Bataille | Die Erotik | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 475 Seiten

Bataille Die Erotik


1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-7518-4530-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

E-Book, Deutsch, 475 Seiten

ISBN: 978-3-7518-4530-4
Verlag: Matthes & Seitz Berlin
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Der Philosoph und Schriftsteller, der die Bordelle von Paris als seine wahren »Kirchen« betrachtete, zählt zu den kühnsten und beunruhigendsten Denkern des 20. Jahrhunderts. Die Erotik, ein erzählerischer Langessay zwischen Anthropologie, Geschichtensammlung und Philosophie, ist der Versuch, in der Auseinandersetzung mit seinen wichtigsten Themen, »aus dem fragmentarischen Charakter« seiner früheren Werke »herauszukommen«. Systematisch verknüpft Bataille die sexuelle Basis der Religion mit dem Tod und bietet ein schillerndes Spektrum an Einblicken in Inzest, Prostitution, Ehe, Mord, Sadismus, Opfer und Gewalt sowie Überlegungen zu Freud, dem Marquis de Sade und der Heiligen Teresa. Überall, so Bataille, ist das Geschlecht von Tabus umgeben, die wir ständig überschreiten müssen, um das Gefühl der Isolation zu überwinden, das in uns allen herrscht. »Der menschliche Geist ist den überraschendsten Ansprüchen ausgesetzt. Unaufhörlich hat er Angst vor sich selbst. Seine erotischen Regungen erschrecken ihn. Die Heilige wendet sich entsetzt vom Wollüstigen ab: Sie weiß nichts von der Einheit, die zwischen seiner uneingestehbaren Leidenschaft und ihrer eigenen besteht.«

Georges Bataille, 1897 in Billom, Puy-de-Dôme geboren, war von 1922 bis 1942 als Bibliothekar an der Bibliothèque nationale tätig, in der er Walter Benjamins Manuskripte versteckte und so vor der Vernichtung rettete. Von Nietzsche und Sade, aber auch von Kojèves Hegel beeinflusst, verfasste er ein in seiner Bandbreite einmaliges Werk. Er starb 1962 in Paris. Ein großer Teil seines Werks ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen.
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EINFÜHRUNG


Abbildung II

Die Erhängung. Zeichnung von André Masson zu Sades Justine, 1928. Unveröffentlicht.

»Der Marquis de Sade [bestimmt] den Mord als einen Gipfel der erotischen Erregung.« (S. 29)

Von der Erotik ist es möglich zu sagen, dass sie die Bejahung des Lebens bis in den Tod ist. Genau genommen ist das keine Definition, aber ich glaube, dass diese Formel den Sinn der Erotik besser ausdrückt als irgendeine andere. Wollte man eine genaue Definition geben, müsste man gewiss von der sexuellen Aktivität zur Fortpflanzung ausgehen, von der die Erotik eine besondere Form darstellt. Die sexuelle Aktivität zur Fortpflanzung ist den geschlechtlich differenzierten Tieren und den Menschen gemeinsam, aber anscheinend haben die Menschen allein ihre sexuelle Aktivität zu einer erotischen Aktivität gemacht: Was die Erotik von der gewöhnlichen sexuellen Aktivität unterscheidet, ist eine vom natürlichen Zweck der Fortpflanzung und der Versorgung der Kinder unabhängige psychologische Suche. Von dieser elementaren Definition komme ich übrigens unmittelbar auf die Formel zurück, die ich zuerst vorgeschlagen habe und nach der die Erotik die Bejahung des Lebens bis in den Tod ist. Denn obwohl die erotische Aktivität zuerst ein Überschwang des Lebens ist, ist dem Gegenstand dieser psychologischen und, wie gesagt, von der Sorge um die Fortpflanzung des Lebens unabhängigen Suche der Tod nicht fremd. Dieses Paradox ist so groß, dass ich ohne Zögern versuchen möchte, durch die folgenden zwei Zitate meiner Behauptung einen Anschein von Begründung zu geben:

