E-Book, Deutsch, Band 2008, 200 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
Bauer Reiche Ernte
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-609-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2008, 200 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
ISBN: 978-3-95719-609-5
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Schriftsteller, der für das Schreiben seiner Thriller eine ganz besondere Atmosphäre braucht. Ein KZ-Kommandant, der an seinen Meister gerät. Ein Professor, der die Zeit verändern will - mit schrecklichen Folgen. Ein Ehepaar, das in einem verlassenen Bergwerk verschüttet wird und alles tun würde, um zu überleben. Nichts ist, wie es scheint, in dieser außergewöhnlichen Story-Collection des erfolgreichen Autors. Die sechzehn Erzählungen folgen den nachtschwarzen Fußspuren von Stephen King, Roald Dahl und Ray Bradbury, finden dabei aber mühelos ihren eigenen Weg. Jede der Geschichten nimmt den Leser an der Hand, lotst ihn über vermeintlich sicheren Boden und wiegt ihn in Sicherheit - um ihm dann nach einem letzten, unerwarteten Haken die Füße wegzureißen und allein in der Dunkelheit zurückzulassen. Die Printausgabe umfasst 178 Buchseiten.
Autoren/Hrsg.
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Apokalypse
Ich weiß nicht mehr, wie lange ich hier schon sitze, auf den breiten Stufen des riesigen Gebäudes, gedankenverloren, die Augen geschlossen. Ich spüre den warmen Sommerwind, der meinen Nacken streichelt, mein Haar zerzaust. Versonnen lasse ich meine Finger über die Treppenstufen gleiten, fühle den glatten Marmor, so kühl und unbeeindruckt von den heißen Sonnenstrahlen. Ich höre Straßenlärm, Gesprächsfetzen, aber alles ist gedämpft, verzerrt und unwirklich, wie ein Traum. Ich schlage die Augen auf. Es wird Zeit.
10
Jeder in der Stadt hatte schon von Professor Eisler und seinen Forschungen gehört. Der Professor wohnte in einem Haus in der Albrechtstraße, in einem ruhigen Viertel, dessen Straßen von prächtigen Bäumen und großen, etwas heruntergekommenen Villen gesäumt waren. Eislers Haus fügte sich nahtlos zwischen die seiner Nachbarn ein, mit seinen riesigen Fenstern, seinem von Weinranken bedeckten Ziegelbau, den vielen Giebeln und dem schwarzen Schindeldach. Und doch war da etwas Besonderes, etwas schwer Fassbares, das jeder spüren konnte, der die Hände auf den schmiedeeisernen Zaun legte, welcher das Grundstück umgab, und das Haus betrachtete. Fast schien es, als ob sich das Gebäude hinter den mächtigen Kastanienbäumen und den unzähligen Büschen verstecken wollte. Wenn der Lärm der Aufmärsche aus den übrigen Teilen der Stadt seine Ruhe störte, schien das Haus sich noch mehr zurückzuziehen, und einem zufälligen Beobachter, der sich auf seinem Abendspaziergang befand, mochte es dann erscheinen, als ob ihn durch die Bäume und das dichte Blattwerk hindurch ein resignierter Blick streifte. Wenn der Lärm der Aufmärsche überhandnahm, schien sogar leiser Zorn in diesem Blick zu liegen. Hans Eisler war groß und schlank, hatte dünnes weißes Haar und braune Augen, die