Becker | Sieben Tage mit Lidia | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 196 Seiten

Becker Sieben Tage mit Lidia

Novelle
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-86337-060-2
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Novelle

E-Book, Deutsch, 196 Seiten

ISBN: 978-3-86337-060-2
Verlag: weissbooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dezember 1981: Andrzej, 36jähriger Dichter aus Polen, kommt, eingeladen von seinem Freund Jacek, mit einem auf zwei Wochen befristeten Visum nach Venedig. Umgehend verzaubert ihn die Stadt, allabendlich lernt er interessante Leute kennen und taucht in die ihn anziehende Kunstszene rund um den Canale Grande ein. Am Ende der ersten Woche passiert es dann: Lidia, Jaceks Tochter, tv-Moderatorin in London, taucht auf. Von der ersten Sekunde an beeindruckt und verwirrt Lidia den Freund ihres Vaters - durch ihre Schönheit und eine für ihre Jugend ungewöhnliche Selbständigkeit. Andrzej verliebt sich
hoffnungslos. Jeden Tag verbringt er nur noch mit ihr, in der Stadt, in Cafés, in Hotelzimmern. Doch die Uhr tickt: Andrzejs Visum läuft unerbittlich ab.
Nach sieben Tagen mit Lidia steht er vor einer schweren Entscheidung. Soll er zurück nach Polen reisen, zu Frau und Kind - nach Polen, wo seit wenigen Tagen das Kriegsrecht herrscht? Oder in Venedig bleiben und Asyl beantragen? In seiner "Republik der Liebe"?

