E-Book, Deutsch, 334 Seiten
Bause Man stirbt doch nicht im dritten Akt!
1. Auflage 2021
ISBN: 978-3-355-50069-2
Verlag: Neues Leben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erinnerungen
E-Book, Deutsch, 334 Seiten
ISBN: 978-3-355-50069-2
Verlag: Neues Leben
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Aus dem Rotschopf ist ein Silberkopf geworden. Das darf auch sein, denn: "Es war alles sehr rastlos, es war alles sehr schnell! Über sechzig Jahre Beruf, und nun bin ich achtzig", schreibt Peter Bause in seinen Erinnerungen. Und schüttet einen prallvollen Sack schönster Theateranekdoten aus, in denen seine Kollegen Herwart Grosse, Martin Hellberg, Dietrich Körner, Klaus Piontek, Ekkehard Schall, Rolf Ludwig auf und hinter der Bühne schier unglaubliche Auftritte haben. Da wird eine glanzvolle Theaterepoche lebendig. Der vielseitige Schauspieler hat in zahllosen Theater- und Filmrollen brilliert, hat große und kleine, komische und tragische Rollen – in einem Spektrum vom "Faust" bis zum "Milchmann Tevje" – gespielt und jede einzigartig und dem Publikum unvergesslich gemacht. "Über mich wurde, je nach Sympathie, böse, neidisch oder achtungsvoll gesagt: Der singt und tanzt als bunter Hund in jedem Hausflur!" Mit viel Humor und klugem Understatement schreibt Peter Bause über sein Schauspielerleben. An einem lässt dieser "bunte Hund" keinen Zweifel: Das Theater ist die Basis für seine vielgestaltige Arbeit, Theater, wie er es von der Pike auf erlernt hat und in das er seine Leser mit temperamentvoll erzählten Geschichten einlädt, die ganze Welt zu schauen!
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Ein Kindheitstraum geht in Erfüllung und endet abrupt »Trude«, rief Onkel Wilhelm mit schon etwas angeschwankter Stimme, »einen Eimer Wasser!« Wenn Onkel Wilhelm diese Forderung ohne ein »bitte« davor oder danach aussprach, dann war es so weit. Und es war immer dasselbe mit denselben Personen, die erst der Tod trennte. Ein Schauspiel, von mir bestaunt in Magdeburg, in der Annastraße 37. Es war auch der sich immer wiederholende Anlass: Weihnachten, Geburtstag meiner Mutter, Geburtstag meiner Oma. Da kamen die Brüder und die Schwester meiner Oma mit der Straßenbahn angefahren aus den Stadtteilen Cracau und Neue Neustadt, die Wohnung füllte sich, man redete, man sang. Man trank die kleinen braunen Schnäpse, manchmal auch in der Farbe Grün, und aß den Blechkuchen, der als Teig am frühen Morgen zum Bäcker Schell gebracht und neben dem Brutofen zum echten Kuchen wurde. Wichtig an diesem Blechkuchen war die schmale Pappe, auf der der Kuchenbesitzername stand. Die Pappe brannte sich meist in den Teig und konnte mitgegessen werden. Die Pappe war wichtig, denn viele Frauen und Kinder brachten ihre Blechkuchen am frühen Morgen zu Schell, und man wollte ja den eigenen wiederbekommen. Es waren die schönen, armen fünfziger Jahre. Vielleicht waren sie auch nicht schön, ich weiß es nicht, denn für ein Kind ist jede Zeit schön. Aber so richtig schön wurde es, wenn Onkel Wilhelm den oben zitierten Satz ausrief. Meine zierliche, echt rothaarige Mutter brachte den Eimer Wasser, und Onkel Wilhelm holte leicht schwankend seine B-Trompete von der Flurgarderobe. Diese Trompete hatte er schon bei der Ankunft bespielt, unten auf dem Hof. Die Mieter schauten aus den Fenstern, und einmal bekam Onkel Wilhelm sogar eingewickelte Münzen zugeworfen. Das verbitterte ihn, denn er war ja kein Straßenmusikant, sondern Stabstrompeter im Ersten Weltkrieg gewesen, Militärmusiker eben. Viel musste er nach Kriegsbeginn nicht mehr blasen, denn ziemlich schnell wurde aus dem Hurra-Krieg ein Stellungskrieg, und Onkel Wilhelm konnte sich schonen. So blieb ihm das Morgensignal, das Achtungssignal, na, was es so gab und