in einem schmalen, von tiefen Furchen durchzogenen Gesicht mit dem Feuer der Wissenschaft brannten. Eisler war einer der bedeutendsten Physiker des Landes, der im Laufe seines Lebens eine schier unglaubliche Anzahl von wissenschaftlichen Erfolgen erzielt hatte. Er beschränkte sich dabei nicht nur auf das Gebiet der Physik, sondern nannte zusätzlich einen Doktortitel in Mathematik und Chemie sein eigen. Obwohl viele von Eislers bahnbrechenden Forschungen im In- und Ausland strenges Militärgeheimnis geblieben waren, hatten seine „zivilen“ Entdeckungen dafür gesorgt, dass er regelmäßig im Fernsehen und auf den Titelblättern bedeutender Zeitschriften und Magazine zu sehen war. Auch ich hatte für unseren TV-Sender einmal ein Zitat von ihm verwendet, in dem er sich beunruhigt über die Aufmärsche der Bewegung äußerte. Seine bescheidene, zuweilen spürbar ironische Haltung bei öffentlichen Ehrungen hatte viel zu Eislers Popularität beigetragen. Etwas in dieser Art sagte dem Publikum, dass der Professor sich seiner Bedeutung zwar bewusst war, den damit einhergehenden Ruhm aber nicht allzu ernst nahm. Man spürte instinktiv, dass im Grunde nur seine Arbeit für ihn zählte. Deshalb respektierten ihn die Menschen und sprachen anerkennend über ihn, auch jene, die nur wenig Ahnung von seinen Forschungen hatten. Eisler hatte auch den Verlockungen der Politik mühelos widerstanden, war stets in höflicher Distanz zu den Lobeshymnen geblieben, welche die schnell wechselnden Regierungen über ihn ausgeschüttet hatten. Während einer TV-Diskussion hatte er als abschließende Bemerkung gesagt, dass er den medusenhaften Anforderungen der modernen Politik wohl nicht einen einzigen Tag gewachsen wäre. Der anwesende Politiker hatte das Gesicht verzogen, die anwesenden Zuschauer hatten laut geklatscht. Erst im hohen Alter zog sich der Professor von seiner geliebten Universität zurück. Bei seinem Abschied enthüllte man ein Denkmal des Gelehrten und benannte das riesige, altehrwürdige Gebäude, das seit jeher die naturwissenschaftlichen Fakultäten beherbergt hatte, nach ihm. Diesmal war vonseiten Eislers keine Ironie zu spüren, nur tiefe Dankbarkeit. Dem alten Mann waren Tränen über die Wangen gelaufen, während er sich von seinen Kollegen verabschiedete und der kleinen Menschenmenge zuwinkte, die sich auf dem Vorplatz versammelt hatte. Seitdem lebte er sehr zurückgezogen. Hie und da traf ihn ein Nachbar bei einem seiner seltenen Spaziergänge, wenn Eisler langsam und in Gedanken versunken durch die breiten Straßen ging. Der Professor war immer zuvorkommend und höflich, und doch spürte man die Besorgnis, die ihn umgab, vor allem seit die Bewegung ihre Aufmärsche gesteigert hatte. Die für das Villenviertel zuständigen Streifenbeamten bemerkten auf ihren abendlichen Kontrollfahrten manchmal die Silhouette des alten Wissenschaftlers, die sich bewegungslos in einem der Fenster seines Hauses abzeichnete. Wenn die Polizisten ihm aus dem Auto kurz zuwinkten, hob auch der einsame Schatten die Hand, um sie gleich darauf rasch, wie ertappt, wieder sinken zu lassen.
