E-Book, Deutsch, 272 Seiten
Bauer Niemandsland zwischen Krieg und Frieden
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7017-4752-8
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Österreich im Jahr 1945
E-Book, Deutsch, 272 Seiten
ISBN: 978-3-7017-4752-8
Verlag: Residenz
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Kurt Bauer geboren 1961 in St. Peter am Kammersberg (Steiermark), gelernter Schriftsetzer, viele Jahre als Producer und Verlagslektor tätig, nebenberuflich Studium der Geschichte an der Universität Wien. Seit 2007 freier Historiker, seit 2019 Mitarbeiter des Ludwig Boltzmann Instituts für Kriegsfolgenforschung, Graz - Wien. Autor zahlreicher bekannter Bücher zur österreichischen Zeitgeschichte, zuletzt 'Hitlers zweiter Putsch' (Residenz Verlag, 2014), 'Die dunklen Jahre' (2017), 'Der Februaraufstand 1934' (2019) und 'Niemandsland zwischen Krieg und Frieden' (2025).
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Mein 45er Jahr
Mein 45er Jahr gibt es nicht. Ich bin Ende März 1961 zur Welt gekommen. Ziemlich genau 16 Jahre nach jenem Tag, als die 3. Ukrainische Front die »Reichsschutzstellung« im Osten überrollt hatte, ins Burgenland und südliche Niederösterreich eingedrungen und unaufhaltsam auf Wien vorgestoßen war. Aber ähnlich wie Walter Kempowskis Echolot sendet mein Bewusstsein Schallwellen auf den dunklen, schlammigen Bodensatz meiner Existenz. Und dieser Bodensatz, das ist eben das ominöse Jahr 1945, das ich nicht erlebt habe, das mir aber trotzdem unheimlich gegenwärtig ist, nah und fern zugleich, längst abgetan und nie überwunden. Jenes Jahr, von dem die Alten so oft, so viel, so eigentümlich gehemmt und erschreckend offen zugleich sprachen.
Was mich betrifft, ist das, was mir damals erzählt wurde, in gewisser Weise Teil meiner selbst geworden, ererbte, auf mich überkommene und von mir letztlich als Erbschaft auch akzeptierte Erinnerung. Aber das mag die Berufskrankheit eines Historikers sein: sich mit Zeitläuften zu solidarisieren, die man zum Glück nicht persönlich erlebt hat.
Das chaotische Durcheinander von Erinnerungssplittern, Anekdoten, Halberinnertem und Halbvergessenem, von Fakten, Mythen und Legenden, das ich mit mir herumtrage, will ich hier nicht ausbreiten. Aber zumindest die Geschichte von den beiden Karls möchte ich erzählen. Der eine, Karl Kankovsky mit Namen, geboren im Jänner 1908, war ein Kind des Roten Wien. Sein Vater Karel, aus Böhmen zugewandert, Schmied von Beruf (wie das Wiener Adressverzeichnis2 von 1927 ausweist), wohnhaft in der Inzersdorfer Straße in Favoriten, dem bevorzugten Wohnquartier der in der Monarchie hunderttausendfach nach Wien übersiedelten Tschechen.3 Der Sohn Karl wurde ebenfalls Metallfacharbeiter, daneben war er ein leidenschaftlicher, talentierter Fußballer, der es immerhin bis in die zweithöchste Liga schaffte. Der phänomenale Ruf des Wiener Fußballs in jenen Tagen (Stichwort: »Wunderteam«) führte dazu, dass Karl Kankovsky mitten in der Wirtschaftskrise der 1930er Jahre als eine Art Halbprofi nach Lille in Nordfrankreich gehen konnte. Das heißt, er arbeitete in einem der dortigen Maschinenbauwerke, war zugleich im Fußballteam des Werks tätig und verdiente, für damalige Begriffe, gutes Geld. Das Katastrophenjahr 1934 verbrachte er in Frankreich, hörte nichts vom Kanonendonner des 12. Februar – von dem er gleichwohl oft sprach –, ging erst einige Jahre später nach Wien zurück. Am 15. März 1938 stand er, der Erz-Rote, jubelnd am Heldenplatz. Er hat das nie verheimlicht. Nicht, weil man Hitler so sehr geliebt habe, sondern weil alle froh gewesen seien, dass es mit der »schwarzen Dollfuß-Schuschnigg-Bande« endlich aus gewesen sei.4 Und weil es Hoffnung gegeben habe, nicht auf Freiheit – das wusste er –, aber immerhin auf Arbeit und Brot, soziale Sicherheit und Lebenschancen.
Im Krieg kam Karl Kankovsky glimpflich davon. Er war ein hochspezialisierter Dreher und damit »u. k.« gestellt, das heißt »unabkömmlich«. Als sich das Ende näherte, wurde er trotzdem zum Volkssturm einberufen, Hitlers letztem Aufgebot. Aber es hätte nicht zu einem Karl Kankovsky gepasst, sich in letzter Minute für nichts und wieder nichts abknallen zu lassen. Er entzog sich dem Einsatz und floh vor dem Eintreffen der Russen aus Wien. (Seine Frau war, wenn ich mich recht erinnere, mit der Tochter schon vorher evakuiert worden.) Mit meinem späteren Wissen frage ich mich, wie Karl den »Kettenhunden« der Feldpolizei entgehen konnte, die in den Flüchtlingskolonnen nach wehrfähigen, gesunden Männern Ausschau hielten, die dem Kriegseinsatz zu entkommen versuchten. Jedenfalls kam er durch.
