E-Book, Deutsch, Band 34, 266 Seiten
Reihe: Religion und Moderne
Becker / Hertz / Großbölting Vom Nationalsozialismus überzeugt?
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-593-46251-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Politische Einstellungen christlicher Akteure in und nach der Diktatur
E-Book, Deutsch, Band 34, 266 Seiten
Reihe: Religion und Moderne
ISBN: 978-3-593-46251-6
Verlag: Campus Verlag GmbH
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Marvin Becker ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Hamburg. Dr. Helge-Fabien Hertz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut der Fakultät für Geisteswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen sowie Lehrbeauftragter an der Universität zu Kiel. Thomas Großbölting (1969-2025) war Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte im Arbeitsbereich Deutsche Geschichte an der Universität Hamburg, Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und geschäftsführender Direktor der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg. Dr. phil. Dr. theol. Rainer Hering ist Leiter des Landesarchivs Schleswig-Holstein, Professor für Neuere Geschichte und Archivwissenschaft an der Universität Hamburg und Honorarprofessor an der Universität zu Kiel.
Autoren/Hrsg.
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Sozialpsychologie und Geschichte. Das Potential der Einstellungsforschung für das Themenfeld Kirchen und Nationalsozialismus
Sozialpsychologie und Geschichte sind weit weniger miteinander verbunden als Soziologie und Geschichte. Unter der Fahne der modernen Sozialgeschichte in den 1970er Jahren gingen Soziologie und Geschichte eine starke Allianz ein, während die Romanze zwischen Psychologie und Geschichte von kurzer Dauer war.33 Doch kann die sozialpsychologische Einstellungsforschung möglicherweise helfen, differenzierter über die Verhaltensrelevanz historischer Einstellungen nachzudenken, über deren Konsistenz und den Umgang mit konfligierenden Einstellungen. Gerade auf anscheinend nicht miteinander zu vereinbarende Einstellungen stoßen wir auch hinsichtlich des Nationalsozialismus, dem gegenüber Menschen christlicher Prägung eigentlich ablehnend hätten gegenüberstehen müssen. Heute wissen wir, dass christlich-nationalsozialistische Einstellungsüberlappungen die gesellschaftlichen Verhältnisse ab 1933 viel realistischer abbilden als die herkömmliche Gegenüberstellung von Christentum und Nationalsozialismus. Diese Dichotomie von Kirchenmitgliedern und Regime folgt immer noch der Legende der 1950er Jahre, wonach eine kleine »Clique« fanatischer »Nazis« die Deutschen widerwillig ins Verderben geführt habe.34 Für die dem widersprechende These miteinander verflochtener und untereinander vereinbarer Einstellungen spricht alleine schon eine einfache Rechnung: Unzählige gewöhnliche Christen müssen Nationalsozialisten und die meisten Nationalsozialisten müssen Christen gewesen sein, führt man sich vor Augen, dass fast alle Deutschen einer christlichen Konfession angehörten. Zum Zeitpunkt der Volkszählung 1925 gehörten 96,5 Prozent der Deutschen einer Kirche an und sogar noch bei der Volkszählung 1939 (jetzt mit 3,5 Prozent »Gottgläubigen«) fast 95 Prozent der 79 Millionen Einwohner:innen im nunmehrigen Großdeutschland. Aus diesem Reservoir stammten diejenigen, die dem Nationalsozialismus anhingen. Die Deutschen wurden nicht von einer außerhalb dessen liegenden winzigen Minderheit übermannt und terrorisiert.35 Gläubigkeit konnte ein Faktor von Resilienz sein, aber auch ein Faktor des Nationalsozialismus, der das System stabilisierte. Deshalb ging es im Projekt im Jahr 2020 darum, die herkömmliche Dichotomie zwischen Kreuz und Hakenkreuz, zwischen entweder Christentum oder Nationalsozialismus aufzubrechen, als gebe es vorwiegend Menschen auf dieser und solche auf jener Seite und als wären »Brückenbauer« nötig gewesen, um zwischen zwei voneinander getrennten Ufern zu vermitteln. Eine Grundthese des Buches war, dass viele Christ:innen ihre Gläubigkeit nicht als im Widerspruch zum Nationalsozialismus wahrnahmen. Vielmehr durchmischten sich beide Sphären. Die Alltagspraxis war wesentlich unreflektierter als das, was sich Theolog:innen oder Historiker:innen ausdenken. Deshalb sprechen wir von »hybrider Gläubigkeit« oder, in Anlehnung an Manfred Gailus und Armin Nolzen, von »doppelgläubigen Deutschen«.36
Nun soll der Faden weitergesponnen werden. Diesmal geht es ganz ähnlich um die »Abstufungen und Mischformen von Nähe und Distanz«, vor allem aber um Einstellungen von Kirchenmitgliedern zum Nationalsozialismus und zum NS-Regime. Die inhaltliche Frage lautet in der Einleitung dieses Sammelbandes: »Wie waren Vertreter:innen der beiden christlichen Großkirchen zum Nationalsozialismus eingestellt? Bejahten sie das neue Regime oder lehnten sie es ab?«37 Nationalsozialismus und Regime sind freilich zwei verschiedene Einstellungsobjekte. Daran schließen methodische Fragen an: Wie lassen sich solche Einstellungen auf belastbare Weise messen? Um den Komplex besser ausleuchten zu können, sollen die Probleme auf der Mikro-, Meso- und Makroebene untersucht werden, schlägt die Einleitung vor. Diesen Ebenen sind jeweils unterschiedliche Methoden zugeordnet.
