Eindruck, wenn sie mir so etwas über Jahre, ja Jahrzehnte immer wieder runterbetet, dass sie sich beim Thema Rassismus nicht weiterbewegt. Denn sie kann ja unmöglich glauben, dass ich als Schwarze erwachsene Frau noch nie davon gehört habe, dass früher dieses schreckliche N-Wort noch als was anderes gegolten hatte. Es war im Sommer 2020, dass ich ihr das erste Mal gesagt habe, dass mich das stört. Und zwar, weil ich plötzlich Worte dafür hatte. Sie hat es sofort verstanden und seither nie mehr getan. Im Gegenteil: Dieser Prozess, der mit mir im Sommer 2020 begann, war auch ein Neubeginn für meine Mutter und ihre Auseinandersetzung mit mir, ihrem Schwarzen Kind, und mit Rassismus.
Martin: Bei mir ist dieses Bewusstsein, das bei dir plötzlich, ja vielleicht etwas schockhaft eingetreten ist, über Jahre gewachsen. Aber trotzdem stand ich im Sommer 2020 das erste Mal in meinem Leben auf einer Demo auf dem Barfüsserplatz in Basel. 400 bis 500 Leute. Ich war ganz weit hinten, weil ich dachte, ich könnte so wieder flüchten, wenn’s mir zu viel wird. Was ich dann aber hörte, hat mich sehr beeindruckt – es waren übrigens sehr, sehr viele weiße Menschen, dazu viele afrikanischstämmige Menschen, auch Tamil*innen und Inder*innen da. Auf der Gefühlsebene war mir rasch klar, dass ich nicht alleine bin. Sehr viele jüngere Leute waren gekommen, aber auch ältere – zum Beispiel deren...