E-Book, Deutsch, 410 Seiten
Becker Die Töchter der Róza Bukovská
1. Auflage 2013
ISBN: 978-3-7017-4350-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 410 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4350-6
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die Geschichte einer slowakischen Familie als Paradigma eines Lebens in der Heimatlosigkeit.
MIT SIEBZEHN HABEN ES TÖCHTER NIE LEICHT mit ihren Müttern: Die Leine ist immer zu kurz und in der Tschechoslowakei wohl noch ein Stückchen kürzer. Wenn die Leute sagen: "Ganz die Mama" freut sich die Mutter mehr als die Tochter. Jasmine Bukovská gibt ihrer Mutter Róza keinen Anlass zu dieser Freude, sie gleicht ihrer Tante: jener Frau, die ihr Vater liebte und immer noch liebt. Eine Ehe hatte die Familienräson vereitelt. Dann kam Róza, die jüngere Schwester, stillte mit dem verhinderten Schwager ihre Neugier aufs Leben, wurde schwanger und durfte geheiratet werden. Drei Töchter gingen aus dieser Ehe hervor und machten den Blumenstrauß komplett: Iris, Jasmine und Kamilla. Zu Hause wird es eng, in der Wohnung wie im Land. Der Frühling des Jahres 1968 ist die Zeit des großen Aufbruchs: Iris, die große Schwester, nutzt eine Lücke im Eisernen Vorhang und wandert nach Amerika aus, und auch für Jasmine wächst die Versuchung, Heim und Heimat hinter sich zu lassen ...
Zdenka Becker ist zwischen den Ländern und in zwei Sprachen daheim. In einem fragenden, nicht eitel überformulierenden Ton erzählt sie vom Abhandenkommen alter Bindungen und der Suche nach einer neuen Identität.
Autoren/Hrsg.
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9. Werner verzauberte Eva von der ersten Minute an. Er fragte sie nach dem Weg, und als er begriff, dass die Kirche, die er suchte, direkt vor ihnen stand, stellte er die überflüssigste aller Fragen: »Wissen Sie, wo es Bananen gibt?« Eva überlegte kurz, begriff aber, dass er nur Zeit gewinnen wollte, und beeilte sich mit der Antwort nicht. Wozu auch? Sie sahen einander an wie zwei Menschen, die mehr voneinander wissen wollten. Da waren die Bananen – oder worum ging es eigentlich? – völlig nebensächlich. Hoffentlich geht er nicht gleich weg, dachte sie. Was muss ich tun, damit er noch mehr fragt, noch länger mit mir redet? Es musste ihm ähnlich ergangen sein, denn er führte sie zu seinem Auto, öffnete den Kofferraum und zeigte ihr einen schmiedeeisernen Kerzenständer. »Den habe ich gerade bei einem Antiquitätenhändler gekauft«, sagte er. »Gefällt er Ihnen?« »Er ist sehr schön«, sagte Eva, ohne den Kerzenständer wirklich angesehen zu haben. Was sie aber faszinierte, waren seine Augen, die aus seinem Gesicht leuchteten. »Trinken Sie einen Kaffee mit mir?«, fragte er endlich, und sie antwortete nicht nur mit den Worten, sondern mit dem ganzen Wesen: »Ja, gern.« Sie gingen in ein nahes Bistro, bestellten jeder einen Espresso und Mineralwasser und erzählten einander ihre Lebensgeschichten. Werner war achtundzwanzig und Wiener. Er arbeitete als Musikagent für Popgruppen. »Mein Gitarrenspiel hat für eine Musikerkarriere nicht gereicht … zum Glück.« Er lachte, wobei seine wie Perlen aufgereihten Zähne in der Dunkelheit des Bistros glänzten. »Mein jetziger Job ist viel interessanter. Und ich studiere ein bisschen …« »Ein bisschen? Wie kann man ein bisschen studieren?« Er wirkte wie ein Mann von Welt – selbstsicher, erfahren, souverän. Trotz seiner Jugend. »Und was machst du beruflich?