Auf der Individuen betreffenden Mikroebene sind es Ego-Dokumente und die Deutung von Aussagen in Netzwerkzusammenhängen. Ego-Dokumente werden seit dem Aufschwung der Alltagsgeschichte und der erneuten Zuwendung zum historischen Individuum verstärkt seit den 1980er Jahren untersucht, etwa die wieder und wieder zitierten Tagebücher von Viktor Klemperer und von Luise Solmitz sowie Walter Kempowskis zehnbändiges Echolot, dessen Quellencollage die Weltkriegszeit erfasst. Michael Wildt navigiert in seinem Buch 2022 mit den Tagebüchern der Protestantin Solmitz aus Hamburg, des katholischen Gastwirts Matthias Mehs aus Wittlich und des Konvertiten Klemperer durch die NS-Zeit. Ein differenziertes Bild der teils reflektierten Anpassungsprozesse bietet auch die Studie von 140 Tagebüchern von Janosch Steuwer.38 Derzeit werden die Tagebücher von Kardinal Michael von Faulhaber in einem DFG-Projekt entziffert.39
Auch Briefe sind Selbstzeugnisse, soweit sie etwas über die Autorin und den Autor preisgeben. Hirtenbriefe fallen freilich nicht in die Kategorie Ego-Dokumente. Sie lassen sich aber auf Spuren von Ego-Bekenntnissen lesen. Dazu kommen Sitzungsprotokolle, etwa der Fuldaer Bischofskonferenz oder protestantischer Kirchenbehörden. Jedenfalls gibt es, man denke an die Quellenbände der Kommission für Zeitgeschichte in Bonn, noch zahlreiche andere Dokumentgenres, um Einstellungen Einzelner zu identifizieren. Dazu zählen auch die Akten des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg, die indes eher die Opferperspektive einnehmen, oder Akten der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg – woraus Daniel Goldhagen und Christopher Browning ihre Fälle geschöpft haben, um den Antisemitismus der Täter vollkommen unterschiedlich zu interpretieren, wohlgemerkt aber eben der Mörder, die als solche nicht repräsentativ für die Gesamtbevölkerung sind, auf der anderen Seite aber »ganz normale Männer« waren.40
Auf der Mesoebene für kleinere oder größere Gruppen rangieren erneut Ego-Dokumente als Zugang sowie die Positionierungstypologie von Helge-Fabien Hertz zu 729 evangelischen Pastoren Schleswig-Holsteins.41 Anregend wäre noch die konfessionelle und Milieupresse. Im Saarland konnte sie bis 1935 frei operieren. Gerhard Paul und Klaus-Michael Mallmann haben anhand dessen und anderer Quellen 1995 ein faszinierendes Buch über die »Selbstgleichschaltung« des Katholizismus im Saarland vorgelegt.42 Eine hermeneutisch sensible Studie über den intellektuellen Hochlandkreis hat kürzlich Kristina Mateescu verfasst. Bei allem Konsens gab es in der reformkatholischen Zeitschrift auch Resistenz – aber zwischen den Zeilen, als camoufliertes Schreiben mit Mehrfachadressierung. Die entsprechenden Netzwerkteilnehmer:innen konnten das dekodieren. Insofern, das zeigt dieses Buch, reicht es nicht, sinnfrei Stichworte in Texten zu zählen. Wenn jemand sich gegen den Bolschewismus aussprach, klang das oberflächlich nach Konsens, aber untergründig konnte das Codewort auf die NS-Verhältnisse in der Heimat zielen.43
Auf der Makroebene werden die SD-Berichte und, weil sie oft die ganze Gesellschaft meinten, Goebbels Tagebücher genannt, die Studien etwa von Thomas Brechenmacher 1999 und Götz Aly 2006 über Vornamensvergaben (Adolf, Hermann, Heinrich) als Stimmungsindikator, schließlich die jüngste Auswertung von Entnazifizierungsakten, geleitet von Lisa Klagges und Jürgen Falter.44 Als sehr ergiebig haben sich auch die Meldungen des SPD-Parteivorstandes im Exil erwiesen, die Deutschland-Berichte, abgekürzt Sopade. Erstmals hat Bernd Stöver 1993 die »Konsensbereitschaft« der Deutschen daraus erschlossen. Das ist eher Best Practice als brandneu, sollte aber ergänzt werden. Während die SD-Berichte eher Konsens nach oben melden wollten, haben die Sopade-Berichte eher nach Unmutsäußerungen gesucht, um den Genossen Mut zu spenden. Man muss immer beide Quellen kritisch zusammenlesen.45 Der methodische Handwerkskoffer kann mithin reich gefüllt werden in diesen sechs Untersuchungsfeldern: zum Nationalsozialismus auf Mikro-, Meso- und Makroebene und zum anderen Thema, dem...