E-Book, Deutsch, Band 2009, 200 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
Bauer Das Tor
1. Auflage 2024
ISBN: 978-3-95719-604-0
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
E-Book, Deutsch, Band 2009, 200 Seiten
Reihe: Phantastische Stories
ISBN: 978-3-95719-604-0
Verlag: Blitz Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Ein Mädchen, das glaubt, den Eingang ins Paradies gefunden zu haben. Ein verzweifelter Schriftsteller, der um jeden Preis nach Inspiration sucht. Ein Scheusal von Rockstar, der alle in seiner Umgebung so behandelt, wie es ihm beliebt - bis das Schicksal eines Tages an die Tür klopft ... Wie schon in Matthias Bauers erster Storysammlung 'Reiche Ernte' führen auch die Kurzgeschichten von 'Das Tor' auf unheimliche Pfade. Immer weiter gehen diese Pfade, tief in die Dunkelheit hinab, um am Ende Überraschungen zu enthüllen, die jeden Leser nach Luft schnappen lassen. Sind Sie bereit, 'Das Tor' zu öffnen? Die Printausgabe des Buches umfasst 170 gedruckte Seiten.
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Das Tor
„Seit dem Schwarzen September ist das Land nicht mehr das gleiche. Wir sind nicht mehr die Gleichen.“ Der alte Mann stampfte mit seinem Stock auf. „Es hätte nie geschehen dürfen!“ Nach diesen Worten rückte er das rot-weiß karierte Kopftuch zurecht, strich sein abgetragenes, bodenlanges Gewand glatt und lehnte sich zurück. Für einen Augenblick herrschte Stille; dann begann der Alte mit den Fingern der linken Hand unruhig auf den Esstisch zu trommeln, der aus grobem Eichenholz gefertigt war. Die neunjährige Saida tauchte den Löffel in die Schale mit dem Obstsalat, der vor ihr auf dem Tisch stand, und aß eine kleine Portion. Anders als ihr traditionsbewusster Großvater trug Saida Jeans und ein T-Shirt. „Es hätte nie geschehen dürfen“, wiederholte der alte Mann. Wenn er nur endlich aufhören würde, dachte Saida. Sie strich sich die dünnen, fettigen Haare aus dem Gesicht und begann schneller zu essen. Saidas Mutter Genna, die die Kichererbsen für den Hummus pürierte, musterte ihren Schwiegervater unwillig. „Bitte, Vater. Lass es gut sein.“ Sie hielt kurz inne, wischte sich den Schweiß von der Stirn, dann fuhr sie mit ihrer Tätigkeit fort. Saida beobachtete ihre Mutter, deren Bewegungen so traumwandlerisch sicher wirkten. Genna hatte wie immer ein einfaches schwarzes Kleid an. Das dunkle Haar war zurückgekämmt, der Silberreifen an ihrem rechten Arm schimmerte im Zwielicht, das in dem alten Ziegelhaus herrschte. In Momenten wie diesen sah Saidas Mutter wie eine Magierin aus, wie aus dem Märchenbuch, welches das Mädchen so liebte. „Du wirst mir nicht sagen, was ich zu tun habe.“ Das von Sonne und Sorgen zerfurchte Gesicht des alten Mannes verzog sich in tausend Runzeln, seine schwarzen Knopfaugen funkelten. „Ihr Kinder habt ja keine Ahnung, was wir durchmachen mussten.“ Der einst kunstvoll geknüpfte, nun aber abgewetzte Makramee-Vorhang, der den Wohnraum vom Eingang abgrenzte, wurde zur Seite geschoben, und Saidas ältere Schwester Rana betrat den Raum. Wieder einmal wurde Saida schmerzhaft bewusst, wie passend der Name ihrer Schwester war. Rana glich wahrlich einer Blume, lieblich und schön, das Haar glänzend schwarz, die Augen braun und samtig, der Körper schlank und doch fraulich. Sie war erst zwölf Jahre alt und konnte bereits alle Jungen des Dorfes nach ihrer Pfeife tanzen lassen, wenn ihr danach war. Rana trug wie ihre Schwester Jeans und T-Shirt, aber an ihr sah es so elegant aus, dass Saida sich wie ein Sack Kartoffeln vorkam. Dieses Gefühl hatte sie immer in Gegenwart ihrer Schwester, und niemand in der Familie hielt es für wert, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Nein, es hieß meistens nur: „Saida, mach schneller. Bemüh dich. Warum kannst du nicht mehr wie Rana sein?