E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Becker / Lisa Die letzte Metro
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-86391-179-9
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Junge Literatur aus Tschechien
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-86391-179-9
Verlag: Verlag Voland & Quist
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Wie und wo begegnet man der jungen tschechischen Literatur? Womöglich in der Prager Metro? Und ist die tschechische Kneipe immer noch der ultimative Ort der Inspiration? Das Bafeln beim Bier als literarischer Topos ist in diesem Buch nur der Ausgangspunkt für eine wilde Fahrt durch Bilder, Stile und Stimmen der eigenwilligen tschechischen Gegenwartsliteratur.
Achtzehn Autorinnen und Autoren sind vertreten, oft erstmals ins Deutsche übersetzt. Mit Texten von: Bianca Bellová, Ond?ej Buddeus, Dora ?echova, Vladimíra ?erepková, Irena Dousková, Emil Hakl, Petr Hru?ka, Václav Kahuda, Dora Kaprálová, Hana Lundiaková, Igor Malijevský, Jaroslav Rudi?, Tereza Semotámová, Petra Soukupová, Al?b?ta Stan?áková, Michal ?anda, Filip Topol und Eva Turnová.
Martin Becker (*1982) macht Radio und schreibt Bücher. Zuletzt erschien: »Gebrauchsanweisung für Prag und Tschechien« (Piper Verlag). Demnächst erscheint: »Marschmusik« (Luchterhand Literaturverlag), ein Roman über die Kindheit und Jugend in einer Arbeiterfamilie. Er arbeitet für den Deutschlandfunk, WDR, NDR und SWR an Features, Kolumnen und Hörspielen, außerdem als Buchkritiker für Deutschlandradio Kultur.
Martina Lisa (*1981) lebt als Übersetzerin und Dozentin für Deutsch als Fremdsprache in Leipzig. Sie übersetzt geisteswissenschaftliche, journalistische und literarische Texte für Radio, Film, Online- und Printmedien. Sie war Stipendiatin des Übersetzungsprojekts »TransStar Europa« und gab zuletzt (mit Daniela Pusch) einen zweisprachigen Lyrikband heraus: »?ummus - Summen. Poesie aus Böhmen« (Konserve Verlag).
Weitere Infos & Material
Martina Lisa/Martin Becker (Hg.)
Die letzte Metro.
Ein Erfahrungsbericht Es gibt da diesen einen Satz. Vielleicht sollte ich mit ihm anfangen. Jeder, der schon mal in Prag war, kennt ihn. Seit mehr als dreißig Jahren dieselbe Stimme, die uns bittet, das Einsteigen und Aussteigen zu beenden. Und seit über dreißig Jahren ist das auch mein Satz. Manchmal höre ich ihn bis in mein Wohnzimmer hinein. Manchmal werde ich von ihm geweckt. Wenn die erste Metro des Tages gerade eingefahren ist. Der Satz ist ein Versprechen. Ein Versprechen, das eingelöst wird. Hundertfach am Tag, tief unter der Stadt. Da wohne ich. Im grünen Bereich. Ein Stück hinter der Metrostation Jirího
z Podebrad. Auf der Linie A. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört, in einer langen Nacht in irgendeiner Prager Spelunke. Der Mann, der die Metro kennt wie niemand sonst. Der Mann, dem die Metro ein Zuhause ist. Die klaffenden Mäuler dieser Krake, die im Prager Untergrund ihre Glieder ausbreitet, schlucken und speien jeden Tag anderthalb Millionen Menschen aus. Abertausende im Minutentakt. Du irrst im eisernen Ungetüm durch die Tunnel, getragen von den Wellen des menschlichen Gedränges und Gemurmels, aus einzelnen Wörtern und zerfetzten Sätzen wird eine Melodie, du verstehst sie nicht, summst aber dennoch sofort mit und suchst einen Halt auf dem in bunten Farben gemalten Plan. Drei Farben. Drei Richtungen. Drei Generationen. Die Türen schließen sich, die Bahn fährt an. Der unvergessliche