E-Book, Deutsch, Band 4, 272 Seiten
Reihe: Traumafolgestörungen
Den Stand der Traumaverarbeitung erkennen und Behandlungsschritte planen
E-Book, Deutsch, Band 4, 272 Seiten
Reihe: Traumafolgestörungen
ISBN: 978-3-608-12237-4
Verlag: Klett-Cotta
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
- Retraumatisierungen wirkungsvoll verhindern
- Zahlreiche auf die Prozessdynamik abgestimmte Interventionen
- Mit einem Vorwort von Prof. Wolfgang Mertens
Im Zentrum dieses Bandes steht die Gegenübertragung in der Traumatherapie. Auf der Grundlage von psychoanalytischen Konzepten entwickelt die Autorin Methoden, wie die Gegenübertragung dazu genutzt werden kann, den Stand im Trauma-Verarbeitungsprozess zu bestimmen und die therapeutische Beziehung entwicklungsfördernd zu gestalten. Ausgehend von der Integrationsstufe traumatischer Erfahrungen werden konkrete Vorschläge für den Umgang mit der Gegenübertragung aufgezeigt sowie Hinweise für die Behandlungstechnik abgeleitet, mit deren Hilfe traumatisierte Patient:innen bei der Bewältigung ihrer erschütternden Erfahrungen unterstützt werden können.
Ein praxisnaher Leitfaden für alle Psychotherapeut:innen und andere Berufsgruppen, die mit traumatisierten Patient:innen konfrontiert sind.
Zielgruppe
Psychoanalytisch und psychodynamisch arbeitende Psychotherapeut:innen; alle Psychotherapeut:innen und andere Berufsgruppen, die mit traumatisierten Menschen arbeiten
Fachgebiete
Weitere Infos & Material
Einleitung
Dieses Buch ist ein praxisnaher Leitfaden für Psychotherapeutinnen sowie andere Berufsgruppen, die mit traumatisierten Menschen konfrontiert sind. Im Zentrum steht der Umgang mit der Gegenübertragung. Die Gegenübertragung, d. h., alle Gefühle, Einstellungen, Fantasien etc., die unser Gegenüber in uns auslöst, erlaubt Aussagen über die verinnerlichten Beziehungsmuster unserer Patienten. Diese Funktion der Gegenübertragung ist seit dem Aufsatz von Paula Heimann mit dem Titel »On Counter-Transference« (1950) bekannt, der als Schlüsseltext (Furman & Levy 2003) bzw. Klassiker (Langs 2004) der psychoanalytischen Literatur gehandelt wird. Bei traumatisierten Menschen hat sie noch eine weitere Bedeutung: Aufgrund der Gegenübertragung werden Aussagen über den Stand der Traumaverarbeitung möglich. Die Gegenübertragung kann deshalb gezielt dazu genutzt werden, um einerseits die therapeutische Beziehung entwicklungsfördernd zu gestalten, andererseits die Integrationsstufe von Traumata zu bestimmen, um wirksame Interventionen abzuleiten. Um unterschiedliche Manifestationen der Gegenübertragung zu differenzieren, gehe ich von symboltheoretischen Überlegungen aus. Aus symboltheoretischer Sicht geht es bei der Traumaverarbeitung darum, wie ein einst äußeres Geschehen innerseelisch abgebildet wird. Dieser Symbolisierungsprozess durchläuft verschiedene Stufen: Über präsymbolische Ebenen – als Körpersymptome und Handlungen – wird allmählich ein Narrativ der Traumageschichte möglich, das die traumatische Wirklichkeit repräsentiert. Die Verfassung des Therapeuten und damit die Gegenübertragung sind für diesen Prozess zentral, da mittels der Gegenübertragung die erreichte Symbolisierungsstufe der Traumata eines Patienten bestimmt werden kann. In einer vorangehenden Arbeit (Barwinski 2020a) habe ich zwischen sechs Symbolisierungsstufen unterschieden, die im Verlauf einer Traumaverarbeitung durchlaufen und integriert werden müssen. Auf jeder dieser Stufen zeigt sich die Übertragung – und damit auch die Gegenübertragung – unterschiedlich. Mit zunehmender Symbolisierung traumatischer Geschehnisse wird die Affektintensität