schnell abgeblasen war. Bei Gasverdacht musste er nicht blasen, da schlug man hämmernd an eine Eisenschiene. Heinrich, der Mann meiner Oma, also der Vater meiner Mutter, wurde am dritten Kriegstag von einer französischen Granate zerrissen. Aber Onkel Wilhelm saß mit seiner Trompete in einem Stabsquartier in Frankreich und wurde deshalb von Onkel Ernst zutiefst verachtet, denn Onkel Ernst war U-Bootfahrer in diesem Krieg der kaiserlichen Verwandten. Kriegselite also. Onkel Ernst kam aus Aschersleben rüber und erzählte mir immer und immer wieder die Geschichte, wie er wegen Krankheit an Land bleiben musste und genau auf dieser Feindfahrt ohne ihn »sein« Boot vernichtet wurde. Mit offenem Mund stand der kleine, echt rothaarige Peter bewundernd vor ihm. Und gerade als U-Bootfahrer konnte Onkel Ernst der folgenden Darbietung von Onkel Wilhelm nichts abgewinnen, denn jetzt kam »Der Untergang der Titanic«. Bis zu seinem Tode war Onkel Wilhelm fest davon überzeugt, dass die Schiffskapelle dieses Dampfers gespielt hatte »Bis hierher hat uns Gott gebracht in seiner großen Güte …!« Was nachweislich nicht stimmt. Er war aber von seinem Irrglauben nicht abzubringen. Tausend Jahre später habe ich über zweihundert Mal den Schuster Voigt im »Hauptmann von Köpenick« gespielt. Da gibt es die berühmte Gefängnisszene, in der gezeigt wird, wie man in einem Zuchthaus den Tag des Sieges von Sedan feiert. In der Szene, die mit einem Gottesdienst beginnt, wird dieses Lied von Ämelie Juliane Reichsgräfin von Schwarzburg-Rudolstadt gesungen. Und über zweihundert Mal war Onkel Wilhelms Irrtum mit mir auf der Bühne und trompetete im Geiste neben mir. Aber damals, an den Geburts- und anderen Feiertagen, stand er vor dem Wassereimer, begann dieses Lied zu blasen und tauchte dabei seine Trompete in den Eimer. Ich weiß nur noch, dass man die liebliche Melodie nicht mehr hörte. Dafür blubberte es furchterregend. Das Geräusch kannte Onkel Ernst als U-Boot-Matrose ganz genau, und Onkel Wilhelm hatte einen solch leuchtend roten Kopf vor Anstrengung, dass man damit über jede Stromsperre gekommen wäre. Unvergesslich alles! Und wunderschön – in der Erinnerung. Angesichts dieses hehren Musikerbeispiels in der eigenen Familie habe ich versucht, mir die edle Kunst des Trompetens anzueignen. Meine Mutter kaufte in einem dunklen Laden eine nagelneue B-Trompete, und ich ging stolz zum Unterricht. Mein Lehrer war Onkel Wilhelm, und ich scheiterte vollkommen. Onkel Wilhelm konnte mir nicht vermitteln, dass man Töne üben muss, immer wieder, um sie später zu einer Melodie zusammenfügen zu können. Ich hatte einen ziemlich guten Ansatz, wie ich von mir behaupte, aber verwechselte so häufig die drei Ventile, dass der ehemalige Stabstrompeter mir dauernd auf die Finger schlug. Da beendete ich meine Besuche und Versuche, und meine arme Mutter sollte das Ding verkaufen. Das muss ihr gelungen sein, denn ich habe es nie wieder gesehen. Das war mein zweiter Versuch, mich musisch auszudrücken. Ein paar Jahre zuvor scheiterte ich als eleganter Mandolinenspieler. Die Mandoline, als Instrument an sich, war eine Zeitlang ein beliebter und gern gesehener Wegbegleiter. Sie hatte sich in der Wanderbewegung etabliert, und auch ich sah mich wandern. Die Mandoline vor der Brust, die bunten Bänder am Mandolinenhals, Lederhose an … Aber auch dieses harmlose, freundliche Instrument begriff ich nicht, wie Jahre später nicht die drei Ventile der Trompete. Ich begriff es nicht, griff am Hals daneben, meine Mandolinenlehrerin, eine kinderlose ältere Dame, schlug mir auf die Hände – wie Jahre später Onkel Wilhelm –, und ich flehte meine Mutter an, mich von diesem Joch zu befreien. Das tat sie und verscheuerte die Mandoline. Das war wichtig in den schönen, armen