Becker Vielleicht fühlt sich Liebe so an
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-944576-27-5
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 222 Seiten
ISBN: 978-3-944576-27-5
Verlag: Verlag Krug & Schadenberg
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Lynn Jakobs droht in der kleinbürgerlichen Enge ihres Alltags zu ersticken. Sie hat ihr Studium geschmissen, jobbt als Sekretärin und findet ihren Freund Jonas, den ehrgeizigen BWL-
Studenten, im Grunde langweilig. Dann begegnet sie der herben, wortkargen Sascha. Lynn ist wie elektrisiert. Sie erkennt sich selbst nicht wieder. Und begreift: Wenn sie wirklich leben
und lieben will, muss sie etwas riskieren …
Sascha Langner raucht trotz bester Vorsätze immer noch, ihre Beziehung mit Katja ist öde geworden, ihr Job im Fotoatelier reine Routine. Plötzlich taucht Lynn in Saschas Leben auf. Und lässt sich nicht abweisen. Die beiden beginnen eine stürmische Affäre, aber da sind ja auch noch Jonas und Katja und Saschas beste Freundin Peppels, die am liebsten will, dass alles so bleibt, wie es ist …
»Eine wunderschöne, süffige Butch-Femme-Geschichte«, so Trix Niederhauser, Buchhandlung am Kronenplatz
Für alle Fans von Leslie Feinbergs Roman »Stone Butch Blues - Träume in den erwachenden Morgen«.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Sascha Langner lag auf dem Sofa und hörte ihrem Atem zu. Sie spürte, wie ihr Herz klopfte. Es klopfte zu schnell. Manchmal stolperte es kurz. Die Lichterkette am Weihnachtsbaum zuckte wie eine Warnblinkanlage. Der Fernseher lief noch. Der Tölzer Knabenchor sang Süßer die Glocken nie klingen. Darauf hatte die Mutter bestanden. Weihnachtslieder mussten sein, unter allen Umständen. Sie nahm die Fernbedienung und schaltete aus. Ruhe. Balsamische Ruhe. Sie schloss die Augen und rechnete nach, wie viele Bilder es sein müssten. Zehn ungefähr. Vielleicht sollte sie doch noch in den Keller gehen und sie entwickeln. Wie lange sie auf dem Sofa gelegen hatte, wusste Sascha nicht. Sie musste eingedöst sein. Jemand klingelte an der Haustür. Sie fuhr zusammen und sah gähnend auf die Uhr. Sie hatte keine Lust aufzumachen. Wer sollte das schon sein, am Heiligen Abend nach elf? Wahrscheinlich nur wieder einer, der zu Christina wollte. Einer von diesen Typen, die in Jogginganzügen aus Ballonseide steckten und nicht in ganzen Sätzen sprechen konnten. An jedem Sonntagmorgen kam ein anderer aus Christinas Zimmer und wollte ins Bad. Sascha hielt nicht viel von den Schwachköpfen, mit denen Christina in die Kiste stieg. Aber für Christinas Ego bedeuteten sie unglaublich viel. Und so führten sie sich auch auf, fand Sascha. Sie war müde, kam aber nicht hoch, um ins Bett zu gehen. Sie blieb auf dem Sofa liegen und beobachtete das Blinken des Weihnachtsbaums. Er war aus Plastik. Eigentlich ein Wunder, dass es überhaupt einen gab in ihrer Familie. Sie nahm die Kamera vom Tisch und machte noch ein Foto von ihm. Vielleicht sollte sie wieder auf Polaroid umsteigen. Dann hätte sie die Bilder sofort. Aber sie wäre um den Effekt beim Entwickeln geprellt, den Moment, in dem der ganze Kram in der Entwicklerflüssigkeit langsam und gespenstisch Konturen annahm. Der Moment, in dem die Realität sich in ein Standbild verwandelte, in dem die Wirklichkeit einfror und irreal wurde. In diesem Moment verspürte sie jedes Mal eine tiefe Ruhe und Befriedigung. Von da an hatte sie mit alledem nichts mehr zu tun. Die Fotos sammelte sie in einem Schuhkarton unter dem Bett. Immer wenn der Familienstress wieder überhandnahm und sie diesen