«, ging er nahtlos zum vertrauten Du über. Alles, was er sagte, klang wie Magie. Eva verstand nicht, was mit ihr los war. Sie zitterte und genoss das Zittern. Sie atmete kurz und flach und war dabei entspannter als je zuvor. »Ich arbeite bei einer Zeitung«, sagte sie. »Ah, Journalistin«, lachte er auf. »Ich habe viel mit Journalisten zu tun. Mit guten, aber auch mit schlechten. Ich wette, du bist eine tolle Journalistin.« »Leider nein«, sagte sie. »Ich bin nur die Redaktionssekretärin, die auf einen Studienplatz wartet. Und es ist gar nicht sicher, ob ich ihn jemals bekommen werde.« »Komm nach Wien«, sagte er, als ob es die selbstverständlichste Sache der Welt wäre. »In Österreich kannst du sofort mit dem Studium anfangen. Und nebenbei arbeiten. Das geht.« Sie tauschten Adressen und Telefonnummern. Werner versprach Hilfe, sollte Eva es sich mit Wien einmal überlegen. Da war aber für sie nichts zu überlegen. Sie konnte es sich nicht vorstellen, irgendwo anders als in Bratislava zu leben. Und nicht nur das. Sie wollte aus unerklärlichen Gründen auch die Familie Bukovský nicht verlassen. Egal, wie sie waren, sie boten ihr ein Nest, das sie nicht verlassen wollte und konnte. Wahrscheinlich aus Angst, anderswo keinen adäquaten Ort zu finden. Sie kam sich vor wie eine Nesthockerin, wie ein junger Kuckuck, der sich in einem fremden Nest ausbreitet und die rechtmäßigen Kinder verdrängt. Werner faszinierte sie trotzdem. Er erweckte in ihr Gefühle, die sie bis dahin nicht gekannt hatte. Nachts im Bett stellte sie sich vor, dass sie heirateten, eine Kinderschar erzogen und miteinander glücklich alt wurden. Und trotz seiner österreichischen Herkunft und einer anderen Sprache waren ihr die erträumten Orte ihres Zusammenseins bekannt. Es waren ihre Orte. Zwei Wochen später, es war an einem Sonntagmorgen, läutete es an der Tür. Eva öffnete und fiel fast in Ohnmacht. Werner stand vor ihr und lächelte. »Da bin ich«, sagte er. Seit ihrer ersten Begegnung hatten sie keinen Kontakt gehabt. Er schrieb nicht und rief auch nicht an. Und sie tat es aus Stolz auch nicht, weil sie der Meinung war, dass der Mann den ersten Schritt tun sollte. Nun stand er da und sagte: »Darf ich hereinkommen?« »Ja, natürlich. Komm nur.« Sie setzten sich ins Wohnzimmer. »Hier wohnst du also.« »Ja.« »Und wie geht es dir?« »Danke, gut. Und dir?« Eva war so aufgeregt wie noch nie. Zum Glück platzte Kamila in die peinliche Szene. »Du hast Besuch«, sagte sie überrascht. »To je Werner …«, sagte Eva auf Slowakisch und ergänzte auf Deutsch »… und das ist Kamila.« »Deine Schwester?« »Nein … oder irgendwie schon … eigentlich nicht.« Die Situation wurde immer grotesker. Kamila begann zu kichern und rannte in die Küche. »Jasmine«, schrie sie. »Eva hat Besuch. Einen Deutschen. Den musst du dir ansehen.« Zum Glück hat Werner nichts verstanden, aber das hysterische Gekreische Kamilas war ohnehin deutlich genug. »Du hast Besuch?« fragte Jasmine und steckte den Kopf in die halb geöffnete Wohnzimmertür. Es folgte ein weiteres Vorstellungsritual. Jasmine setzte sich zu ihnen. Mit Neid musste Eva feststellen, dass Jasmines Englisch besser als ihr Deutsch war. In der Schule hatte Eva die besseren Noten gehabt, aber Jasmine war mutiger und entschlossener. Sie überlegte nicht lange und ersetzte manchmal die fehlenden Vokabeln durch slowakische oder lateinische Wörter und das alles mit ihrem selbstverständlichen Charme, der sie zum Mittelpunkt jeder Gesellschaft