geringer, die Differenziertheit der Gefühle nimmt zu und der Handlungsdruck zur Wiederholung traumatisierender Beziehungserfahrungen lässt nach. Die Gegenübertragung hat hier also Indikatorfunktion, um die »aktiven Symbolsysteme« (Deserno 2006) des Patienten zu erkennen und die Beziehungsgestaltung und die Behandlungstechnik diesem Niveau anzupassen. Die Gegenübertragung wird jedoch nicht nur durch die erreichte Symbolisierungsebene in der Traumaverarbeitung bestimmt, sondern auch durch die jeweils dominierende Abwehr des Patienten mitgeprägt. In der Gegenübertragung kann eine Therapeutin entweder mit der Abwehr des Patienten identifiziert sein oder abgewehrte Gefühle des Patienten in sich spüren – wie dies z. B. bei der traumatisierenden Übertragung (Holderegger 2012) der Fall ist. Über Inszenierungen, die im Gegenüber abgespaltene Gefühle des Patienten fassbar werden lassen, teilen Traumabetroffene mit, wie sie sich in traumatischen Situationen erlebt haben und was diese Erfahrung für sie bedeutet hat. Hier müssen Therapeuten zuerst selbst einen Umgang mit ihren heftigen Emotionen finden, um sie dann in abgemilderter Form dem Patienten zugänglich zu machen. Am Phänomen der traumatisierenden Übertragung wird deutlich, dass der erste Schritt der Traumaverarbeitung vom Therapeuten geleistet werden muss. Erst dann ist es Patienten möglich, den Zugang zu ihren abgewehrten Gefühlen wiederzugewinnen. Traumaintegration findet also im Rahmen zwischenmenschlicher Beziehungen statt. Die Anwendung von Techniken kann diesen Prozess unterstützen, aber nicht eine tragende, Sicherheit vermittelnde Beziehung ersetzen. Wenn von Traumatherapie die Rede ist, wird leider meist darunter die Anwendung von Techniken verstanden wie IRRT, NET, EMDR, PITT und viele andere mehr. Wie die therapeutische Beziehung gestaltet werden sollte, damit die Verarbeitung traumatischer Geschehnisse möglich wird, wird vernachlässigt. Obwohl durch zahlreiche Studien belegt ist, dass die therapeutische Beziehung als Hauptwirkfaktor für positive Veränderungen in der Therapie betrachtet werden muss, wird in den meisten Studien nach wie vor die Wirkung unterschiedlicher Techniken auf das Therapieergebnis untersucht. Für die Behandlung von traumatisierten Patienten ist sogar belegt, dass traumafokussierte Techniken allein nicht ausreichen, um positive Therapieeffekte zu erklären. Zum Beispiel zeigt eine Studie von Karen Cusack et al. (2016) auf, dass 60 bis 70 % aller PTBS-Patienten von einer traumaspezifischen Therapie nicht profitieren. In Vergleichsstudien gibt es keine signifikanten Unterschiede in der Wirkung zwischen den verschiedenen traumaspezifischen Therapieverfahren (s. hierzu auch Shedler 2018). Trotzdem bleibt der Mythos, dass in einer Traumatherapie die richtige Technik der Schlüssel zum Erfolg der Behandlung sei, nach wie vor unangetastet. Mir ist es ein Anliegen, den Fokus auf die therapeutische Beziehung zu richten und hier den Umgang mit der Gegenübertragung ins Zentrum zu stellen. Damit Stabilisierung und schließlich Traumaintegration möglich wird, sollte die Frage im Vordergrund stehen, welches Beziehungsangebot es braucht, um diese Aufgaben leisten zu können. Hier kann mittels eines bewussten reflexiven Umgangs mit der Gegenübertragung eine entwicklungsfördernde Haltung eingenommen werden und damit der Kreislauf der Wiederholung traumatisierender Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen unterbrochen werden. Neben dem Symbolisierungsniveau und der dominierenden Abwehr muss noch eine weitere Komponente berücksichtigt werden, um unterschiedliche Formen der