E-Book, Deutsch, 295 Seiten
Becker Bodenlos – Wer wird die Welt ernähren?
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-89438-917-8
Verlag: PapyRossa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Umbrüche in Agrobusiness und Tierindustrie
E-Book, Deutsch, 295 Seiten
ISBN: 978-3-89438-917-8
Verlag: PapyRossa Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Die ökologische Krise setzt das weltweite Agrarsystem unter Druck. Niederschläge werden unregelmäßiger, Dürre, Stürme und Überflutungen weiten sich aus. Hinzu kommen Artensterben, Bodenverschlechterung und neue Pflanzenkrankheiten – Probleme, zu denen die profit-getriebene Landwirtschaft selbst erheblich beiträgt. Mit ihren Anbaumethoden untergräbt sie ihre eigenen Grundlagen. Agrarwissenschaft und Lebensmittelindustrie experimentieren deshalb mit neuen Produktionsmethoden: mit dem Anbau in Innenräumen, mit gentechnisch veränderten Organismen und einer automatisierten Tierzucht. Aber weder die biotechnische Modernisierung noch die Rückzugsversuche in kleinbäuerliche Nischen bieten einen Ausweg für die Landwirtschaft der Zukunft, in einer heißeren und unbeständigeren Welt. Gibt es Auswege, um die die Welt zu ernähren, ohne sie zu zerstören?
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1.
Auftakt in der Küche
»Ach, das ist doch normal! Ist eben Sommer.« Ganz leutselig sagt er das. Aber mein verkniffenes Gesicht macht ihn misstrauisch. »Du bist keiner von diesen Klimawandel-Typen geworden, oder?« Ich will ihn am Kragen packen und schütteln. Ich will ihn anschreien. Dieser Sommer ist so heiß wie keiner zuvor, seit die Temperaturen aufgezeichnet werden. Die Hitzewellen beginnen ungewöhnlich früh, dauern ungewöhnlich lange und endeten ungewöhnlich spät. Sie erfassen Nordamerika, Asien und Europa gleichzeitig. In den USA gehen manche Landwirte dazu über, ihre Felder nachts zu bearbeiten, weil die Hitze tagsüber unerträglich ist. Bauarbeiter tragen bei der Arbeit im Freien ein Kältepad unterm Schutzhelm. Nein, das alles ist nicht normal. Muss ich ihm das wirklich erklären? Ich bin unsicher, wie ich reagieren soll. Ich könnte das Thema wechseln, um die Auseinandersetzung zu vermeiden. Aber das würde ihm auffallen, so schlau ist er schon. Oder ich könnte ihm einen Vortrag halten, um ihm grundlegende Zusammenhänge des Klimasystems darzulegen. »Alles Panikmache!«, meint er, bevor ich mich entscheiden kann. Er holt sich noch ein Bier aus dem Kühlschrank. Draußen 37 Grad Celsius. Über der Stadt liegt eine Glocke aus Dunst und Staub. Die Kerze auf dem Balkontisch ist angeschmolzen. Hier drinnen in der Küche lässt es sich aushalten, weil: Klimaanlage! Im Sommer letztes Jahr hat er sich einen tragbaren Air Cooler bei Baumarkt gekauft. Das Gerät brummt in seiner schlecht isolierten Mietwohnung im dritten Stock vor sich hin und macht die Stromrechnung teurer. Die Folgen des Klimawandels dringen in unseren Alltag vor. Große Flüsse wie der Rhein sind in den Sommermonaten kaum noch schiffbar, die Wälder ausdörrt. In den Ländern, wo wir Urlaub machen, wird das Wasser rationiert. Im August 2023 mussten zweihundert Kommunen in Südfrankreich mit Tankwagen oder Mineralwasser in Flaschen versorgt werden, weil es an Grundwasser fehlte. Die Veränderungen entsprechen ungefähr dem, was die Klimawissenschaft vorausgesagt hat. Die Folgen für Vegetation und Tiere, Wasserkreisläufe, Boden und Meer übertreffen die schlimmsten Befürchtungen. Und trotz alledem, mein alter Freund will es nicht wahrhaben. Was