Sound der Stadt unter der Stadt. Vor über dreißig Jahren bin ich deshalb in den Untergrund gegangen. So hat man es Ihnen in der Prager Spelunke erzählt. Aber geglaubt haben Sie die Geschichte nicht. Einer, der im Tunnel lebt? Mit Wohnzimmer und echtem Bett? Und sie haben ihn nicht rausgeworfen, den Jirí vom Jirího z Podebrad? Aber mir können Sie das ruhig glauben. Es gibt mich wirklich. Sie müssen schnell sein, wenn Sie zu mir wollen. Zwischen zwei Bahnen in den Tunnel steigen, sich nicht erwischen lassen, dann die erste Tür fest aufdrücken, Notausgang, ganz fest, und dann ein Stück durch den finsteren Gang, erste Tür rechts, zweite Tür links. Und Sie stehen in meinem Wohnzimmer. Eine komplette Wohnung. Ein Zimmer, provisorisches Bad, Plastikblumen, Porzellan und ein riesiges Bücherregal. Wenn ich nicht der Metro nachschaue, dann lese ich. Eine Zeit lang hatte ich auch einen Fernseher, aber der ist mir zu langweilig geworden. Eine Zeit lang hatte ich auch Ratten, aber denen ist es mit mir zu langweilig geworden. Vor über dreißig Jahren bin ich in den Untergrund gegangen. Weil sie mich beruhigt, die Metro, die minütlich an meinem, nennen wir es ruhig so, imaginären Wohnzimmerfenster vorbeirumpelt, die gerade erst Fahrt aufnimmt auf dem Weg zum nächsten Halt. Was wäre wohl passiert, wenn sie die Metro nie gebaut hätten? Wo würde ich heute leben? Vielleicht in einer ausrangierten Straßenbahn. Aber das wäre nicht dasselbe. Das wäre einfach nicht dasselbe. Damals hielt man die Ingenieure für Fantasten, als sie die Idee einer Prager Untergrundbahn ins Spiel brachten. Man lachte sie aus für ihre versponnenen Pläne. Eine Untergrundbahn in Prag? Bei dem sandigen Boden? Und was ist mit dem Fluss? Diese Bahn wird es nie geben. Tatsächlich sollte es von diesem Augenblick an noch einige Jahrzehnte und einige historische Umwälzungen dauern, bis sich die ersten Wagen ihren Weg durch den Untergrund bahnten. Am 9. Mai 1974 wurde die Prager Metro eröffnet. Am Anfang, da fuhr sie nur wenige Meter tief. Mangelnde Erfahrung im Tunnelbau. Den hat man aber ziemlich schnell erlernt. Die brauchten ja Bunker für den Ernstfall, den es nie gab. So entstand im Laufe der Zeit nicht nur die tiefste europäische Untergrundstation überhaupt, die den Frieden im Namen trägt, sondern auch ein ausgeklügeltes System aus Tunneln und Gängen. Und dann kam die Samtene Revolution, und viele Stationen wurden umbenannt, Lenin verschwand, und Moskau, die ganzen Fucíks und Gottwalds und mit ihnen auch die Erbauer der neuen Welt und die Kosmonauten. Die prächtigen Orte da unten hießen nun »Florenz« oder »Engel«. Wenn man ausstieg, roch es jedoch wie eh und je nach Kohle und Malz, die Luft war trüb, die Straßen voller Dreck und in der Kneipe an der Ecke wurde der Tag mit einem frisch gezapften Bier begrüßt. Die Namen änderten sich, aber das Bier schmeckte genauso bitter wie immer. Aus der Küche roch es nach verbrannten Zwiebeln und der alte Pianist stimmte wie aus dem Nichts den Brežnev-Blues an. Das Lokal schwankte mit. Später dann kam die Flut. Und wieder wurde alles anders. Mir hat es damals auch mein Hab und Gut weggespült. Ich habe geholfen, den Schlamm zu schippen. Tagelang. Freiwillig. Und dann bin ich wieder eingezogen, in meine frisch renovierte Bude unter der Erde. Vor über dreißig Jahren bin ich also in den Untergrund gegangen. Und ich habe keinen einzigen Tag davon je bereut. Es gibt Geheimnisse, die kennt niemand außer mir. Weil die Planer des