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Erstes Kapitel
1
Das Flutwasser war endlich zurückgegangen – auch in Andrzej Olsztynskis Träumen, in denen er sogar einmal Lidia begegnet war, jedoch nicht hier in Venedig, sondern an einem ihm unbekannten Ort. Im Treppenhaus des vierstöckigen Palazzos, in dem Lidias Vater Jacek Maj – immerhin sein bester Freund – und Stiefmutter Elsa Masseida-Ossowiecki die zweite Etage bewohnten, hatte das Wasser zwei Tage lang fußknöchelhoch gestanden: Der süßlich-modrige Geruch war unerträglich gewesen, genauso wie der Anblick einer toten Ratte, die bereits am ersten Tag der winterlichen Flut vor den Eingang der Chiesa Santa Maria Mater Domini gespült worden war. Die für hiesige Verhältnisse zwergenhafte Kirche, ein direkter Nachbar, war für die Zeit der Flut geschlossen worden. Sie stand gleich gegenüber dem Palazzo, und man betrat sie über den breiten Fußweg und nach wenigen Schritten wie ein zweites Wohnzimmer. Der Campo Santa Maria Mater Domini, auf dem seine beiden Gastgeber zu Hause waren, sah an diesem frühen Dezembermorgen, einem kaltfeuchten und vernebelten Sonntag, spiegelglatt und wie reingewaschen aus: Andrzej hatte den Eindruck, als hätte sich Venedig für die Ankunft von Lidia einer gründlichen Reinigung unterzogen. Er war in dieser Stadt noch kein einziges Mal alleine unterwegs gewesen, obwohl er schon seit einer Woche bei seinem Freund weilte. Und überhaupt: Er war schon sechsunddreißig, hatte aber Italien noch nie bereist. Er war zwar mehrmals nach Venedig eingeladen worden, um dort seine Gedichte zu lesen, doch die Regierung der Volksrepublik Polen hatte ihm bis jetzt – wohl aus Angst, dass er bei seinem Freund bleiben oder sich in einem Interview verplappern könnte – den Reisepass für einen Besuch in Italien immer verweigert. Seine Regierung hatte viele Dinge zu verbergen. Er kannte Westeuropa nicht allzu gut, er war ein Mal in Paris gewesen, und ein anderes Mal in Westberlin, und obendrein geschäftlich sozusagen. In Paris hatte er nämlich seinen Verleger Jerzy Giedroyc getroffen, der dort neben Gedichten und Romanen vor allem politische Schriften publizierte, allerdings alles auf Polnisch, und alles war verboten, verfemt und unerwünscht, zumindest an der kommunistischen Weichsel: Es glich überhaupt einem Wunder, dass Giedroyc, dieser alte unverwüstliche Mann, noch nicht einem Attentat zum Opfer gefallen war … Andrzejs Freude kannte keine Grenzen, als er im Sommer vom Passamt die gute Nachricht bekommen hatte, er dürfe verreisen und das italienische Visum beantragen. Er wollte seinen Freund wiedersehen, seit ihrer Trennung waren zehn Jahre vergangen, und vor der Abreise hatte er gehofft, Giedroyc oder jemand anders aus den Kreisen der polnischen Emigration in Frankreich oder Italien würde ihm in Venedig einen kurzen Besuch abstatten, doch die alten Herren waren reisefaul und mit ihren Schreibtischen wie verschweißt. Ihre Produktivität und scheinbar stählerne Gesundheit beeindruckten Andrzej sehr, denn sie tranken ab und zu immer noch gerne einen Whiskey und rauchten Zigaretten. »Du kannst dich in Venedig nicht verlaufen!«, hatte ihm Jacek am Abend erklärt. »Unsere Vaporetto-Haltestelle ist gleich um die Ecke, in zehn Minuten bist du da! Dann nimmst du die 2 oder die 1 – beide fahren zur Santa Lucia, da ist der Bahnhof!« In zehn Minuten bist du da!, wunderte er sich jetzt, ich bin doch schon fast am Fischmarkt angekommen … Wahrscheinlich laufe ich in die falsche Richtung … Den Fischmarkt hatte er gleich am ersten Tag in Venedig in sein Herz geschlossen, es war für ihn der lebendigste Platz in der Lagunenstadt, aber auch ein Ort, an dem die Zeit keine Macht über den Menschen hatte – hier waren Zeitreisende aus jeder Geschichtsepoche willkommen, seit Jahrhunderten schon, während derer sich das Angebot auf den Tischen der Händler kaum geändert hatte. Er durfte sich nicht verspäten, Lidia wusste nicht, dass er sie vom Bahnhof abholen würde. Es sollte eine schöne Überraschung werden, die sich ihr Vater am gestrigen Abend nach zwei Flaschen Montepulciano d’Abruzzo ausgedacht hatte: »Du holst mein Mädchen ab! Die Kleine wird sich freuen, dich wiederzusehen – sie hat oft nach dir gefragt, wie es dir geht und wann du endlich zu Besuch kommst!