Druck im Magen spürte, machte sie Fotos. Heute war es mal wieder so weit gewesen. Kai hatte beim Essen die ganze Zeit ohne zu blinzeln in den Fernseher gestarrt und sich mechanisch eine Gabel nach der anderen eingefahren. Irgendwas stimmte mit ihm nicht und keiner wusste, was. Seit er acht war, sprach er nicht mehr. Nur manchmal noch mit Sascha. Er war jetzt elf. »Hey, Idiot«, sagte Christina, nahm eine leere Chipstüte und ließ sie mit einem lauten Knall platzen. Kai fuhr zusammen und stach sich mit der Gabel in die Backe. Das Bockwürstchen fiel auf den Boden, und seine Backe blutete. »Ey, der erschreckt sich echt bei jedem Scheiß!« Christina lachte. Ihr Lachen klang grell und krank. Kai hielt sich die Ohren zu. »Lass es sein, du selten dämliche Kuh!« Sie versuchte Christina die Chipstüte aus der Hand zu reißen und stieß dabei eine Weinflasche um. Christina hielt die Tüte fest, lachte weiter und strampelte mit den Beinen. »Lass ihn verdammt noch mal endlich in Ruhe!« Sascha sprang auf und packte mit der rechten Hand Christinas Arm, mit der anderen riss sie ihr die Tüte aus der Hand. »Aua, autsch, du tust mir weh!«, schrie Christina. »Hör auf, Sascha, hör auf damit, lass Christina!« Die Mutter sprach leise japsend, als hätte sie was am Herzen oder Asthma. Sascha ließ Christinas Arm los. Christina rieb sich ihr Handgelenk. Sie grinste. Sascha nahm die Kamera und machte ein Foto von ihr. »Bleib so, Baby, ja genau so – du hast ein Grinsen wie Jack Nicholson.« Christina zeigte ihr den Mittelfinger. Kai stand auf und ging in sein Zimmer. Dort spielte er Pacman. Wie immer. »Hör auf mit dieser dämlichen Fotografiererei!« Jetzt konnte die Mutter wieder richtig laut schreien und musste nicht mehr japsen. Sascha machte noch ein Foto. Diesmal von der Mutter. »Hör endlich auf, diese schwachsinnigen Fotos zu machen!«, schrie die Mutter, und die Adern an ihrem Hals schwollen an. »Ich kann das nicht mehr ertragen! Du machst mich krank. Du bringst mich noch ins Grab!« Sascha drückte lächelnd immer wieder auf den Auslöser. Die Mutter versuchte ihr die Kamera wegzureißen. »Schönen Abend noch.« Christina stand auf. Die Mutter hielt inne und musterte Christina. »So willst du am Heiligen Abend vor die Tür?« Christina drehte sich um. »Was heißt ›so‹?« Sie trug einen pinkfarbenen Ballonrock zu schwarzen Netzstrümpfen. Ihre Füße steckten in Cowboystiefeln. Ihre blonden Haare waren in alle Richtungen geföhnt und mit Haarlack fixiert. »Was willst du mir sagen, hä? Wie sehe ich aus?« Die Mutter winkte ab. »Billig«, sagte Sascha grinsend. Christina holte tief Luft. »Du sagst mir, wie ich aussehe?«, schrie sie. »Du!?« Es war bemerkenswert, fand Sascha, wie schnell Christina aus der Haut fuhr, wenn es um ihr Äußeres ging. Beim Austeilen war sie nämlich nicht zimperlich. »Ausgerechnet du, wo du rumrennst wie ’n abgefuckter Hausbesetzerpunk? Und dazu noch wie ein Kerl?« Sascha trug in diesen Jahren meist Lederjacken und Springerstiefel, dazu schwarze Metallica-T-Shirts und zerrissene Jeans. Mit ihren Haaren machte sie gar nichts mehr, sie hingen ihr ins Gesicht. Der Friseur hatte beim letzten Mal so lange an ihrem Kopf herumgefriemelt, bis sie den Laden mit einer lächerlichen Föhnfrisur wieder verlassen hatte. Nie wieder, hatte sie sich geschworen. Nie wieder! »Da hat Christina allerdings recht.