E-Book, Deutsch, 350 Seiten
Behrmann / Bicker / Hohmann Das Tarot
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-940036-88-9
Verlag: Low, Torsten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Phantastische Geschichten
E-Book, Deutsch, 350 Seiten
ISBN: 978-3-940036-88-9
Verlag: Low, Torsten
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
"Schicksal sind die Karten, die das Leben uns in die Hand legt. Geschick ist, was wir aus diesen Karten machen."
Unter diesem Motto erreichten eines kalten Wintertages die 22 Karten der großen Arkana 22 Autoren, die sich der Herausforderung gestellt hatten, zu jener einen Karte eine Geschichte zu schreiben. Lesen Sie vom Rad des Schicksals, das sich als Flasche dreht und vom Stern, der den Kindern im Schatten sein Licht schenkt. Treffen Sie den Tod, der in der Zukunft lauert und die Herrscherin, die unter Tage wohnt. Gehen Sie mit in den Turm, der einem jeden seine Prüfung aufzwingt und finden Sonne und Mond, Narr und Hohepriesterin, die Welt und die Gerechtigkeit, den Teufel und die Mäßigkeit und jede andere Karte, in der das Schicksal lauern kann …
Mit Geschichten von Nina Behrmann, Veronika Bicker, Susanne Bonn, Tanya Carpenter, Thilo Corzilius, Ruth M. Fuchs, Katharina Gerlach, Gabriele Gfrerer, Moritz B. Hampel, Peter Hohmann, Sven I. Hüsken, Ann-Kathrin Karschnick, Diana Kinne, Christoph Marzi, Diana Menschig, Oliver Plaschka, Fabienne Siegmund, Carsten Steenbergen, Ulrike Stegemann, Andrea Tillmanns, Annika Weber, Rebecca Wild und einer Einführung von Mara Laue.
Illustrationen von Elke Brandt, Tatjana Kirsten und Chris Schlicht.
Weitere Infos & Material
Gespiegelte Sterne
We have loved the stars too fondly to be fearful of the night. John Alfred Brashear (1840- 1920) Solitaire. Der Name hing wie ein Schatten über dem verlassenen Jahrmarkt und färbte den klaren Nachthimmel noch ein Stück dunkler. Ein silberner Mond lächelte auf ihn hinab, wie er da reglos vor dem gusseisernen Tor stand, eine Hand schon auf der verrosteten Klinke. Warum drückte er sie nicht hinunter? Warum trat er nicht unter dem Bogen hindurch, der sich wie ein in Schatten getauchter Regenbogen über das Tor spann? Es würde nichts geschehen. Es geschah doch nie etwas, und doch stets alles auf einmal. Solitaire. Die Luft roch noch nach ihr, wie sie manchmal nach Nebel riecht, den man schon nicht mehr sieht. Kein Stern stand am Himmel. Vielleicht hatte sie sie alle vom Himmel gepflückt, vielleicht war ihre Suche von Erfolg gekrönt gewesen, am Ende. Ohne ihn, der ihr blindlings hinterher gestolpert war, ein Blinder, der der Blinden gefolgt war. Solitaire hatte nichts gesehen. Ihr Blick war stets in den Himmel gerichtet gewesen, und er hatte ihr Ziel nie in Frage gestellt, obwohl er alle Antworten gewusst hatte. Er hatte sie in ihren Augen gesehen. Und in seinem Herzen gespürt, als wäre sein Herz der Spiegel ihrer Augen gewesen. Der Gedanke an den Spiegel ließ ihn schmunzeln. Er war ein Spiegel, und er sah sich selbst nur in anderen Spiegeln. Seine Hand drückte die Klinke herunter und er betrat den dunklen Jahrmarkt, wo die Karussells und das Riesenrad nicht mehr als schwarze Konturen vor dunkelblauem Grund waren und die Buden ihm ihre leeren Auslagen wie hungrige Mäuler, die gefüttert werden wollten, entgegenstreckten. Er würde ihnen nichts geben können. Nichts sonst trug er mehr bei sich, nur jene eine mondsilberglänzende Münze, und die war für etwas anderes bestimmt. Früher, früher hatte er den Regen mit seinen Tränen gefüttert und nicht einmal bemerkt, dass er weinte. Früher war Solitaire bei ihm