Systems längst unter der Erde sind, aber anders als ich. Hier vom Jirího z Podebrad aus, zum Beispiel, dem Tor zur Hölle des legendären Kneipenviertels Žižkov, führt ein Geheimgang. Das dürfen Sie aber niemandem erzählen, sonst kommen bald die Touristen. Dieser Geheimgang, und das schwöre ich bei der Metro, führt direkt in den Hinterhof des Planeten Žižkov. Das ist meine Lieblingskneipe. Da gehe ich hin, wenn mir der Sinn nach Gesellschaft steht. Aber erst nach Mitternacht. Ich genieße es, wenn sie mir nach dem zweiten, dritten oder vierten Bier meine eigene Geschichte erzählen. Und dann sage ich: Ein Typ, der in den Tunneln lebt? Das gibt es nicht, das kann es gar nicht geben. Denkt doch mal nach. Vor Jahrzehnten bin ich in den Untergrund gegangen. Und vorher, da bin ich mit der Metro gefahren, von morgens bis abends, ich saß da und schaute mir die Gesichter an, von Endstation zu Endstation. In der roten Linie C, zum Beispiel, unter sandigem Grund und unter Wasser. Denn Sie wissen ja bestimmt, dass die Metro auch unter dem Prager Fluss fährt, der Vltava, der Moldau. Aber was Sie bestimmt nicht wissen: Man kann den Fluss auch hören. Wenn man es schafft, auf die Sitzbank zu steigen und ganz unauffällig sein Ohr an die Decke zu pressen, dann kann man es hören, das sanfte Schlagen der Wellen. Und sogar die alten Karpfen, die leise die Moldau-Sinfonie summen. Und die letzte Metro ist die schönste Metro von allen. In der letzten Metro, da ist man melancholisch und will nicht, dass die Fahrt aufhört. In der letzten Metro, da ist man oft verliebt und mit dem Kopf ganz woanders. In der letzten Metro, da bleiben manchmal Gedichtbände liegen oder gleich ganze Romanmanuskripte. In der letzten Metro bleibt nur noch die zufriedene Müdigkeit oder die müde Unzufriedenheit, es gibt keine Fortsetzung mehr, denn die Geschichten des Tages sind geschrieben, die wir uns am nächsten Morgen erzählen werden. Die letzte Metro gehört den Originalen. Gestalten, die den Büchern entspringen könnten, die ich lese. Ich sehe die Gesichter nur kurz, wenn die Bahn ganz langsam vorbeifährt oder vor meiner Haustür für einen Moment stehen bleibt, und doch kommt es mir so vor, als würde ich ihre Geschichten kennen. Da war zum Beispiel ein alter Herr mit Saxofon in der Hand, ich stellte mir vor, wie sie ihn schon lebendig beerdigen wollten und wie er im letzten Moment doch noch aus dem Sarg sprang. Da war diese Frau, die einen ganzen Kleiderschrank dabeihatte, und ich malte mir aus, wie sie darin lebt. Da war dieser Mann, der trug ein neues Jackett unter dem abgewetzten Mantel und hatte eine Kerze in der Hand, und ich stellte mir vor, dass er ein Hotelportier aus der Kleinstadt ist, der die Kerze am Wenzelsplatz anzünden will für seinen Helden, für Václav Havel, den Dichterpräsidenten. Da war mal ein Kerl, der hatte tatsächlich seine Bergmannskluft an, und ich dachte mir, der ist bestimmt gerade aus Ostrava hierhergekommen, um in der letzten Metro allen die Geschichte von seiner schlimmsten Schicht unter Tage zu erzählen. Die letzte Metro fährt nach Mitternacht, und dann ist sie weg, und dann ist es für Stunden still in den Tunneln und Gängen des Prager Untergrunds. Wer die letzte Metro verpasst, der muss eine Odyssee auf sich nehmen, der irrt mit Nachtbussen und Nachttrams durch die schlafende Stadt. Wer die letzte Metro nicht kriegt, der kommt vielleicht gar nicht mehr nach Hause. Der geht wieder in die Kneipe und bestellt ein Bier und dann...