« Die Mutter piekste ein Stück Bockwurst auf ihre Gabel und wendete es in Senf. Dann schob sie Kartoffelsalat darüber und steckte die Gabel in den Mund. Beim Kauen stand ihre Unterlippe immer leicht vor, so dass sie ein wenig beleidigt aussah. Sascha stöhnte auf. In dem Punkt waren sich die beiden mal wieder einig. »Geh wenigstens zum Friseur«, sagte die Mutter. Sascha machte noch ein Foto. Immer die gleiche Leier. »Wenn ich in solchen T-Shirt-Säcken rumrennen würde, würde mich auch kein Typ angucken«, sagte Christina. »Halt doch die Fresse!« Sascha legte die Kamera weg. Es war genug für heute. Christina warf den Kopf in den Nacken und ging. Das war der Mutter alles zu viel. Sie ging ins Bett. Manchmal stand sie auch gar nicht erst auf. Gründe dafür gab es genug. Ihr Leben war eine einzige Enttäuschung. Sascha stand auf und klopfte an Kais Zimmertür. Es kam keine Antwort. Sie öffnete die Tür. »Kai«, sagte sie leise, und er sah kurz auf. »Darf ich?« Kai antwortete nicht. Aber er war einverstanden. Wäre er nicht einverstanden gewesen, hätte er einen Wutanfall gekriegt. Sascha kniete sich hin und machte ein Foto von ihm. Im Seitenprofil. Das machte sie seit drei Jahren. Inzwischen hatte sie fast vierzig Bilder. Alle gleich, nur die Kleidung wechselte und die Haarlänge. Sie wurden immer länger. Er ließ sie auch nicht mehr abschneiden. Er könne es nicht ertragen, wenn der Friseur so nahe kommt, sagte er einmal. Der letzte Friseur, bei dem er war, hatte ihn angezeigt, weil Kai nach ihm geschlagen hatte. Danach ging er nicht mehr zum Haareschneiden. Kai starrte auf den Bildschirm und machte die Pacman-Geräusche nach. »Hey, Kai«, sagte Sascha und hatte auf einmal einen Kloß im Hals. »Frohe Weihnachten!« Kai gab keine Antwort. Aber er hörte kurz auf, die Geräusche nachzuahmen. Es klingelte wieder, jetzt dreimal hintereinander. Sascha seufzte und stand vom Sofa auf, um die Tür zu öffnen. Es war Katja. Sie sagte nichts, blieb einfach im dunklen Hausflur stehen. Sascha sagte auch nichts. Was hätte sie sagen sollen? Katja hatte ein fettes Veilchen und dunkelrote Augenlider, Nase und Mund waren blutverschmiert. Ihr Alter war Saisontrinker und über die Feiertage war er wieder fällig und zerlegte alles, was ihm unter die Hände kam. Auch seine Tochter, wenn es sein musste. »Komm rein«, sagte Sascha, und Katja ging an ihr vorbei. In der Diele blieb sie unschlüssig stehen. »Im Bad sind Waschlappen, du musst das kühlen.« Sascha vermied es, Katja anzusehen. Ihr niedliches Gesicht war so verwüstet. Katja tat alles, um wie Madonna auszusehen. Trug fingerlose Handschuhe aus schwarzer Spitze, ein aufgemaltes Muttermal über der Oberlippe, in die Haare verknotete Tücher und lauter Ketten mit Kreuzen um den Hals. Madonna war ihr besseres Ich. Sascha kannte Katja vom Spielplatz, wo sie als Kinder gespielt hatten und später als Teenager mit den anderen abhingen, die auch nicht so recht wussten, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten. Katja ging ins Bad und Sascha suchte im Eisfach nach Eiswürfeln. Sie fand nur tiefgefrorenen Wirsing. Im Kühlschrank stand Klarer. Sie gab Katja den Wirsing und die Flasche. Alkohol desinfiziert. Vielleicht auch die Seele, hoffte Sascha. Katja nahm einen großen Schluck und wischte sich den Mund ab. »Lass uns fernsehen«, sagte sie, und sie sahen die ganze Nacht fern. Bis Herr Langner von der Nachtschicht kam. Er fragte nicht, warum Katja da war. »Frohe Weihnachten«, sagte er nur und sah um Katja herum. Seine Art von Höflichkeit. Er machte die Lichter am Weihnachtsbaum aus. »Abtreten.« Mit ausgestreckter Hand forderte er die Fernbedienung, ließ sich in den Sessel vor der Glotze fallen und öffnete mit einem leisen Zischen ein Pils. Sascha stand auf, gab ihm die Fernbedienung und ging in ihr Zimmer. Katja folgte ihr. Im...