E-Book, Deutsch, 256 Seiten
Becker Das Kino bin ich
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7439-4626-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 256 Seiten
ISBN: 978-3-7439-4626-2
Verlag: tredition
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ron reist seiner Exfreundin Melek nach Indien hinterher, wo er nach einer Schaffenskrise wieder mit dem Schreiben anfängt. Er vermutet sie in einer Kommune. Das Unterwegssein in der Fremde und die zufälligen Begegnungen mit Einheimischen, Reisenden, Spirituellen und Gurus lassen Ron sich intensiver spüren. Ihm wird allmählich klar, dass er bisher überwiegend den falschen Dingen im Leben nachgejagt war. Robin Becker versteht es, auch die ernstesten Angelegenheiten so treffend und schnörkellos lebendig zu machen, dass ich an vielen Stellen lachen musste. (Literaturpodium) Ein anspruchsvoller, liebevoller Reiseroman. Man erhält tiefe Einblicke in Rons Gefühls- und Gedankenleben, in seine Zerrissenheit, in seinen Wunsch auf ein erfülltes Dasein. Eine Geschichte mit psychologischen und philosophischen Aspekten. Die Suche nach sich selbst, wie sie uns alle etwas angeht. (Nina Heick)
Robin Becker ist 1975 in Bielefeld geboren. Seit seinem 16. Lebensjahr bereist er mit Rucksack und Feder die Welt. Als gelernter Industriemechaniker zog er 1996 nach Köln. Ab 2003 studierte er in Potsdam und Bielefeld Sozialpädagogik. 2008 zog er nach Bern, wo er auf diversen Bühnen Lesungen hielt. Seine beiden ersten Romane, Das Kino bin ich (2017) und Komfortzone (2020), veröffentlicht er über den Selbstverlag tredition. Von 2013 bis 2023 wohnte Robin Becker in Köln und Berlin und war freiberuflich als Sozialpädagoge sowie Autor tätig. Zudem veranstaltet und moderiert er seit 2021 in Köln die 'Offene Welt-Bühne', wo Musiker*innen, Tänzer*innen, Kabarettist*innen und Autor*innen auftreten und er aus seinen Büchern vorliest. Seit 2023 lebt Robin Becker im Kanton Bern, wo er als selbstständiger Schriftsteller und Familienbegleiter arbeitet.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Stadt der Bildhauer Im Gang gehen die hellen Lichter aus, ich schließe die Augen, bin sehr müde, weiß aber, dass ich hier im Flugzeug mit Sicherheit nicht einschlafen werde. Im Gegensatz zu den beiden Kindern und ihrer Mutter, deren Kopf an meine Schulter sackt. Ich lasse es geschehen, kann der Nähe sogar etwas abgewinnen, ihr sprödes braunes Haar, das nach Mango oder Papaya duftet, kitzelt an meinem Hals. Mir fällt auf, dass ich schon länger nicht mehr an Melek gedacht habe, mag auch jetzt nicht an sie denken, was mir aber völlig misslingt. Bei einem unserer letzten Streits hat Melek mir gesagt, sie habe noch nie einen richtigen Orgasmus gehabt. Das tat weh, wo wir so häufig miteinander gekuschelt und geschlafen haben, und sie danach immer ganz selig war. Ich möchte mich ein wenig strecken, doch bei dem Versuch die schlafende Mutter von meiner Schulter wegzuschieben, wacht sie auf. Zunächst ist sie irritiert. Wir kommen ins Gespräch. So erfahre ich, dass sie für zwei Wochen in Chennai in einen Ashram zu ihrem Guru möchte, bei dem sie schon öfter war. Ihre hellbraunen Augen werden feucht, als sie das sagt. Ich nehme mir aus Verlegenheit die Werbezeitschrift zur Hand, ärgere mich, dass ich den Roman nicht ins Handgepäck gepackt habe. „Warst du schon einmal in Indien?“, sagt sie. „Nein.“ „Und was zieht dich dahin?“ Ich sage ihr nicht, dass ich auf der Suche nach meiner ehemaligen Freundin bin, die ich in Mamallapuram vermute. Stattdessen sage ich: „Gute Frage.