»Das Geheimnis ist leider nur allzu gewiss«, bemerkt Sade, »und kein etwas im Laster verwurzelter Libertin, der nicht wüsste, wie groß die Gewalt des Mordes über die Sinne ist …«1

Derselbe schreibt den noch merkwürdigeren Satz:

»Es gibt kein besseres Mittel, sich mit dem Tod vertraut zu machen, als ihn mit dem Gedanken einer Ausschweifung zu verbinden.«2

Ich sprach von dem Anschein einer Begründung. Der Gedanke Sades könnte in der Tat eine Verirrung sein. Auf alle Fälle handelt es sich, selbst wenn es wahr ist, dass die Tendenz, auf die er sich bezieht, in der menschlichen Natur nicht ganz selten vorkommt, um eine verirrte Sinnlichkeit. Dennoch bleibt eine Beziehung zwischen dem Tod und der sexuellen Erregung bestehen. Der Anblick oder die Vorstellung einer Mordtat können, zumindest bei Kranken, das Verlangen nach sexuellem Genuss wecken. Wir können uns nicht mit der Behauptung begnügen, die Krankheit sei die Ursache dieser Beziehung. Ich persönlich räume ein, dass sich in Sades Paradox eine Wahrheit enthüllt. Diese Wahrheit ist nicht auf den Horizont des Lasters beschränkt: Ich glaube sogar, dass sie die Grundlage sein kann für unsere Vorstellungen vom Leben und vom Tod. Schließlich glaube ich, dass wir über das Sein nicht unabhängig von dieser Wahrheit nachdenken können. Das Sein erscheint dem Menschen zumeist als etwas unabhängig von den Regungen der Leidenschaft Gegebenes. Im Gegensatz dazu behaupte ich, dass wir uns das Sein niemals außerhalb dieser Regungen vorstellen dürfen.

Ich bitte zu entschuldigen, dass ich jetzt von einer philosophischen Erwägung ausgehe.

Im Allgemeinen ist es der Fehler der Philosophie, sich vom Leben zu entfernen. Aber ich will Sie sofort beruhigen.3 Die Erwägung, die ich anstelle, bezieht sich sehr eng auf das Leben: Sie bezieht sich auf die sexuelle Aktivität, diesmal im Hinblick auf die Fortpflanzung. Ich sagte, dass die Fortpflanzung der Erotik entgegengesetzt ist; aber wenn es auch richtig ist, die Erotik so zu definieren, dass der erotische Genuss und die Fortpflanzung als Zweck unabhängig voneinander sind, so ist der grundlegende Sinn der Fortpflanzung nichtsdestoweniger der Schlüssel zur Erotik.

Die Fortpflanzung bringt diskontinuierliche Wesen ins Spiel.

Die Wesen, die sich fortpflanzen, sind untereinander verschieden, und die gezeugten Wesen sind untereinander und von jenen verschieden, aus denen sie hervorgegangen sind. Ein jedes Wesen ist von allen anderen verschieden. Seine Geburt, sein Tod und die Ereignisse seines Lebens können für die anderen von Interesse sein, aber unmittelbar ist es nur selbst daran interessiert. Nur es selbst wird geboren. Nur es selbst stirbt. Zwischen dem einen und dem anderen Wesen liegt ein Abgrund, erstreckt sich die Diskontinuität.

Dieser Abgrund befindet sich zum Beispiel zwischen Ihnen, die Sie mir zuhören, und mir, der ich zu Ihnen spreche. Wir versuchen, miteinander zu kommunizieren, aber keine Kommunikation zwischen uns wird die ursprüngliche Differenz beseitigen können. Wenn Sie sterben, dann bin nicht ich es, der stirbt. Sie und ich, wir sind diskontinuierliche Wesen.