Gegenübertragung zu verstehen: die inneren Widersprüche und Konflikte, die die Prozessdynamik der Patientin prägen. Um den Einfluss der Gegenübertragung auf die Lösung von Konflikten aufzuzeigen, beziehe ich mich auf das Dialektische Veränderungsmodell von Gottfried Fischer (1989) und dessen Differenzierung aus symboltheoretischer Sicht (Barwinski 2016b, 2020a). Wie in der Psychoanalyse wird im Allgemeinen Dialektischen Veränderungsmodell (ADVM) davon ausgegangen, dass Veränderung über die Lösung von Widersprüchen möglich wird. Um Widersprüche aufzuheben, müssen zunächst neue, positive Erfahrungen in zwischenmenschlichen Beziehungen möglich werden, die die bisherigen pathogenen Beziehungsmuster infrage stellen. Aufgrund dieser korrigierenden Erfahrungen wird es dann möglich, schädigende Verhaltensmuster zu »dekonstruieren«, wie Fischer diesen Vorgang nennt. Neue Erfahrungen werden aber nur dann möglich, wenn die Gegenübertragung bewusst reflektiert wird, um der Wiederholung traumatischer Geschehnisse in der Beziehung zum Patienten gegensteuern zu können. Wenn wir bereits zu Beginn einer Behandlung mögliche Gegenübertragungsprobleme vorwegnehmen können, verhindern wir nicht nur mögliche Retraumatisierungen, sondern fördern den Traumaintegrationsprozess durch die Auflösung von Konflikten mittels einer gezielten beziehungsorientierten Unterstützung unserer Patienten. Ausgehend von symboltheoretischen Überlegungen, psychoanalytischen Konzepten und dem Dialektischen Veränderungsmodell von Gottfried Fischer (1989) werden Methoden vorgestellt, wie die Gegenübertragung genutzt werden kann: Eine systematische Gegenübertragungsanalyse kann als Instrument eingesetzt werden, um die Beziehungsdynamik des Patienten zu verstehen. Die Differenzierung der Gegenübertragung nach Symbolisierungsstufen erlaubt Aussagen über den Stand der Traumaverarbeitung. Auf dieser Grundlage können dem Therapieprozess angepasste Interventionen geplant werden. Mit Methoden, die auf dem Dialektischen Veränderungsmodell und dessen Differenzierung basieren, können aufgrund der Konfliktpolarität des Patienten die »förderliche therapeutische Haltung« abgeleitet werden, um mögliche Gegenübertragungsprobleme vorwegzunehmen und die Wiederholung traumatisierender Beziehungsmuster zu vermeiden. Die genannten Methoden dienten als Grundlage, um konkrete Vorschläge für die Behandlungstechnik abzuleiten. Anhand von Fallbeispielen wird praxisnah aufgezeigt, welche Interventionen bei welcher Prozessdynamik angewendet werden können und sollten. Das vorliegende Buch ist wie folgt aufgebaut: Das erste Kapitel beschäftigt sich mit der Entwicklung des Gegenübertragungsbegriffs. Es wird gezeigt, wie der Begriff immer breiter verwendet wurde. Mit dieser Ausweitung ging eine Betrachtungsweise einher, nach der die Gegenübertragung zunehmend ein interaktives Geschehen darstellt. Im zweiten Kapitel wird die Gegenübertragung aus symboltheoretischer Sicht differenziert. Es werden Ebenen der symbolischen Organisation beschrieben und diesen werden unterschiedliche Ausdrucksformen von Traumata zugeordnet sowie die entsprechende Gegenübertragung. Im dritten Kapitel geht es um die Bedeutung der Abwehr im Prozess der Traumaintegration. Wie die Abwehr die Gegenübertragung prägt, wird illustriert und theoretisch begründet. Im vierten Kapitel steht der Umgang mit Konflikten und Widersprüchen im Vordergrund. Ausgehend vom Dialektischen Veränderungsmodell von Gottfried Fischer (1989) und dessen Differenzierung aus symboltheoretischer Sicht (Barwinski 2016b, 2020a) werden Vorschläge für die Beziehungsgestaltung...