“ Sie kramt aus ihrer Tasche eine Packung Bio-Kekse und bietet mir einen an, den ich dankend ablehne. Ich entschuldige mich, muss zur Toilette, frage sie, ob ich ihr etwas zu trinken mitbringen solle, vielleicht einen Tee? „Ja, gerne … einen Kamillentee und Wasser.“ Als ich mich mit meiner Cola, ihrem Tee und Wasser wieder zu ihr setze, schaut sie gerade nach ihren Kindern, die immer noch schlafen. Wir schweigen einige Minuten. Draußen wird es allmählich hell, vereinzelte Sonnenstrahlen funkeln durch den Flieger. „Hast du von den Vorfällen in Indien gehört?“, sagt sie. „Was für Vorfälle?“ „Die indischen Frauen sind im Moment sehr erbost, weil eine Studentin in einem Bus von mehreren Typen vergewaltigt wurde … Über eine halbe Stunde ging das. Und niemand hat der Frau geholfen. Der Freund der Studentin lag mit einer Eisenstange halb erschlagen in der Ecke und musste zuschauen.“ „Puh. Harte Nummer.“ „Die Frauen fordern jetzt mehr Rechte und Schutz. Das Problem ist unter anderem die Aussteuer, Mädchen kosten zu viel, die Familien bekommen sie nur schwer verheiratet … Ich hätte beinah den Flug storniert. Aber eine Freundin meinte, da könne ich im Prinzip nirgends mehr hin.“ „Da hat sie recht.“ „Angeblich ignorierte die Polizei diesen Vorfall vorerst. Die schreitet meistens erst ein, wenn sie bestochen wird.“ „Hmm.“ Sie schaut nach ihrer Tochter, die aufgewacht ist. Ich schließe die Augen. Nicht lange, da wird schon die Landung angekündigt. *** Ich helfe der Mutter, deren Namen ich noch immer nicht weiß, trage zwei Taschen voll Kinderzeug und meinen eigenen Rucksack aus dem Flugzeug. Sie humpelt, meint, das Knie tue ihr seit Düsseldorf weh. Sie trägt den Jungen auf dem linken Arm und hält ihre Tochter an der Hand. Die beiden Kinder sind erstaunlich still, glauben wohl, sie träumen noch, der Schnuller und der Daumen wirken Wunder. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass ich viereinhalb Stunden hinter der indischen Zeit zurückhänge. Wir sind also der Sonne entgegengeflogen, das macht Sinn, schließlich liegt Indien südöstlich von Deutschland. Es ist also nicht mehr Viertel vor sieben, sondern Viertel nach elf. Ein Mann mit Oberlippenbart und Handfunkgerät in der Hemdtasche tritt an uns heran, sagt kein Wort, bedeutet mir lediglich, ihm zu folgen. Einem Gespräch weicht er aus, er macht Handzeichen, hat es eilig, vielleicht ein Zollbeamter. Wir gehen zur Gepäckausgabe. Der Mann zieht unser Gepäck vom Band, stapelt es auf einen Rollwagen, fährt ihn zur Passkontrolle an den Wartenden vorbei, füllt für uns die Einreisepapiere aus, winkt uns durch. Als er von mir Geld will, schüttelt die Mutter den Kopf und meint, der würde hier arbeiten. Ich habe eh nur Euro, fällt mir ein. Der hilfsbereite Mann trabt davon. Das Mädchen möchte geschoben werden. Ich setze sie oben auf das Gepäck, sage ihr, sie solle sich gut festhalten. Zunächst guckt ihr kleiner Bruder skeptisch, dann will auch er auf den Rennwagen. Wir brauchen beide Geld, schauen uns nach einem Bankautomaten um, aber es gibt keinen, nur eine Geldwechselstube von Thomas Cook. „Der Kurs ist super schlecht“, sagt sie, „für hundert Euro müssten wir eigentlich mindestens siebentausend Rupien bekommen, nicht sechstausend.“ „Ohne Geld ist auch keine Lösung“, sage ich, und wechsle. Vor dem Flughafen wird sie erwartet. Ein Mann mit Vornamen Martin aus dem Ashram winkt ihr über das Absperrgitter hinweg. Er ist groß, überragt alle um sich herum wie eine Statue. „So, ihr beiden Abenteurer, ich bräuchte jetzt mein Gepäck“, sage ich. „Kommt ihr da alleine runter?