Aber sobald ich diesen Abgrund, der uns trennt, in Erinnerung rufe, beschleicht mich das Gefühl einer Lüge. Dieser Abgrund ist tief, ich sehe kein Mittel, ihn zu beseitigen. Doch wir können gemeinsam das Schwindelerregende dieses Abgrunds empfinden. Er kann uns faszinieren. In einem gewissen Sinne ist dieser Abgrund der Tod, und der Tod ist schwindelerregend, er ist faszinierend.

Ich werde jetzt versuchen zu zeigen, dass für uns, die wir diskontinuierliche Wesen sind, der Tod den Sinn der Kontinuität des Seins hat: Die Fortpflanzung führt zur Diskontinuität der Wesen, aber sie bringt ihre Kontinuität ins Spiel, das heißt, sie ist innig mit dem Tod verbunden. Und indem ich von der Fortpflanzung der Wesen und vom Tod spreche, werde ich mich bemühen, die Identität zwischen der Kontinuität der Wesen und dem Tod darzulegen, die beide gleichermaßen faszinierend sind und deren Faszinationskraft die Erotik beherrscht.

Ich spreche von einer elementaren Störung, von dem, was seinem Wesen nach eine grundstürzende Erschütterung ist. Auch wenn die Tatsachen, von denen ich ausgehe, zunächst belanglos erscheinen mögen. Es sind Fakten, die die objektive Wissenschaft feststellt und die sich scheinbar in nichts von anderen Tatsachen unterscheiden, die uns zweifellos betreffen, aber von fern, ohne irgendetwas mit sich zu bringen, was uns intim erregen könnte. Diese augenscheinliche Bedeutungslosigkeit ist trügerisch, doch will ich zunächst in aller Einfachheit davon sprechen, als hätte ich nicht die Absicht, Sie sofort über Ihren Irrtum aufzuklären.

Sie wissen, dass sich die Lebewesen auf zwei Arten fortpflanzen. Die elementaren Wesen kennen eine geschlechtslose Fortpflanzung, aber die komplexeren Wesen pflanzen sich geschlechtlich fort.

In der geschlechtslosen Fortpflanzung teilt sich das einfache, einzellige Wesen, wenn ein bestimmter Grad seines Wachstums erreicht ist. Es bildet zwei Kerne aus, und aus einem Wesen entstehen zwei. Aber wir können nicht sagen, dass das eine Wesen ein zweites hervorgebracht hat. Die zwei neuen Wesen sind gleichermaßen Produkte des ersten. Das erste Wesen ist verschwunden. Im eigentlichen Sinne ist es gestorben, denn es lebt in keinem der beiden Wesen weiter, die es hervorgebracht hat. Es zerfällt nicht in der Art, wie die geschlechtlichen Tiere sterben, aber es hört auf zu sein. Es hört insofern auf zu sein, als es diskontinuierlich war. Zumindest an einem Punkt der Fortpflanzung aber hat es Kontinuität gegeben. Es gibt einen Punkt, an dem das ursprünglich Eine Zwei wird. Sobald zwei vorhanden sind, ist die Diskontinuität jedes der Wesen wiederhergestellt. Aber der Übergang schließt zwischen den beiden einen Augenblick von Kontinuität ein. Das erste stirbt, aber in seinem Tod zeigt sich der fundamentale Augenblick der Kontinuität zweier Wesen.

Dieselbe Kontinuität kann im Tod geschlechtlicher Wesen nicht auftauchen, ihre Fortpflanzung ist grundsätzlich unabhängig vom Todeskampf und von ihrem Verschwinden. Aber die geschlechtliche Fortpflanzung, die im Grunde die gleiche Teilung funktioneller Zellen ins Spiel bringt wie die ungeschlechtliche, fördert eine neue Art des Übergangs von der Diskontinuität zur Kontinuität zutage. Das Spermatozoon und die Eizelle sind im Elementarzustand diskontinuierliche Wesen, aber sie vereinigen sich, und demnach entsteht eine Kontinuität zwischen ihnen, um ein neues Wesen zu bilden, und zwar mit dem Tod, mit dem Verschwinden der getrennten Wesen. Das neue Wesen selbst ist diskontinuierlich, aber es trägt den Übergang zur Kontinuität in sich, die Verschmelzung, die für jedes der beiden verschiedenen Wesen tödlich ist.