Das Dorf, in dem er letztlich landete, heißt St. Peter am Kammersberg, malerisch in einem einsamen Seitental des Murtals gelegen, zu Füßen des fast 2500 Meter hohen Greims, der stolz über der Region thront. Er begab sich zum Bürgermeister und bat um Kost und Quartier. Und damit kommt der zweite Karl dieser Geschichte ins Spiel, Karl Gerold, mein Großvater. Der war nämlich zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister hier, also ein Nazi – »aber ein guter Mensch«, wie Karl Kankovsky stets betonte. Karl Gerold fragte nicht lange nach irgendwelchen Papieren, wohl ahnend, dass jener »Weaner« dem Volkssturm entflohen sein musste. Vielmehr brachte er ihn im eigenen und später in anderen Häusern des Ortes unter und versorgte ihn mit den notwendigen Lebensmittelmarken.
Ich muss betonen, dass mein Großvater damit Mut bewies und sich über strikte Befehle hinwegsetzte, denn selbst noch am allerletzten Kriegstag drohte der steirische Gauleiter, »dass vor dem Standgericht angeklagt wird, wer Fahnenflüchtigen und Drückebergern Unterkunft gewährt«.5 Karl Kankovsky wusste, wie die Dinge standen, und war meinem Großvater deshalb lebenslang dankbar für seine couragierte Hilfe.
Die beiden Karls waren gleich alt (geboren jeweils im Jänner 1908). Sonst verband sie nach ihrer Herkunft und Lebensgeschichte wenig. Karl Gerold war der Sohn eines Gutsbeamten (»Sägeplatzmeister«) aus dem obersteirischen Kalwang. Er hatte zuerst selbst in diesem Sägewerk gearbeitet, dann bei seinem älteren Bruder den Kaufmannsberuf erlernt und schließlich 1934 ein Haus samt Gemischtwarenhandlung und angeschlossener kleiner Landwirtschaft am oberen Marktplatz in St. Peter am Kammersberg erworben. Schon am 1. März 1931 war Karl Gerold unter der Nummer 441 537 der NSDAP beigetreten und hatte sich auch nach dem NS-Verbot in Österreich (Mitte 1933) weiterhin als Zellenleiter für die nunmehr illegale Partei betätigt. Im März 1939, ein Jahr nach dem Umbruch, wurde er zum Bürgermeister von St. Peter ernannt, im Oktober 1942 zur Wehrmacht einberufen, allerdings im Mai 1944 wegen eines Herzfehlers entlassen, woraufhin er bis Kriegsende wieder das Bürgermeisteramt übernahm.
Karl Kankovsky blieb den Sommer 1945 über in der Obersteiermark, wo die Ernährungslage hundertmal besser war als in der Stadt. Irgendwann im Frühherbst – vielleicht zu Schulbeginn – kehrte er mit Frau und Tochter zurück nach Wien. Später, in den 1960er Jahren, als meine Großeltern in ihrem Haus neben dem Kaufmannsladen noch eine Fremdenpension einrichteten, kam Karl Kankovsky oft und gerne auf Sommerfrische nach St. Peter, und er kam auch nach dem frühen Tod von Karl Gerold noch viele Jahre – längst ein herzlich aufgenommener guter Freund der Familie.
Eine Geschichte, die ich von Karl Kankovsky habe, versöhnte mich ein wenig mit dem Nazitum meines Großvaters. Ganz zu Ende des Krieges langte ein Befehl des steirischen Gauleiters Uiberreither ein: Die im Ort anwesenden Fremdarbeiter könnten gefährlich werden und seien deshalb – zu erschießen. War ein solches Verbrechen auch nur auszudenken? Karl Gerold begab sich in der Dunkelheit zu den Quartieren der in der Gemeinde tätigen Fremdarbeiter, warnte sie eindringlich und forderte sie auf, in den nächsten Tagen auf der Hut zu sein – für den Fall, dass jemand käme, um sie zu verhaften und abzuführen. Und dergleichen geschah auch nicht, zumindest nicht in St. Peter.6
Wie erging es meinem Großvater nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes? Vorerst scheint das Leben mit seinen Pflichten und Sorgen weitgehend unbehelligt weitergegangen zu sein. Noch im Mai bescheinigte die britische Militärverwaltung dem Gemischtwarenhändler Karl Gerold, sein Motorrad der Marke NSU »for supply« benützen zu dürfen. Ebenfalls im Mai bestätigte ihm das Ernährungsamt des »Aktionsausschusses des ›Freien Österreich‹« in Murau, als »Erfassungsverteiler in Heu und Stroh« beauftragt zu sein, die vorhandenen Lagerbestände zu überwachen.7 Offenbar war die Murauer Widerstandsbewegung8 nicht zimperlich – oder zumindest sehr pragmatisch –, wenn es um ehemalige Nazis ging.
Es muss im Juni 1945 gewesen sein, als ein britisches Militärfahrzeug nach St. Peter kam. Mehrere prominente Nazis des Ortes wurden darauf verladen und weggebracht,9 unter anderem eben auch Karl Gerold. Für meine Mutter, Gretl, damals acht Jahre alt, war das Erlebnis prägend. Oft und oft hat sie es erzählt und schließlich auch aufgeschrieben: »Als ich von der Schule nach Hause ging, kam beim Nachbarhaus der N. N. auf mich zu, lachte, zeigte mit einer Handbewegung quer zu seinem Hals und sagte: ›Das wird deinem Vater jetzt passieren!‹«10
So schlimm kam es nicht. Karl Gerold wurde, wie viele andere, in das britische Anhaltelager Camp 373 in Wolfsberg, Kärnten, gebracht.11 Dort blieb er bis Ende April 1946. Als verhältnismäßig wenig Belasteter landete er danach im Camp 203 in Weißenstein bei Villach. Mitte September 1946 wurde er von den Briten entlassen, anschließend aber noch bis Ende des Jahres zur Arbeit im...