“ Die Worte taten Saida weh. Bedeutete ihr Name nicht Die Glückliche, weil sich bei ihrer Geburt die Nabelschnur um ihren Hals gewickelt hatte und sie nur ganz knapp dem Erstickungstod entronnen war? Aber ihr Dasein hatte nichts mit Glück zu tun. Saida liebte ihre Familie aufrichtig und wollte sich aus ganzem Herzen nützlich machen, aber irgendwie gelang es ihr nicht. Irgendwie machte sie immer alles falsch, ob bei der Hausarbeit oder in der Schule. Die bitteren Tränen, die sie darüber in zahllosen Nächten vergoss, blieben unbeachtet, sogar von ihrer Mutter. „Na, Großvater? Erzählst du wieder von früher, von der großen Zeit?“ Rana zwinkerte dem alten Mann keck zu. Dieser lächelte versonnen. „Rana, meine Schöne. Komm her und leiste mir Gesellschaft.“ „Schluss jetzt mit den alten Geschichten. Es gab keine große Zeit, nur sinnloses Sterben. Das müsstest du doch am besten wissen, Vater.“ Gennas Ton war scharf geworden. Saida wusste, worauf ihre Mutter anspielte. Jordanien hatte im sogenannten Schwarzen September im Jahr 1970 die PLO – die Palästinensische Freiheitsorganisation, die gegen Israel kämpfte – aus dem Land geworfen, und für Genna war das auch gut so. Sie war damals noch nicht geboren gewesen, aber ihrer Ansicht nach war die PLO nichts anderes als eine Terrororganisation, die am Gleichen gescheitert war wie alle vor und nach ihr: an Israel. Gegen Israel kam man mit Gewalt nicht an, also musste man sich arrangieren. Und keine Bombe würde daran je etwas ändern, ob sie wie damals von der PLO oder heute von der Hamas gezündet wurde. Das war Gennas feste Überzeugung. Aber der Großvater konnte und würde das niemals akzeptieren. Seine erste Frau war im Sechs-Tage-Krieg gestorben – dem Schmachkrieg, wie ihn der alte Mann immer noch nannte –, in dem die Israelis einen triumphalen Sieg gegen ihre arabischen Feinde gefeiert hatten. Dieser Krieg hatte den jungen Witwer wie so viele Männer seiner Generation zu einem glühenden PLO-Anhänger gemacht, wenn er auch nie in die Organisation eingetreten war. Er blieb weiterhin in der kleinen jordanischen Siedlung am Toten Meer und heiratete ein zweites Mal. Seine Frau schenkte ihm einen Sohn, starb aber bald nach der Geburt. Hasim, der Sohn, entwickelte sich zu einem freundlichen, verantwortungsbewussten Mann, frei von dem Hass, wie ihn sein Vater predigte. Er nahm Genna zur Frau, baute ein Haus und holte den Vater zu sich. Seine zwei Töchter Rana und Saida waren sein ganzer Stolz. Eines Tages weilte Hasim in der Stadt Arad, als eine Bombe der Hamas am Marktplatz explodierte. Sie riss unzählige Menschen in den Tod, darunter auch Hasim. Die Polizei überbrachte seiner Familie die wenigen Habseligkeiten, die er bei sich gehabt hatte. Darunter war auch ein Silberarmband mit der Gravur Für immer und ewig. Die Polizei berichtete der Familie, dass Hasim gerade aus einem kleinen Schmuckgeschäft gekommen war, als die Bombe hochging. Genna begann zu weinen, denn sie wusste, dass Hasim das Geschenk für sie gekauft hatte, anlässlich ihres fünfzehnten Hochzeitstages. Sie streifte das Armband über und beschloss es als Andenken zu tragen, für immer und ewig. Hasims Vater bastelte sich wie gewohnt sein eigenes Weltbild zurecht: Auch am Tod seines Sohnes waren die Israelis schuld. Wenn sie nicht im Nahen Osten wären, müsste die Hamas keine Bomben zünden. Genna, in Trauer, sagte nichts. Aber dann, als der alte Mann nicht aufhörte, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten. Und seitdem beherrschte Streit das kleine Ziegelhaus am Toten Meer. So auch heute. Saida lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte ihre Familie. „Wegen deiner verdammten Hamas ist Hasim tot!“ Das Gesicht der Mutter, rot vor Wut. „Du hast doch keine Ahnung, Weib.“ Das Gesicht des Großvaters, eine Mischung aus Trotz und Herablassung. „Ich glaube, dass Tarik mich mag.“ Das Gesicht der Schwester, kokett und gedankenlos. Saida blickte von einem zum anderen. Die Gesichter verschwammen, die Stimmen verschwammen, und auf einmal hielt sie es nicht mehr aus. Sie stand auf und schlüpfte aus dem Haus, ohne dass einer der anderen es bemerkte.