Diese Veränderungen scheinen möglicherweise bedeutungslos, bilden aber die Grundlage für alle Lebensformen. Um sie verständlicher zu machen, lege ich Ihnen nahe, sich willkürlich den Übergang des Zustands, in dem Sie sich befinden, zu einer vollkommenen Zweiteilung Ihrer Person vorzustellen, die Sie nicht überleben könnten, da die aus Ihnen hervorgegangenen Doubles sich wesentlich von Ihnen unterscheiden würden. Notwendigerweise wäre keines...


Bataille, Georges
Georges Bataille, 1897 in Billom, Puy-de-Dôme geboren, war von 1922 bis 1942 als Bibliothekar an der Bibliothèque nationale tätig, in der er Walter Benjamins Manuskripte versteckte und so vor der Vernichtung rettete. Von Nietzsche und Sade, aber auch von Kojèves Hegel beeinflusst, verfasste er ein in seiner Bandbreite einmaliges Werk. Er starb 1962 in Paris. Ein großer Teil seines Werks ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen.

Surya, Michel
Michel Surya, 1954 geboren, Schriftsteller und Philosoph, hat neben seiner einschlägigen Biografie zu Georges Bataille (Georges Bataille: la mort à l’œuvre) zwei Romane sowie mehrere Erzählungen und philosophische Essays veröffentlicht. 1987 rief er die Zeitschrift Lignes ins Leben, deren Herausgeber er bis vor Kurzem gewesen ist.

Bergfleth, Gerd
Gerd Bergfleth, geboren 1936 in Dithmarschen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Gräzistik in Kiel, Heidelberg und Tübingen, wo er als freier Schriftsteller und Übersetzer lebte. Seit 1975 war er Herausgeber des theoretischen Werks von Georges Bataille, das er größtenteils auch übersetzte und kommentierte. Er verfasste zudem zahlreiche Aufsätze und Vorträge, die teilweise der »Tübinger Vernunftkritik« zuzuordnen sind und sich u. a. Marx, Nietzsche und Heidegger, Blanchot, Klossowski, Cioran und Baudrillard widmen. Er starb im Januar 2023.

Georges Bataille, 1897 in Billom, Puy-de-Dôme geboren, war von 1922 bis 1942 als Bibliothekar an der Bibliothèque nationale tätig, in der er Walter Benjamins Manuskripte versteckte und so vor der Vernichtung rettete. Von Nietzsche und Sade, aber auch von Kojèves Hegel beeinflusst, verfasste er ein in seiner Bandbreite einmaliges Werk. Er starb 1962 in Paris. Ein großer Teil seines Werks ist bei Matthes & Seitz Berlin erschienen.Gerd Bergfleth, geboren 1936 in Dithmarschen, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Gräzistik in Kiel, Heidelberg und Tübingen, wo er als freier Schriftsteller und Übersetzer lebte. Seit 1975 war er Herausgeber des theoretischen Werks von Georges Bataille, das er größtenteils auch übersetzte und kommentierte. Er verfasste zudem zahlreiche Aufsätze und Vorträge, die teilweise der »Tübinger Vernunftkritik« zuzuordnen sind und sich u. a. Marx, Nietzsche und Heidegger, Blanchot, Klossowski, Cioran und Baudrillard widmen. Er starb im Januar 2023. Michel Surya, 1954 geboren, Schriftsteller und Philosoph, hat neben seiner einschlägigen Biografie zu Georges Bataille ( Georges Bataille: la mort à l’œuvre ) zwei Romane sowie mehrere Erzählungen und philosophische Essays veröffentlicht. 1987 rief er die Zeitschrift  Lignes  ins Leben, deren Herausgeber er bis vor Kurzem gewesen ist.



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