muss noch passieren, bis er sich dazu durchringen wird? Wenn aus den Leitungen kein sauberes Wasser mehr kommt? Wenn seine Mutter an Dengue-Fieber gestorben ist? Die Zeiten sind vorbei, als die Leute übers Wetter redeten, um nicht über Politik sprechen zu müssen. Die ökologische Frage spaltet Familien und stellt Freundschaften auf die Probe – so wie in dieser Küche. Er empört sich über die Klimakleber. Sie schüren Angst, meint er. Ich finde, wessen Angst immer noch geschürt werden muss, weil er von alleine keine entwickelt, hat einen an der Waffel. Er lehnt staatliche Maßnahmen für Klimaschutz ab. Mir gehen sie nicht weit genug. Er fürchtet sich vor einer Ökodiktatur, ich vor dem Klimachaos. Er kann es nicht mehr hören, ich kann an nichts anderes mehr denken. Nur in einem sind wir uns einig: der andere hat den Kontakt zur Wirklichkeit verloren. Dummerweise kennen wir uns seit Jahrzehnten, noch aus der Schulzeit, viel zusammen erlebt. Wir wollen beide einen Bruch vermeiden. Nennen wir ihn Tobi oder Murat. Oder André. Es ist egal, er wird sich ohnehin wiedererkennen. André, dieses Buch habe ich für dich geschrieben. Lies es gefälligst! Was auf dem Spiel steht Der Klimawandel ist keine wissenschaftlich begründete Erwartung mehr, er wird erfahrbar und spürbar. Aus »Umweltschutz«, nice to have, wird »Menschenschutz«, do or die. Und trotzdem setzt sich die Einsicht nicht durch, dass wir mit aller Kraft gegensteuern müssen. Naomi Klein hat recht, wenn sie schreibt: »Der Klimawandel ändert alles.« Kaum etwas wird so bleiben wie bisher. Nahrungserzeugung und industrielle Produktion, das Staatensystem und der Welthandel, Migration und politische Herrschaft, all das wird neue Formen annehmen. Viele Gewissheiten werden bald überholt sein, einschließlich einige der sogenannten wissenschaftlich belegten. Natürlich, die Gesellschaften werden sich so oder so an die neuen Verhältnisse anpassen, auch wenn die globale Durchschnittstemperatur um 2,5 Grad Celsius oder mehr ansteigt. »So oder so«, das bedeutet allerdings entweder eine Anpassung, bei der Bürgerrechte, Menschenwürde und der Lebensstandard der Bevölkerungsmehrheit einigermaßen gewahrt werden – oder eine Anpassung durch Krieg, Abschottung, Notstandsmaßnahmen und eine weiter wachsende Ungleichheit. »Adaption« bezeichnet Anpassungsmaßnahmen, »Mitigation« das Abmildern, indem weniger Treibhausgase freigesetzt werden oder Kohlenstoff aus der Atmosphäre gebunden wird. Eine fehlgeleitete Adaption sabotiert die Mitigation. Kurzsichtige Reaktionen verschärfen das Problem, so wie das kleine Klimagerät in dieser Küche, das Strom frisst und die Wärme nach draußen schiebt. Oder wie die Unternehmen, die wegen der niedrigen Pegelstände der Flüsse ihre Fracht von Schiffen auf die Straße verlagern. Vieles, was kurzfristig hilft, schadet langfristig, weil es den Treibhauseffekt verstärkt. Viele Anpassungsmaßnahmen helfen (kurzfristig) den einen und schaden den anderen. Wie human und gerecht die Anpassung an die Heißzeit sein wird, hängt davon ab, ob wir Menschen wie André überzeugen können. Das wird nicht einfach. Aber die Zukunft entscheidet sich auch in Küchengesprächen wie diesem, so pathetisch das klingt und so unangenehm es mir in diesem Moment ist. Klimaleugner sind nicht geisteskrank Der innere Widerstand gegen eine Wahrheit ist umso größer, je mehr Angst sie auslöst. Dabei kommt es gerade nicht darauf an, wie groß eine Gefahr ist. Entscheidend ist vielmehr, ob wir uns zutrauen, sie bewältigen zu können. Ein produktiver