9
Es war kein Zufall, dass sich unsere Wege eines Tages kreuzten. Alles läuft auf bestimmten Bahnen ab, die jeden zu seiner Bestimmung bringen. Die kleine Buchhandlung lag im ältesten Viertel der Stadt. Es war ein Ort, der vor Atmosphäre schier überbordete, mit seinen verwinkelten, geheimnisvollen Gassen, den schiefen Fenstern und dem abgenutzten Kopfsteinpflaster. Ein Ort, der jeden, der ihn besuchte, zum Träumen einlud; man verlangsamte unwillkürlich seine Schritte, nahm die Stimmung in sich auf und ließ seine Sorgen und Ängste hinter sich, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick. Denn das Viertel war klein, und schnell, viel zu schnell, befand man sich wieder zwischen den schmucklosen Hochhäusern, die diesen magischen Platz zur Gänze einschlossen und verächtlich auf ihn heruntersahen. Wann immer mein Beruf es zuließ – was nicht oft der Fall war, weil ich aufgrund der explosiven politischen Lage immer mehr Beiträge für den Sender drehte –, stöberte ich in der Buchhandlung, die sich in einem jahrhundertealten Laubengang verbarg. Der Besitzer hieß Herzfeld und war ein dicker, alter Mann mit wallendem weißen Haar und gutmütigen Augen. Er kannte mich mittlerweile und freute sich immer, wenn ich wieder einmal seinen Laden betrat. Drinnen, inmitten der rau verputzten, schiefen Wände, die fast zur Gänze von dunkelbraunen Regalen verdeckt waren, war es angenehm kühl. Es roch nach Papier und Staub, nach Holz und Kerzenwachs. Die Bücher waren keine billigen Taschenbücher, sondern kunstvoll gebundene Schönheiten, und ich vergaß nicht selten die Zeit, wenn ich in ihnen blätterte, aber das war es mir wert. Es geschah im August, einem der heißesten, seit es Aufzeichnungen gab. Ich saß in der Redaktion des Senders und langweilte mich. Sogar den treuesten Anhängern der Bewegung schien es zu heiß zu sein, und ihren Gegnern wohl ebenso, denn die Straßen waren ruhig. Mit meinen Beiträgen hatte ich mir die Bewegung nicht gerade zu Freunden gemacht, was zahlreiche Drohanrufe und die eingeschlagenen Fensterscheiben meines Autos bewiesen. Aber das war mir egal, ich besorgte mir eine Geheimnummer und fuhr mit dem Fahrrad. Kontroversen brachten die Leute dazu, unseren Sender einzuschalten, das wiederum brachte dem Sender Geld, und mir auch. Wir hatten also alle etwas davon, dass ich der Bewegung immer wieder auf die Zehen – oder Stiefel – trat. Die Redaktion war still, die meisten Mitarbeiter waren essen gegangen. Ich starrte auf den Ventilator, der auf meinem Schreibtisch stand, hörte das gleichmäßige, einschläfernde Surren. Sollte ich heute früher Schluss machen? Ich konnte es mir leisten, vor allem nach den letzten Wochen, die ich fast ausschließlich im Sender oder auf den Straßen verbracht hatte, um die mittlerweile täglichen Aufmärsche und Gegenaufmärsche zu filmen. Alles war besser, als weiter herumzusitzen und Zeit zu verschwenden. Ich fuhr meinen Computer herunter, verließ die Redaktion. Beim Eingang nickte ich dem Polizisten zu, der das Gebäude bewachte, dann trat ich auf die Straße hinaus. Die Hitze nahm mir den Atem. Alles war grell und staubig, die Hochhäuser flimmerten im stechenden Sonnenlicht. Kraftlos ging ich durch die wie ausgestorbenen wirkenden Straßen. Am westlichen Himmel türmten sich mächtige Gewitterwolken auf, versprachen wenigstens für später Regen und Abkühlung. Ich bog in das alte Viertel ein und fühlte mich sofort besser. Auch hier, in den verwinkelten Gassen, waren kaum Menschen zu sehen. Es herrschte eine gespenstische Stille, nur meine Schritte hallten über das Kopfsteinpflaster und verursachten schattenhafte Bewegungen hinter staubigen Fenstern. Als ich den Laubengang mit der Buchhandlung erreichte und die abgetretenen Stufen hinabstieg, ließ ich wie immer eine Welt hinter mir und betrat eine andere. Was sie heute wohl für mich bereithalten würde?
8
Herzfeld begrüßte mich überschwänglich. „Guten Tag, Herr Wolf, kommen Sie herein, kommen Sie, hier drinnen ist es kühl, besser als da draußen, viel besser.“ „Danke, Herr Herzfeld. Es tut gut, eine Einladung zu hören, die ehrlich gemeint ist.“ Der alte Mann schüttelte betrübt den Kopf. „Ja, es ist schlimm. Die Straßen sind nicht mehr sicher, und Sie, Sie machen sich auch keine Freunde. Man kann nur hoffen ...“ Während er weiter plapperte, schweifte mein Blick durch den Raum, dessen kleine Fenster aus dickem, gerillten Glas nur wenig Tageslicht...