machte. Und dieser Charme verfehlte auch diesmal nicht sein Ziel. Werner war von Jasmine so angetan, dass er nur noch Augen für sie hatte. Eva ging in die Küche und setzte Kaffee auf. Während sie die Tassen, eine Zuckerdose und ein Milchkännchen aufs Tablett stellte, hörte sie durch die geöffnete Tür das angeregte Gespräch, das die beiden führten. Es dauerte nicht lange, da gingen sie in Jasmines Zimmer und blätterten in den Langspielplatten, als wären sie langjährige Freunde. Ab diesem Augenblick hatte Eva keine Chance mehr. Sie war die unerwünschte Dritte, jemand, der nicht dazu gehörte. Zusammen mit Kamila saß sie im Wohnzimmer und lauschte den Geräuschen aus dem Nebenzimmer. Nach außen hin zwar gefasst, gab sie sich ihrer Trauer hin und beweinte die Liebe, die starb, noch ehe sie sich als solche hatte entwickeln können. Jasmine und Werner kamen zurück ins Wohnzimmer wie zwei alte Bekannte. Kamila kicherte unentwegt und ließ sich alles, was Werner sagte, von Jasmine oder von Eva ins Slowakische übersetzen. Auch sie lernte in der Schule Deutsch, und theoretisch hätte sie auch zumindest ein bisschen etwas verstehen müssen, sie war es aber gewohnt, dass ihr ihre ältere Schwester bei allem half. Sie strengte sich nicht an zu verstehen, geschweige denn, etwas zu sagen. Mit den Jahren hatte sich Eva an ihre Art gewöhnt und nahm Kamila, wie sie war. Ein unselbstständiges, verwöhntes Mädchen, das keine Freundinnen und keine Hobbys hatte. Sie saß den ganzen Nachmittag zu Hause, naschte ständig etwas aus dem Speisekasten und Kühlschrank oder produzierte selbst kreierte Nachspeisen, die sie dann allein verschlang. Obwohl es absolute Kalorienbomben aus Eiern, Butter und Schokolade waren, setzten sie nicht an. Kamila war nicht nur schlank, sondern dürr. Nur Haut und Knochen. Sie war sechzehn Jahre alt, sah aber aus wie ein Kind. Und sie war es auch. Während ihre Klassenkameradinnen schon wie junge, aufblühende Frauen wirkten, war Kamila noch unentwickelt und flach wie ein Brett. Was Róza aber die größte Sorge bereitete, war, dass Kamila noch keine Monatsblutungen hatte. Sogar der praktische Arzt, der sie schon seit mehr als einem Jahr zu beruhigen versuchte, drängte jetzt auf eine gynäkologische Untersuchung, die Aufschluss darüber geben sollte, warum Kamila so spät dran war mit ihrer körperlichen Entwicklung. Die Untersuchung in der gynäkologischen Kinderambulanz ergab, dass Kamilas Hormonstatus ihrem Alter nicht entsprach und sie sich deshalb einer Hormonkur unterziehen müsse. Sie bekam einmal im Monat eine Hormoninjektion, auf die ein paar Tage später die Menstruation folgte. Ab diesem Zeitpunkt begann sich Kamila auch äußerlich zu verändern. Sie wuchs um einige Zentimeter, nahm zu und bekam Akne. Zumindest äußerlich war sie auf dem Weg, erwachsen zu werden. Seit jenem Sonntag, an dem Werner Eva besucht und Jasmine entdeckt hatte, gingen sich die beiden Mädchen aus dem Weg. Sie schliefen zwar in einem Zimmer, sahen sich in der Früh und am Abend, vermieden es aber stets, über Werner zu reden. Eva merkte es Jasmine aber an, dass sie intensiv an ihn dachte. Jasmine war bereit zu gehen. Sie saß in ihrem Zimmer auf dem Bett und überlegte, wo sie die nächste Nacht verbringen würde. Es waren keine Gedanken über die Zukunft, nicht einmal Sorgen darüber, wie sie mit Werner, der eigentlich an der Juridischen Fakultät der Wiener Universität studierte und die Künstleragentur nur nebenbei...