Umgang mit der Angst benötigt Selbst- und Fremdvertrauen.1 Muss uns da Verleugnung wirklich wundern? Der Klimawandel bedroht die kommenden Generationen – unsere Kinder und deren Kinder –, aber kaum irgendwo kommen Gegenmaßnahmen in Gang. Kaum jemand ist in der Lage, diese monströse Tatsachen wirklich zu begreifen. Noch weniger Menschen können sie in ihre Lebensführung integrieren. In diesem allgemeineren Sinn sind alle »Klimaleugner«, die ihren Alltag weiterführen wie bisher, solange es eben noch geht. Zugegeben, einige bestehen unbedingt darauf, sich eine ausgefallene, aber angenehmere Naturwissenschaft ohne Treibhauseffekt zurechtzubiegen. Die übliche Form der Abwehr der »unbequemsten aller Wahrheiten« (Al Gore) besteht aber nicht darin, sie rundheraus zu bestreiten. Sie besteht in einer nur formellen Anerkennung, während emotionale Bedeutung und persönliche Betroffenheit abgespalten werden. Die Erkenntnis wird nicht konkretisiert, nicht auf die eigene Person und das eigene Leben bezogen. Verdrängung gehört zu unserer Lebensform. Sie stellt sich wohlgemerkt kollektiv her. Verleugnung ist sozial erwünscht, das angepasste Verhalten und in diesem (sozialkonstruktivistischen) Sinn angemessen. Nur übertreiben darf man es nicht, zum Beispiel an einem heißen Sommernachmittag durch die Innenstadt joggen, das ist ungesund. Oder für die Winterferien einen Skiurlaub buchen, das wird teuer und enttäuschend. Ich könnte André einen Vortrag halten, den ich mit dem Hinweis beginne, dass 99 Prozent der wissenschaftlichen Veröffentlichungen den anthropogenen Treibhauseffekt belegen. »Hör auf die Wissenschaft, die weiß es besser!«, rufe ich eindringlich. Nach einem harten Kampf bringe ich ihn dazu, dass er die Wirkung von Kohlenstoffmolekülen in der Erdatmosphäre einräumt. Aber gerade als ich ihn erfolgreich in die Ecke gedrängt habe, weicht er überraschend aus. Er schwenkt um auf radikalen Fatalismus: »Es ist ohnehin zu spät, Alter!« Und was mache ich jetzt? In Wirklichkeit steht nicht der Klimawandel zur Debatte, sondern unsere Reaktionen auf seine Folgen.2 Wer Adaption und Mitigation für aussichtslos hält, wechselt verblüffend schnell von der Relativierung zum Defätismus und wieder zurück. »Da lässt sich nichts mehr machen«, heißt es dann. »Dann sterben wir eben aus!« Ist das glaubwürdig? Es mag Menschen geben, die abgebrüht genug sind, um sich vor den kommenden Katastrophen nicht zu fürchten. Die Angehörigen der verschiedenen Klassen haben unterschiedliche Ängste zu verdrängen und unterschiedliche Möglichkeiten, um sich abzulenken. Wer schon seinen Alltag als Kampf empfindet, kann sich sagen: »Der Klimawandel kommt oder kommt nicht, wer kann das wissen? Wenn es so weit ist, werde ich das Beste daraus machen.« Die Versuchung ist groß, den politischen Gegner auf die psychoanalytische Couch zu legen. Wenn ich das mit André versuche, wird er motzig. Aber vor allem würde bei seiner tiefenpsychologischen Untersuchung nicht mehr herauskommen als bei meiner eigenen. Wir beide haben mit Angst, Hoffnungslosigkeit und Zynismus zu kämpfen. Uns unterscheidet höchstens unser Verhalten. André leidet nicht unter einer mentalen Fehlleistung. Er folgt einer Ideologie. Der späte Neoliberalismus: Zynismus als Norm Fatalerweise gehört Zynismus zu den sich selbsterfüllenden Prophezeiungen. Wenn wir glauben, dass alles zu spät ist, ist es wirklich zu spät. Aber Hoffnung muss begründbar und plausibel sein. Sonst ist sie neurotisch. Worauf (und vor allem: auf wen) sollen wir...