fünfziger Jahren, dass man alles wieder verkaufen konnte. Einer fand sich immer, der was brauchte, und ich hätte nie gedacht, dass man das später über das Internet intensiv betreiben kann. Also ich nicht, aber meine Töchter Anna und Maria. Doch, doch wenn ich mich so erinnere, dann war meine Mutter auf der Höhe, trotz ihrer schweren Herzkrankheit. Sie achtete darauf, dass es nicht eingleisig lief, daher die Mandoline, daher die Trompete, daher das Schulanrecht für das Stadttheater und daher die Bücher. Bücher! Das war die Entdeckung meiner Mutter für mich, und damit war ich hochzufrieden. Dafür bin ich meiner Mutter dankbar, die durch die Herzkrankheit keine Arbeit aufnehmen konnte. Sie verkörperte das, was die letzte Position unter Menschen in der schönen DDR war: Invalidenrentnerin. Meine ganze Kindheit war geprägt von Armut, was nicht weiter auffiel, denn es waren alle arm. Außer Herrn Gerboth aus dem Vorderhaus, Parterre. Der machte in Bohnerwachs und trug damals schon einen Ledermantel. Später kam noch ein Opel P4 dazu, und wenn der gewaschen wurde, standen wir Kinder stundenlang daneben und warteten voller Sehnsucht, einmal eine kleine Runde um die Häuser mitgenommen zu werden. Ab und zu wurde der Wunsch erfüllt, es hing davon ab, welcher Knecht von Bohnerwachs-Gerboth am Waschen war. Die Bohnerwachsfamilie zog bald aus der Wohnung in bessere Viertel. Damit verschwand der Glanz von Reichtum aus unserer Straße in Magdeburg. Wir hatten ewig und immer Geldsorgen. Aber meine Mutter hat alles gemeistert, wie fast alle Mütter dieser Zeit. Und darum gehört meine Verehrung und Achtung diesen Frauen. Was haben die alles durchmachen müssen. Neben den täglichen Überlebenssorgen kämpfte meine Mutter vergeblich um die wenigen Alimentezahlungen, die keiner zahlte. Weder mein Erzeuger, der Franz hieß, noch der Erzeuger meiner Schwester Sonja, der ebenfalls Franz hieß. Vorbei alles! Die Bewunderung für meine Mutter bleibt, die dann schon mit sechsundsechzig Jahren gestorben ist. Damals trieb mich die Liebe zu den Büchern in die Stadtbibliothek Magdeburg, genauer gesagt in die Zweigstelle Stadtfeld. Dort wurden Kinder gesucht, die helfend den Damen an der Ausleihe zur Seite standen. Die besprachen mit dem Besucher anhand von Karteikarten seine Buchwünsche, und wenn es ging, wurde der Buchwunsch erfüllt. Ich bekam die Karteibuchkarte und lief nach hinten in das Lager, um das Buch zu holen. Das machte mir Spaß, und ich wünschte immer, dass keine Besucher kommen sollten, damit ich hinten im Lager in aller Ruhe lesen konnte. Später las ich eigentlich nur noch und vergaß durch die Welt der Bücher meine eigentliche Aufgabe. Jedenfalls kommt aus dieser Kinderzeit meine Freude an Büchern und meine Hochachtung allen gegenüber, die was geschrieben haben. Durch die Bücher und durch das Radio wurde die Fantasie ungemein angeregt. Das wird jedem so ergangen sein, aber es kommt ja darauf an, ob man seine Kindheit in sich behält oder schnöde zur Seite legt. Nein, mir gefiel alles, und das Radio lief eigentlich immer. »Bastei« nannte der Kasten sich und hatte das berühmte »Magische Auge«. Das war faszinierend, und aus dem Lautsprecher tönten die schönen, ausgebildeten Stimmen. Wie sie sprachen und sangen, die Nachrichten, die spannenden Übertragungen aus dem Bundestag, die Nachmittagssendungen aus Niedersachsen, die Wasserstandsmeldungen, das war alles so freundlich, so verbindlich, so bedächtig, so klug. Und dann Radio Luxemburg mit Camillo Felgen! Was habe ich diesen Mann und seine Stimme verehrt. Und er konnte so überzeugend seine Werbung machen, dieses »… und da schaue ich wieder auf meine Bifora-Uhr und es ist 16 Uhr 12!« Man musste sich regelrecht zwingen, nicht gleich loszulaufen, um diese Uhr zu kaufen, die es...