E-Book, Deutsch, 208 Seiten
Beck Auszeit am Baikalsee
1. Auflage 2011
ISBN: 978-3-7688-8334-4
Verlag: Delius Klasing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ein Jahr am Limit
E-Book, Deutsch, 208 Seiten
ISBN: 978-3-7688-8334-4
Verlag: Delius Klasing
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ist weniger mehr? Mit dieser Frage im Gepäck bricht der Autor in die Wildnis Sibiriens auf. Im Selbstversuch testet er, wie man dort fern jeder Zivilisation überleben kann. Spannend und schonungslos erzählt Beck in diesem Reisebericht von seinem Jahr in einer Jurte, in der er sogar den sibirischen Winter mit Extremtemperaturen von 35 Grad minus übersteht. Bis das Eis ihn bei einer Wanderung über den zugefrorenen Baikalsee fast verschlingt.
Von den überall lauernden Gefahren berichtet Beck ebenso wie vom Glück der Stille und von der Faszination, die eine noch unberührte Natur auslösen kann. Ein Jahr am Baikalsee: sibirische Eiswüste, ursprüngliche Natur, ein Ort abseits der Hektik unserer zivilisierten Welt. Das ultimative Buch für Abenteuerlustige und Liebhaber von Extremreisen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
9000 Kilometer immer der Sonne entgegen
»Vier Wochen und keinen Tag mehr«, plustert sich die mollige russische Grenzbeamtin arrogant auf. Ihre dünnen, purpurroten Lippen und der hochmütige Augenaufschlag passen überhaupt nicht zu der viel zu engen Rockuniform. Sie ist stur. Nur 30 Tage Autoeinfuhrgenehmigung will sie erlauben. Wir sind entsetzt und fragen uns: Erreichen wir in dieser Zeit mit unserem schweren Gefährt den Baikal? Was ist bei einer Autopanne oder einem Unfall? »Kann sein, dass Sie eine Genehmigung für ein Jahr in Irkutsk bekommen«, sind ihre letzten abweisenden Worte. Kann sein! Und wenn nicht? Dann müssen wir die 9000 Kilometer wieder zurückfahren. Tolle Aussichten! Da hilft weder ein Hinweis auf die 7000 Kilometer lange marode Straße bis zum Baikalsee noch hartnäckiges Verhandeln. Es nutzt nichts, sich dumm zu stellen. Und auch ein freundlicher Fingerzeig auf unser Einjahresvisum ist verlorene Liebesmühe für die selbstherrliche Beamtin. Vorbei ist die Gemütlichkeit! So wird unsere Fahrt eine Jagd gegen die Zeit. In Russland sehen die Straßen aus wie nach einem Bombenangriff. Trichter reiht sich an Trichter. Erst in letzter Sekunde gibt jeder davon seine wahre Tiefe preis. Wer nicht hellwach und reaktionsschnell wie ein Karnickel Haken schlägt, dessen Rad verschwindet auf Nimmerwiedersehen in tiefen Gruben. Ein Federbruch ist vorprogrammiert. Leichte Fahrzeuge sind auf diesen Straßen von unschätzbarem Vorteil. Die kleinen, wendigen Ladas und Skodas tanzen beschwingt und elegant übers Schlaglochparkett – zwei links, eins rechts, geradeaus, wie graziöse Tänzer. Mein überladener Landcruiser und ich machen dabei eine plumpe Figur. 30 Prozent Übergewicht zerstören jede Eleganz. Das Ortsschild Ufa. Ein Monument aus gewaltigen, in Beton gegossenen Buchstaben erinnert uns an Eric. Ufa ist keine unbekannte Stadt für uns. Denn genau hier stotterte auf unserer 20-monatigen Reise unser Auto und verlangte nach einer Toyotawerkstatt. Dort lernten wir Eric, den Werkstattleiter, kennen. Ein Besuch nach drei Jahren wäre eine Überraschung. Mit einem fröhlichen »Sdrastwutje Herta i Werner«, überrascht er uns. Strahlend stürmt Eric auf Heti zu. Umarmen