gewesen. Solitaire, die Kreidesterne auf den Asphalt malte, um den Himmel auf die Erde zu holen. Solitaire, die stets nur dem einen Traum, dem einen Ziel gefolgt war. Einen Stern zu fangen. Und er? Er war mit ihr gegangen. Die Schritte, die er jetzt machte, ging er allein. Er passierte das alte Kettenkarussell, das Solitaire in den Himmel getragen hatte, damals, Nacht für Nacht, damit sie die Hände nach den Sternen ausstrecken konnte. Zwischen den Ketten hörte er ihr Lachen, als hätte es sich darin verfangen. Die Tränen hörte er nicht. Aber auf ihrer Reise, da hatte er sie gehört. In der Dunkelheit, wenn sie neben ihm gelegen und gedacht hatte, er würde schlafen. Aufgefangen hatte er jeden Tränentropfen, und ihr gezeigt, in der Frühe, wenn das Licht zurückgekehrt war. Aber Solitaire hatte sie nur weggelacht, war aufgesprungen, und in ihren grünen Augen hatten goldene Punkte geleuchtet, als wären ihre Iriden eine grüne Nacht voller Sterne. Und sie hatten weiter gesucht. Nach dem Stern. Eine Suche nach dem Regenbogen war es gewesen, und keiner von ihnen hatte bemerkt, dass sie nur den Regen fanden, der auf sie herabfiel - denn selbst aus hoffnungsblauverfärbten Himmeln konnte es regnen. Einzig, sie hatten die Tropfen genauso wenig beachtet wie die Tränen in ihren Augen. Er hatte sie weggelacht, und sie ebenso, denn er war ein Spiegel, der sich nur in ihr gespiegelt hatte. Seine Schritte führten ihn weiter, zu der Bude, an der man einst für eine Münze drei sich an der Rückwand drehende Teller hatte mit einem Ball zerbrechen müssen, um zu gewinnen. Solitaire hatte damals drei Bälle von dem alten Mann gekauft. »Wenn alle drei Treffer sind, dann gehen wir«, hatte sie gelacht und den ersten Ball geworfen. Der Mond hatte ihr schwarz glänzendes Haar in silbernes Licht getaucht und für einen Moment weiß gefärbt, wie ein Bild von Zukunft. Sie hatte drei Teller zerbrochen. Sie waren frei gewesen und ihr Lachen teilte die Nacht wie einen Vorhang, der aufging. Er lächelte, obwohl er wusste, dass er hätte weinen sollen, doch er hatte vergessen, wie das ging. Solitaire. Sie hatte ihn über Abgründe geführt, er war nicht gefallen. Und war er gefallen, so hatte er weder Fall noch Aufprall gespürt. Sorgen waren stets nur eine Lüge gewesen, die die Wahrheit ihrer Suche verborgen hatte. Ein Stern. Ein Stern, nichts weiter, weil die Kreidesterne am Asphalthimmel nicht mehr ausgereicht hatten, obwohl sie einst genug gewesen waren. Da war das Zelt, in dem sie einst getanzt hatten, auf dem Rabenball, auf dem alles begonnen hatte. Seiltänzer waren über ihre Köpfe balanciert und Artisten hatten sich von Trapez zu Trapez geschwungen. Solitaire hatte ein Kleid aus Dunkelheit, Schatten und Rabenfederschillern getragen und die Nacht war um sie geflattert. Er war in ihre Nacht hineingetaumelt, wie eine Motte, die das Licht gesehen hat. Sein Lachen verwandelte sich in ein Grinsen, als er die Schatten sah, die im Licht des Mondes auch heute noch tanzten, zu einem Lied, das ihm auf den Lippen lag, ein Lied, das er nie hatte vergessen können. Nach Freude hatte es geklungen, von der Sehnsucht gesprochen und das Glück verheißen. Und sein Herz hatte den Rhythmus dazu geschlagen. Dummdummdummdumm. Einen Namen hatte er damals noch gehabt, aber er war in seinen Erinnerungen längst verblasst, denn heute war er niemand und jedermann zugleich, hielt jedem, der in seine Augen sah, einen Spiegel aus Worten und Taten vor, den keiner sehen wollte. Zu jener Zeit, als der Jahrmarkt noch voll von tanzenden Lichtern und Lachen gewesen war, hatte sich nur Solitaire in ihm gespiegelt und er sich