E-Book, Deutsch, 454 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
Von Neustadt in Oberschlesien nach Köthen (Anhalt)
E-Book, Deutsch, 454 Seiten, Format (B × H): 148 mm x 210 mm
ISBN: 978-3-96692-021-6
Verlag: Stockwärter Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Die Kretschamstraße in Neustadt O.S. Prudnik, Kretschamstraße 14 (Wohnhaus Familie Weiner), etwa 1973 In der Kretschamstraße wohnten meine Großeltern mütterlicherseits. Hier verbrachten wir Schneider-Jungen viele Jahre unserer Kindheit. Kretscham ist sorbisch und heißt etwa Wirts- oder Gasthaus. Und nun sollen sich meine Erinnerungen den Bewohnern der Straße zuwenden: Auch diese Straße war, wie alle Straßen in Neustadt, auf einer Seite mit den geraden, auf der gegenüberliegenden mit den ungeraden Hausnummern versehen. Die gerade Seite begann mit der Rückseite von Stallgebäuden, die zum Ausspann- und Gasthof von Madzodko gehörten. Daher begann die Reihe mit einem stillen Gutshof, der die Nummer 6 trug. Im Inneren lag eine Tischlerei, bei der ich mich 1934 vergeblich um eine Lehrstelle beworben hatte. Nummer 8 war das Wohnhaus des Großbauern Günthner. Ihn und seine Kinder kannte ich von Erntehilfen her nur flüchtig. Das eigentliche Gut erstreckte sich hinter der Häuserreihe. Die Nummer 12 war von mehreren Familien bewohnt. Unten wohnte Frau Fischer mit ihrer Tochter Rosi. Der Vater war als Monteur meistens irgendwo unterwegs. Ich habe keine Erinnerung an ihn. Unten wohnte auch die Hauswirtin. Im Monat Mai erhielten wir Kinder für kistenweise abgelieferte Maikäfer entweder Eier oder ein paar Groschen, denn sie fütterte damit ihre große Hühnerschar. Im ersten Stock wohnte die Familie des Ziegelkutschers Rabenstein. Sie hatten einen Sohn Namens Alfred, der in der Reichswehr als sogenannter „Zwölfender“ in der Ferne diente. Max war mein engerer Schulfreund. Er avisierte später zum französischen Fremdenlegionär in Afrika und starb nachher an einem Raucherbein. Sein Bruder Paul gehörte ebenfalls zu unserem engeren Spielkreis. Nummer 14 war das Haus, in dem meine Weiner-Großeltern in einer großen Einraumwohnung im Erdgeschoss wohnten. Der Raum war durch eine Holzwand in zwei Räume geteilt. Hier arbeitete mein Großvater Julius als Flickschuster an einem Fensterplatz. Mit im Haushalt lebten einige ihrer neun Töchter sowie vier Enkel. Neben meinen Großeltern wohnte ebenfalls in einem Raum der Tischler Karl Pflaum. Im letzten Raum vor der Hoftür lebte Fräulein Titze. Im Hof stand noch ein Nebenhäuschen, in das später die Familie Famula einzog, nach Tante Marthas Heirat. Im ersten Stock lag die Wohnung von Hauswirt Steiner. Sie hatten ein Enkelkind Namens Alice, das ab und zu als Besuch auftauchte. Ich höre noch heute nach so vielen Jahren die damaligen Worte der evangelischen Großmutter: „Gell Licia, wenn du katholisch wärst, wärn wir dir a nie so gutt!“ Weil Max Rabenstein einmal mit einem Stein nicht über das Hausdach, sondern nur durch Steiners Fenster traf, konnte man noch öfter die Wirtin sagen hören: „Der Stein fiel mitten auf den Tisch!“ Sie und ihr Mann jagten Max gemeinsam, mit Ausklopfern bewaffnet, um einen vor dem Haus stehenden Ackerwagen vom Günthner-Bauern. Max konnte entspringen. Die zugedachte Tracht Prügel empfing er abends von seinem Vater mit dessen Kutscherpeitsche. Wir anderen waren leider so abgebrüht, dass wir unter leichtem Schaudern auf Max’ Geheule lauschten. Oben wohnte noch die Familie Rehmet mit zwei erwachsenen Söhnen und der Tochter Liesel, mit der ich mich gern unterhielt, denn sie erschien mir etwas geistreicher als die anderen Kinder in der Straße. Nach diesem volkreichen Haus folgten zwei große Scheunen, deren Tore uns beim Fußballspielen als Tor dienten. Nummer 18 war das Wohnhaus eines Bauernhofes, der damals einem Stoffhändler und Sandgrubenbesitzer gehörte, der zufällig auch Schneider hieß. Die ältere Tochter der Familie war schon länger aus dem Haus. Mit ihrem Sohn Franz ging ich im letzten Schuljahr zusammen in eine Klasse. Leider bekam Franzl oft von seiner resoluten Mutter deftige Dresche. Nach dem Krieg lebte Franz bei seiner großen Schwester in Wernigerode. Die gegenüberliegende Straßenseite begann ebenfalls mit der Rückwand von Stallgebäuden. Da war die stillgelegte Schlosserwerkstatt einer Familie Aust, die wir nie zu Gesicht bekamen. Vielleicht stand sie gar leer? Dann folgte das flache Haus der alten Frau Mirswa, die in den Ferien von einer Enkelin besucht wurde. Frau Mirswa hielt viel Vieh und war daher auf jeden Grashalm scharf. Oft jagte sie uns von unseren Spielplätzen mit dem Ruf: „Geht ihr runter von die Grase, ich stech euch glei die Recha ei die Orsche!