oder Hand geben? Er ist unsicher. Heti nimmt ihm die Entscheidung ab und drückt ihn fest. Kahl geschorener Schädel, volles Gesicht und runder Bauch, ich erkenne ihn fast nicht wieder. Ihm geht es gut. Er ist überwältigt. Niemals hätte er gedacht, uns wiederzusehen. Unbedingt müssen wir mit ihm nach Hause kommen. Gern sagen wir zu, um dem täglichen Kilometerfressen kurz zu entkommen. Eric nimmt sich frei und manövriert uns durch den Empfangsraum zum Auto. Er fährt voraus mit seinem weißen Toyota Camry – seinem Statussymbol – und stoppt – vor einem klobigen Gebäude. Eric hämmert einen Code in das alte, abgegriffene Zahlenschloss, und der Sesam öffnet sich. Dahinter ein düsteres Treppenhaus mit hallendem Rohbauflair: raue, unbelegte Betontreppen, Aufputzinstallationen, grob verputzte Wände und unzählige überquellende Briefkästen. In jede Wohnung führt eine scheppernde Stahltüre, als wäre dahinter das gesamte Gold von Fort Knox versteckt. Erst nach dieser Sicherheitsschleuse stehen wir vor der eigentlichen Wohnungstür. Erics Frau Nina, blond, schlank und leicht bekleidet, öffnet. Mir stockt der Atem. Ein Hitzeschwall wie beim Betreten der Sauna nimmt mir die Luft. Nach kurzer Akklimatisation erstaunt uns die helle Vierzimmerwohnung. Blumentapeten, dicke Teppichböden und dunkle Möbel erinnern an den Reiz der 1970er-Jahre. Noch mehr erstaunt uns, dass das Schlafzimmer auch als Wohnzimmer genutzt wird, je nach Bedarf. Spitzbübisch zeigt Eric auf eine Falltür. Ein Ruck, und das Geheimnis der begehrten Erdgeschosswohnungen ist gelüftet: ein zwei mal zwei mal zwei Meter großer, kalter, dunkler Vorratskeller. Überlebenswichtig in sozialistischen Zeiten, als Obst und Gemüse gehamstert werden mussten. Heute lagert Eric voller Stolz die Ernte seiner Datscha da unten – ein unschätzbarer Vorteil. Die Saunatemperaturen machen mich unruhig und nervös. Eric und Heti entblößen ihre Oberkörper so weit wie erlaubt und tragen nur noch Unterhemd beziehungsweise ein dünnes T-Shirt. Am besten hat es Nina in ihrer knappen, dünnen Kittelschürze. Nur ich kann nichts mehr ausziehen. Unter meinem dicken Rollkragenhemd vereinen sich Schweißströme zu Wasserfällen. Wie ein balzender Truthahn sitze ich mit hochrotem Kopf auf dem Sofa. Aber wie die Heizung zurückdrehen ohne Regler? Offensichtlich wurde nicht nur im Treppenhaus gespart. Die Fenster ersetzen den Thermostat. Fenster auf – kühl und zugig. Fenster zu – balzender Truthahn! Eric hat Mitleid und lüftet kurz. Das bedeutet für den Rest der Gesellschaft »anziehen«. Nach dem Abendessen gehen wir ins Schlaf-Wohnzimmer zum altersschwachen PC, immerhin mit Internet. Eric ist ein cleveres Bürschchen. Per Download installiert er ein Übersetzungsprogramm Russisch-Deutsch und umgekehrt. Damit werden Fragen und Antworten konkreter. Emotionen bleiben in der Tastatur stecken. Eine seltsame Unterhaltung. Am meisten interessiert sich Eric für unser Sozialsystem, speziell für die Rente. Ab wann bekommen wir Rente und wie viel? Aber ist sie auch sicher? Denn wenn im russischen Staatssäckel Ebbe herrscht, werden die Renten einfach ausgesetzt, und harter Überlebenskampf beginnt. Mit meinem Ein-Finger-Suchsystem tippe ich in den PC, dass sie bisher immer ausbezahlt wurde. Ungläubig schaut er mich an und hämmert schmunzelnd in die Tastatur: »Warum nur hat Stalin Hitler aufgehalten?