Tausende Kilometer entfernt drückte Professor Philippe Cavé auf eine Taste seines Laptops und beendete damit die Vorlesung. Das Bild auf der großen Leinwand des Hörsaals fror ein. Es zeigte den Eingang zur Hölle, über dem schmiedeeiserne Worte hingen. Arbeit macht frei. Wieder einmal schüttelte Cavé angesichts von so viel Bösartigkeit und Zynismus innerlich den Kopf, dann trat er vom Pult zurück. Er nahm seine elegante Brille ab, strich sich mit der rechten Hand über sein maßgeschneidertes Sakko und wandte sich seinem Publikum zu. Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz besetzt. In einem zweiten, kleineren Saal, der nebenan lag, verfolgten weitere Studenten die Vorlesung über mehrere Bildschirme. Dies war nicht weiter verwunderlich, zählte Philippe Cavé doch zu den beliebtesten Professoren der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne. Jung, attraktiv und selbstbewusst, verfügte Cavé neben einem messerscharfen Verstand über etwas, das den meisten Akademikern abging – Humor. Dass dieser von der schwärzeren Sorte war, störte keinen der Studenten, im Gegenteil: Was wollte man von einem Historiker erwarten, der sich auf eines der schwärzesten Kapitel der Menschheit spezialisiert hatte? Ohne Humor, diese ultimative Waffe gegen das Grauen, würde man unweigerlich durchdrehen, so der allgemeine Tenor. Cavé blickte ins Publikum. „Fragen?“ Hände schossen in die Höhe. „Sie sagten vorhin, dass wir trotz allem Elend viel Glück gehabt haben. Ist das wirklich Ihr Ernst?“ Die Frage stammte von einer attraktiven Blondine, die Cavé seit Semesterbeginn immer wieder auffiel. „Nach all dem, was Sie uns heute über Auschwitz erzählt haben?“ Ein gepflegter Finger deutete auf die Leinwand. „Interessanter Punkt.“ Cavé strich sich eine widerspenstige Locke aus der Stirn. In letzter Zeit hatten sich erste graue Strähnen in sein dichtes, schwarzes Haar gemischt, aber er war deswegen nicht beunruhigt. Alle Damen im Umkreis betonten, dass es ihn noch attraktiver machte. „Ich glaube nicht unbedingt an das Gute im Menschen, dazu geschieht auf diesem Planeten seit der Ursuppe zu viel Schlechtes, ob auf Schlachtfeldern oder im Schoß der Familie. Aber ich glaube durchaus, auch wenn das für einen Wissenschaftler seltsam klingen mag, an das Glück. Damit meine ich natürlich nicht kleindimensioniertes Glück, wie zum Beispiel das Ihre, schon im ersten Studienabschnitt meine Vorlesungen genießen zu dürfen.“ Die Studenten lachten. „Mesdames et Messieurs, ich rede vom Glück...