“ Im nächsten Haus, der Nummer 13, wohnte die Witwe Jordan mit ihrem Sohn Paul, der etwas älter war als wir. Sein Vater war in den letzten Tagen des Ersten Weltkrieges gefallen. Er hustete viel, war scheinbar lungenkrank und wurde auf Anraten unserer Mütter ein wenig gemieden, damit wir uns angeblich nicht bei ihm die Schwindsucht holten. Das hinderte später die Nazidiktatur jedoch nicht daran, ihn als einen der ersten aus unserem Kreise zur Wehrmacht einzuberufen. Paul überlebte diesen Krieg und gelangte im Zuge der im Potsdamer Abkommen festgelegten „humanen Umsiedlung der Bewohner der Ostgebiete“ mit einem Trupp anderer ehemaliger Neustädter auch nach Waldkraiburg. Davon erfuhren wir viel später durch meinen Bruder Alfred. In den 80er Jahren teilte uns dann Paul Rabenstein mit, dass er etwas über den mysteriösen Tod von Paul Jordan erfahren habe. War es Mord, Selbstmord oder ein Unfall? Vor dem Haus des Dachdeckers Riedel stand eine Gaslaterne, die wir ab und zu gern mal auslöschten, weil wir wussten, dass Herr Riedel bei ihrem trauten Schein die Zeitung las und die Zimmerbeleuchtung sparte. Seine Flüche, mit denen er die Übeltäter bedachte, erlangten Berühmtheit. Etwas weiter zurück stand in einem großen Obstgarten das villenähnliche Haus der Familie Kneifel. Seine Bewohner bekamen wir kaum zu Gesicht. Uns interessierten nur die sehr früh reifen Birnen, „Schusterehrtlan“ genannt. Nach zwei großen Scheunen folgte das neuerbaute Haus des Briefträgers Hampel. Mit seinen Kindern verband uns keinerlei Kontakt. Nun folgten nochmals Scheunen und dann die Neubausiedlung „Am Zietenweg“. Auch der Onkel Reinhold von Amanda baute hier. Von dort aus führte ein Trampelpfad hinter den Gärten auf der Rückseite der Scheunen zu einem schrägen Abwärtsweg, den wir im Winter gern als Schlitterbahn benutzten. Trotz aller Bindungen an die Kretschamstraße habe ich später gegen den Willen meiner Mutter kein Mädchen aus dieser Straße geheiratet! Einige nicht ungefährliche Kinderspiele Die Umgebung der Kretschamstraße war ein wahres Jungenparadies. Stillgelegte Sand- und Tongruben, zum Teil als Schuttplatz genutzt, das Hinterland einer noch betriebenen Ziegelei mit ihren Büschen und Teichen. Alte, große Scheunen der Bauern, umgeben von verwahrlosten Obstgärten, boten Sommer wie Winter einen herrlichen Aufenthalt. In der Straße gab es viele Kinder, die täglich in vielfältig oft wechselnden Gruppen miteinander spielten. Im Frühling stand „Birkenschießen“ auf dem Programm. Wir kletterten auf noch dünnere Bäumchen und wippten mit deren Spitze so lange, bis wir uns zu einem waghalsigen Absprung auf den Hang der Sandgrube entschlossen. Dann gab es die Frühlingsspiele wie Kreiseln, Reifen schlagen, Fensterhopsen, Murmeln schieben, Fangen, Verstecken. An der Straße zu den Sandgruben standen hohe Kastanienbäume, die jedes Frühjahr voller Maikäfer saßen. Wir klommen barfuß an den dicken Stämmen hoch und traten dann jeden stärkeren Ast schüttelnd durch. Berthold trat einen zu dünnen Ast und stürzte zu unserem Schrecken aus etwa zehn Metern Höhe in den Straßengraben. Erst nach einem halben Jahr kam Berthold wieder zur Schule. Ihm fehlte der rechte Arm. Wir sahen uns alle recht betreten an. Der mahnende Sermon unserer Lehrer war überflüssig. Bertholds leerer Ärmel sprach für sich. Am liebsten spielten wir in Paches Ziegelei. Im Sommer wurde vor allem in den Ziegeleiteichen gebadet. Wir suchten Miesmuscheln im Teichschlamm, bauten uns ein Floß oder versuchten uns im Angeln. Angeln blieb ziemlich erfolglos, denn es fehlte uns an geeignetem Gerät. Schon ein Angelhaken war für uns zu teuer. Manchmal schlugen wir völlig unüberlegt eine ganze Masse der grünen Wasserfrösche an den Teichrändern mit Knüppeln tot. Auf dem Schuttplatz, der in einem schon stillgelegten Teil der Sandgruben lag, setzten wir gern Flaschen auf Pfähle und warfen danach. Einmal war ich ganz allein vor den großen Scheunen. Zu ihren Toren führten breite Fahrwege, unter denen ein ziemlich enges Abflussrohr für das Regenwasser im Straßengraben lag. Ich fasste den selten blöden Entschluss da durchzukriechen. Etwa in der Mitte der rund acht Meter langen Röhre blieb ich stecken. Ein zu schweres Fahrzeug hatte die Röhre etwas verdrückt. Ich konnte weder vor noch zurück. Nach vielem Mühen erreichte ich endlich doch das Ende. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Wir gruben in...