« Ich lache schallend. Stalin würde sich im Grab umdrehen. Zu früh endet der kurzweilige Abend. Am nächsten Tag arbeiten Nina und Eric wieder, und wir brechen zur größten Ebene dieser Erde auf. Doch vorher müssen wir das Uralgebirge überqueren, das Asien von Europa trennt. Dahinter breitet sich flach wie ein Pfannkuchen und groß wie Australien die sibirische Tiefebene zwischen dem Ural und dem gewaltigen Jenissejfluss aus. Nur Birkenwälder, Sümpfe und Seen. Riesige Wasserläufe auf dem Weg zum Nordpolarmeer durchschneiden die Senke. Und doch ist diese Weite nur ein Teil einer noch viel gewaltigeren Landschaft – der Taiga. Sie vereint die größte zusammenhängende Biomasse unseres blauen Planeten. Der 3000 Kilometer tiefe Waldgürtel übertrifft das Ökosystem des tropischen Regenwaldes und ist somit der größte Sauerstoffproduzent der Schöpfung. Diese grüne Lunge ist so breit wie der amerikanische Kontinent – 5000 Kilometer, immerhin ein Achtel des Erdumfanges. Nur eine Zuglinie und eine nicht durchgehend asphaltierte Straße verbinden Ural und Pazifik. Ganz Sibirien hängt an dieser lebenswichtigen Nabelschnur. Ihr Zustand würde jedem Chef einer deutschen Straßenmeisterei kalten Schweiß auf die Stirne treiben. Kreuzungen sind auf sibirischen Straßen selten. Wohin sollte man in der dünn besiedelten Taiga auch abbiegen? Trotzdem tauchen unerwartet breite Abfahrten auf – geplant für grandiose sozialistische Traumstädte. Doch der Traum endet bereits nach zehn Metern im Sumpf. Die Wirklichkeit führt über tiefspurige Feldwege in kleine, von Moskau vergessene Taigadörfchen. Ohne Infrastruktur leben dort die Bewohner von dem, was die Natur hergibt. Weiter Richtung Osten taut der letzte Schnee und verwandelt die Taiga in Morast. Wir sind Gefangene der Teerstraße und haben jetzt ein Problem, abgelegene, einsame Übernachtungsplätze zu finden! Ein Ausbruch in Wald- oder Feldweg wird sofort bestraft. Die Räder verschwinden bis zu den Achsen in Matsch und Dreck. Ade, ihr romantischen Übernachtungsplätze im Taigawald! Ab sofort ereilt uns das gleiche Schicksal wie die übermüdeten »Sibirian Highway Drivers«: die Stojankas. Diese Übernachtungs-Parkplätze direkt an der Straße stinken, haben meist einen Schotterbelag, sind laut, aber bewacht. Ein sicheres Geschäft, dem jetzt keiner entkommt. Rund um die Uhr ein Kommen und Gehen mit dröhnenden Motoren, quietschenden Bremsen und schlagenden Türen. Singende, später grölende Fahrer rauben uns den Schlaf. Einem Kühllastwagenfahrer sind wir äußerst sympathisch. Er parkt sein Gefährt zehn Zentimeter neben uns und unterhält uns die ganze Nacht mit seinem scheppernden Kühlaggregat. Ich hasse diese Lärmplätze! Mein Stimmungsbarometer steigt erst wieder, als wir morgens abfahren. »Hier stinkt’s!«, Heti zieht die Nase hoch. Beunruhigt frage ich mich: Könnten es die Bremsen sein? Doch alles ist okay. Also weiter! Der Gestank wird immer schlimmer. Nach einem Kilometer sehen wir, was brennt. Es ist die Taiga. Überall knistern die Flammen und über die Wiesen wälzen sich Feuerschwaden. Eine wabernde Rauchwand verschluckt die Straße. Und dahinter? Sollte der Asphalt brennen, explodiert das Auto. Sicherheitshalber halte ich an. Da durchbricht ein Tanklastzug die grauweiße Wand und fährt freundlich winkend an uns vorbei. So schlimm kann es also nicht sein. Während der nächsten...