« Der überdachte Fischmarkt war menschenleer, jetzt sah er wie ein Tempel aus, den Diebe ausgeraubt hatten, und die Säulen und Bögen der Markthalle schienen den Himmel zu tragen, der tief und grau über der Stadt lag und kein gutes Wetter für einen Spaziergang am Nachmittag verhieß. Wann habe ich die Tochter meines Freundes das letzte Mal gesehen?, fragte sich Andrzej. Vor zehn Jahren? In Warschau? Sie muss damals dreizehn gewesen sein, als ihr Vater sie auf die Flucht in den Westen mitgenommen hat, nach Frankfurt am Main … Auf die Flucht vor seiner Vergangenheit und ihren Schatten … Die Kommunisten sind ihm doch in den Arsch gekrochen … Ihm fehlte es an nichts … Er durfte reisen, besaß Devisen … Andrzej konnte kaum glauben, dass Lidia inzwischen dreiundzwanzig geworden war, eine Frau, die mit dem kleinen Mädchen aus Warschau nichts mehr zu tun hatte, gar nichts … Auf einem aktuellen Foto hätte er nämlich nur ihre Augen erkannt – die dunkelgrünen Augen. Die verfluchte 13!, dachte er noch, die Zahl verfolgt mich mein ganzes Leben schon, selbst in Venedig! Heute ist Sonntag, der 13. Dezember 1981, und ich werde gleich ein dreizehnjähriges Mädchen, das eine junge Frau geworden ist und in London lebt und mehrere Sprachen beherrscht, in meine Arme schließen und ihr erklären müssen, was ich hier tue! An der Vaporetto-Haltestelle angekommen, stellte er etwas beunruhigt fest, dass die Kirchenglocken immer noch schwiegen und dass ein paar betrunkene Passanten nach Hause gingen und in den dunklen Gassen eilig verschwanden, schreiend und kichernd, weil sie nach wie vor durstig und unternehmungslustig waren. Diese Stadt war ein Bordell und eine riesige Kirche zugleich, ein Steinbecken voller Weihwasser und Wein, voller Unrat und Lagunensalz. Und überall schliefen die Menschen wie auf Wasserbetten und träumten von unbekannten Orten und selten von ihrem Venedig. Wünschelrutengänger müssen in Venedig schlechte Karten haben, dachte Andrzej. Wo war aber heute die Sonne? Warum zeigte sie sich nicht? Der Canal Grande schlief noch im milchigen Dunst der Morgendämmerung und gab kein Lebenszeichen von sich. Wo waren die Motorboote? Und die Vaporetti? Endlich hörte Andrzej in der Ferne das Geräusch ihrer Dieselmotoren, das ihn beruhigte. Er würde seinen Gast, den er abholen sollte, nicht verpassen. In diesem Moment musste er wieder an seinen Traum von der Begegnung mit Lidia denken. Er hatte zwei Nächte hintereinander von einer verfallenen und überschwemmten Fabrik geträumt, aber erst in der dritten Nacht war Lidia zu ihm gekommen, und das war gestern gewesen. Auf morschen Bretterstegen, die riesige leergeräumte Produktionshallen miteinander verbanden, war er stundenlang herumgeirrt: auf der Suche nach ihr. Er entdeckte schließlich einen Ausgang und erblickte in der Ferne grüne Hügel, die sommerlich leuchteten. Auf einem der Hügel wartete Lidia auf ihn. Sie winkte ihm zu, doch als er den grünen Teppich betrat, verschwand sie sofort aus seinem Blick. Und er fand sich wieder in der überfluteten Fabrik, in der Hunderte von Wasserhähnen tropften. Das grausige Tropfen hatte ihn wieder wachgemacht. Es handelte sich um eine postapokalyptische Welt, die er im Schlaf besucht hatte und die er schon aus Andrei Tarkowskis Film Stalker kannte. Spiegelte der Albtraum etwa seine Angst vor einem Atomkrieg wider? Oder eher vor der Begegnung mit Lidia? 2
Die Fahrkarte besorgte er sich direkt auf dem Vaporetto. Er musste beim Geldzählen aufpassen, zehntausend Lire sagten ihm wenig – er durfte das Geld nicht mit seinen polnischen Zloty verwechseln, die nichts wert waren, zumindest hier in Italien. Jacek, der ein erfolgreicher Komponist war, hatte ihm gleich am Tag seiner Ankunft in Venedig einen prall gefüllten Umschlag in die Hand gedrückt: »Kauf was Schönes für deine Frau und deinen Sohn!«, hatte er gesagt. Andrzej wollte das Geld nicht annehmen. Und hatte immer noch nichts ausgegeben. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, ein sowjetisches Meisterstück. Kurz nach Sieben … Aber er konnte den Wasserbus nicht beschleunigen. Die Haltestationen wollten nicht enden, und der Canal Grande ähnelte zu dieser frühen Stunde einem dunklen Tunnel, der unendlich zu sein schien. Andrzej wusste, dass er sich verspäten würde. Und hoffentlich würde Lidia warten. Sie kannte den Weg zu ihren Eltern, sie kannte diese Stadt, kannte den Strand vom Lido, wo sie als Teenager Jahr für Jahr ihre Sommerferien verbracht hatte, und die Inseln Giudecca und Murano und selbst den Friedhof San Michele. Er hatte nämlich bei Jacek Fotos von Lidia...


Artur Becker, geboren 1968 als Sohn polnisch-deutscher Eltern in Bartoszyce (Masuren), lebt seit 1985 in Deutschland, heute in Verden an der Aller. Er ist Romancier, Lyriker und Essayist. Nach "Die Zeit der Stinte" (dtv 2006) und "Das Herz von Chopin" (Hoffmann und Campe 2006) veröffentlichte er 2008 "Wodka und Messer. Lied vom Ertrinken" bei weissbooks.w. Im März 2009 erhielt Becker den Adelbert-von-Chamisso-Preis, im November 2012 folgte der DIALOG-Preis der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Bundesverband e.V." Im September 2013 ist sein Roman "Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang" erschienen. Im Herbst 2014 folgte die Novelle "Sieben Tage mit Lidia".



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