“ „Nee“, sagt das Mädchen und zieht ein trotziges Gesicht, das ihr Bruder ulkig nachmacht. „Könnt ihr noch nicht klettern?“ „Das ist doch puppig.“ „Glaube ich nicht.“ Die Mutter hebt mit zwei raschen Bewegungen ihre Kinder vom Rollwagen und stellt sie vor sich hin, was das Mädchen mit Genörgel quittiert. „Ruhe im Karton“, sagt sie auf eine Art, die mich an meine Mutter erinnert, die ebenfalls sehr bestimmend sein konnte. Ich greife mir mein Gepäck. Die Frau umarmt mich zum Abschied wie einen alten Freund, wünscht mir Glück, schöne Momente, neue Erfahrungen und Gesundheit. „Das wünsche ich euch auch.“ Sie gehen Martin entgegen, der sich einen Weg um das Absperrgitter herum bahnt. Es ist schwül, die Sonne ist durch Hochnebel oder Smog verdeckt. Ich ziehe meinen braunen Pulli aus, schmeiße ihn in meinen großen dunkelroten Plastikhartschalenkoffer. Ein Thomson, den ich mir vorgestern für fünfzehn Euro im Trödelladen einer sozialistischen Selbsthilfe gekauft habe. Das Ding ist nicht einmal halbvoll, nur mit Klamotten, einem Buch und Fernglas beladen, das ich für fünf Euro in dem sympathischen Trödelladen obendrauf bekam. Der Thomson hat vier Räder und eine Schnur, an der man ihn hinter sich herziehen kann, wenn es der Untergrund zulässt. Ich überlege, ob ich auch meinen kleinen Rucksack, in dem der Laptop, der Camcorder und meine Geldbörse sind, im Koffer verstauen soll, entscheide mich aber dagegen. Ich frage zwei junge Touristinnen, die in indischen Gewändern stecken und sehnsüchtig auf jemanden zu warten scheinen, ob sie wüssten, wie man nach Mamallapuram kommt. Drei Taxifahrer kommen ihnen zuvor, bieten mir die Tour für eintausendzweihundert Rupien an. Ich versuche, zu handeln. Die beiden Schönheiten mischen sich ein und raten mir, mit dem Bus zu fahren, der irgendwo hinter der Menschentraube abfahren soll, das koste nur achtzig Rupien und ginge genauso schnell. Die Taxifahrer geben nicht auf, während ich mich auf den Weg zum Bus mache. Sie unterbieten sich gegenseitig, bekommen sich gar in die Haare darüber, wer meinen Koffer ziehen darf. Ich sage immerzu: „Thank you, I take the bus.“ *** Der fahrende Schrotthaufen ist ungemütlich, rumpelt und hupt sich durch eine Stadt, die schon nach wenigen Minuten aussieht, als hätte sie einen schlimmen Bombenangriff hinter sich. Die Fassaden sind vielfach nicht vorhanden, Menschen bewegen sich in den Ruinen und wirken auf den ersten Blick wie Puppen in einem unaufgeräumten Puppenhäuschen. Kurzum, die Stadt liegt in Schutt und Asche, wer nicht auf seinem Steinhaufen kauert oder durch kaputte Räume geistert, ist Maurer, vermute ich. Alles wirkt wie inszeniert, die Bühne großartig, die Komparsen reichlich. Manche fegen die Straße mit selbstgebastelten Besen, andere klopfen mit winzigen Hämmerchen auf Steinen herum, fünf alte Frauen stapeln rote Ziegelsteine. Viele Menschen hocken einfach nur am Straßenrand und warten möglicherweise auf Anweisungen von ganz oben. Leicht bekleidete junge Männer sitzen auf Gerüsten aus Bambus, manche in schwindelerregender Höhe an gigantischen Betonpfeilern und scheinen die Aussicht zu genießen. Ich frage mich, ob dieser Bus wirklich nach Mamallapuram fährt. Mich beschleicht immer mehr das Gefühl, wir dringen tiefer und tiefer in die Baustelle ein. Der Mann, der die Tickets verkauft, nickt mürrisch, sagt etwas von einem Busbahnhof, den Rest verstehe ich nicht. Ich wende mich dem Fahrgast hinter mir zu, auch er nickt, macht eine...