in ihr. Wie sie hatte er die Sterne gesehen und sich nach ihnen gesehnt. Doch am Ende waren die Sterne nur fallende Blätter gewesen, die der Wind im Herbst von den Bäumen geweht hatte und ihre Versprechen waren zerfallen wie die Nacht in jeder Abenddämmerung den Tag zerbrach. Als er weiterging, lief er auf die kleine Manege zu, in der einmal am Tag ein Clown mit Seifenblasen getanzt hatte. Eine jede von ihnen war zerplatzt, irgendwann, nach einem kurzen Moment regenbogenbunten Schillerns. Der Clown hatte sie mit einem zu einem Lachen geschminkten Gesicht beweint, als wären sie Träume gewesen. Er hatte seine Träume niemals beweint. Hatte stets nur mit Solitaire gelacht und nach Sternen gesucht. Dass die Flügel seiner eigenen Sehnsucht zerbrochen waren, hatte er schlichtweg übersehen. Und es machte doch auch nichts, oder? Weil am Ende nichts etwas machte. Aber er war hier. Weil er einen neuen Versuch wagen wollte, ein neues Leben. Er ging weiter, und dann stand er vor dem kleinen Kasten aus Glas, der einst von blinkenden Glühbirnen eingerahmt gewesen war wie ein Gemälde. Der Automat, der die Zukunft versprach. Der Wissen verhieß. Und doch nur Karten ausspuckte. Solitaire hatte ihn hierher gezogen, nachdem die Scherben der zerbrochenen Teller sie befreit hatten. »Lass uns nach dem Weg fragen.« Gelacht hatte sie bei diesen Worten, doch in ihren Augen war der Glaube gewesen, dass es mehr als ein Spiel, mehr als ein Scherz war. Für ihn war es nur das gewesen, und jeder von ihnen hatte eine Münze in den Automaten geworfen. Mondsilberglänzend. Ihr hatte der Automat den Stern gegeben, und natürlich war das in ihren Augen ein Zeichen gewesen. Ein glücklicher Wink. Dann war er an der Reihe gewesen. Hatte die Münze in den Schlitz gesteckt, seine Karte gezogen und sie betrachtet. Lange und eindringlich. Hatte versucht, wie Solitaire ein Zeichen darin zu sehen, doch da war nichts gewesen außer einer geflüsterten Warnung. Er hatte sie in den Wind geschlagen. Nicht geglaubt, dass die Karten mehr als Papier waren. Auch heute glaubte er es noch nicht. Und doch war er hier. Weil Solitaire fort war. Der alte Automat stand vor ihm. Die Glasscheibe, hinter der die Puppe saß, die als Wahrsager mit sternenbesetzter Mütze und Kristallkugel in der Hand dargestellt war, war mit Rissen übersät und ließ das angemalte Porzellangesicht dahinter aussehen, als wäre es von Spinnweben überzogen, aber es war nur die Farbe, die abblätterte. Die Scheibe spiegelte auch sein Gesicht, zerriss es in Abermillionen kleine Stücke, und niemand war da, um ihn zusammenzufügen wie ein Puzzle. Er war allein, doch mit Solitaire war er einsam gewesen. All die Jahre hatte er es gewusst, aber wie über all die anderen Dinge hinweggeschaut. Auch jetzt sah er nicht hin, obwohl er alles genau sah. Solitaire war es, die damals gegangen war. Einfach so, ohne ein Wort, während er in den Himmel geschaut hatte, um Krähen zu zählen, eine für die Sorge, zwei für die Freude und weiter. Sieben waren es gewesen, er wusste es noch, und sieben standen für Geheimnisse, die niemals gelöst werden. Die Krähen hatten gekrächzt, und als er sich nach Solitaire umgeschaut hatte, war sie schon fort gewesen, eine graue Gestalt am Horizont, denn von ihrem Kleid aus Dunkelheit, Schatten und Rabenfederglanz war längst jeder Zauber abgefallen. Sie hatte nichts mehr, außer dem einen Traum, und er, er hatte noch weniger. Seine Hand holte die Münze aus der Tasche seiner viel zu bunten Hose hervor. Immer trug er Dinge, die zu bunt, zu grell, zu fröhlich waren. Er war voll von Farben, die in den Augen des Betrachters...