E-Book, Deutsch, 592 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
Barth-Grözinger Beerensommer
16001. Auflage 2016
ISBN: 978-3-492-95027-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 592 Seiten
Reihe: Piper Taschenbuch
ISBN: 978-3-492-95027-5
Verlag: Piper ebooks in Piper Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Inge Barth-Grözinger wurde 1950 in Bad Wildbad im Schwarzwald geboren. Sie unterrichtete bis zu ihrer Pensionierung am Peutinger-Gymnasium in Ellwangen die Fächer Deutsch und Geschichte. Sie veröffentlichte mehrere sehr erfolgreiche Bücher, unter anderem die Schwarzwald-Familiensaga »Beerensommer«.
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1
Anna drückt die Nase fest gegen die Fensterscheibe, immer wieder, bis ein unregelmäßiger kleiner Fettfleck auf der Scheibe zu sehen ist. So hat sie es immer als kleines Mädchen gemacht, bis die Mutter jedes Mal wütend rief: »Anna, was machst du da? Lass den Unfug!« Mamas Stimme! Sie wird sie nie wieder hören. Schnell dreht Anna sich um. Das Wohnzimmer ist in strahlendes Sonnenlicht getaucht. Was für ein Hohn, denkt sie. Die Sonne scheint und Mama liegt begraben unter der dunklen Erde. Wieder spürt sie tief unten in der Kehle das Brennen der Tränen, die sie niederkämpft, den ganzen langen Tag schon. Bloß nicht heulen, denkt sie, nicht heulen, sonst kann ich nicht mehr aufhören. Vielleicht hätte sie doch mitgehen sollen, mit Mamas Freunden, die jetzt in ihrer Lieblingskneipe schräg gegenüber in der Prenzlauer Straße zusammensitzen.
»Willst du wirklich nicht mitkommen?«, hat Pia, Mamas beste Freundin, immer wieder gefragt. »Es ist nicht gut für dich, alleine rumzuhocken.«
Aber Anna hat immer wieder entschieden den Kopf geschüttelt.
»Nee, lass mal. Ich will alleine sein. Das müsst ihr doch verstehen.«
Sie hat verstanden oder es zumindest vorgegeben. Wahrscheinlich sind Pia und die anderen sogar froh, sich nicht mit einer vor Kummer erstarrten Neunzehnjährigen abgeben zu müssen. Was soll man auch sagen … So können sie sich langsam einen antrinken, das Entsetzen darüber wegspülen, dass es eine von ihnen getroffen hat, jetzt schon – »ach, der verfluchte Krebs« –, und sie können sentimental werden und alten Erinnerungen nachhängen.
Es sind schon freundliche Menschen, findet Anna, aber seltsam unbehaust und ruhelos, so als seien sie gar nicht richtig angekommen im Leben. Fast alle sind geschieden und jeder macht irgendetwas, was er eigentlich ursprünglich gar nicht tun wollte. So wie Mama, die Lehrerin geworden ist und doch eigentlich immer von einer Karriere als Journalistin geträumt hat. Oder Pitt, der ein Antiquitätengeschäft hat, in dem nie jemand etwas kauft, oder Pia mit ihrem komischen Service für Kindergeburtstage. Und alle machen immer noch den Eindruck, als sei alles nur vorübergehend, dabei ist ihr Leben doch schon fast vorbei. So jedenfalls kommt es Anna vor.
Von unten dringen die Geräusche aus der Pizzeria herauf. Gianni zieht die Rollläden hoch, um fünf Uhr öffnet er. Sicher würde es gleich klingeln und er würde mit einer Pizza oder einer Extraportion Rigatoni Napoli vor der Tür stehen.
»Du musst essen, mia figlia, sonst macht sich deine Mama Sorgen da oben.« Anna muss unwillkürlich lächeln. Der gute Gianni, er hat vorhin so geweint auf dem Friedhof. Aber essen kann sie jetzt bestimmt nichts. Sie muss etwas tun, irgendetwas, um nicht verrückt zu werden. Ziellos streift sie im Zimmer herum.
Plötzlich, ohne recht zu wissen warum, hockt sie vor der alten, dunkel gebeizten Kommode, die mit den komischen Löwenklauen-Füßchen, und wühlt in den Fächern. Ganz hinten sind die Fotoalben, die ganz alten, die ihr Mama manchmal gezeigt hat, als sie noch ein Kind war. Später wurden sie in die hinterste Ecke verbannt. Mama konnte und wollte sie scheinbar nicht mehr sehen.
»Lass, Kind, ich möchte nicht daran erinnert werden, es war keine schöne Zeit.« Aber Anna hat sie oft heimlich angeschaut, wenn Mama nicht zu Hause war. Letztlich konnte sie wenig anfangen mit diesen alten Schwarz-Weiß-Fotos, auf denen die Personen so unnatürlich und steif posierten. Trotzdem übten die Fotografien immer einen eigentümlichen Zauber auf sie aus. Das kleine Mädchen da, das erkennt sie sofort, das war Mama, und der schlanke, fast hagere Mann ist Mutters Großvater gewesen.
»Dein Uropa«, hat ihr Mama damals erklärt, und als Anna später mehr von ihm wissen wollte, hat sie unwillig das Album zugeklappt und kurz und bestimmt gesagt: »Er war ein komischer Mensch! Ein Spinner, haben die Leute gesagt, hat sich selber und anderen das Leben schwer gemacht. Deine Geburt hat er noch erlebt und sich sehr darüber gefreut. Vier Jahre später ist er gestorben. Schau –« Und sie hat ihr eines der neueren Bilder gezeigt, diesmal ein Farbfoto. Es zeigt diesen Mann, den Urgroßvater. Er hält ein schreiendes Baby auf dem Arm und schaut es seltsam entrückt und fast verklärt an. Anna hätte so gern mehr über diesen Urgroßvater gewusst. Warum ist er ein Spinner gewesen? Und was heißt das: »Sich und anderen das Leben schwer gemacht«?
Und wer sind die anderen auf den Fotos? Die hübsche Frau beispielsweise mit den dunklen Augen, die immer so traurig aussieht? Es gibt noch eine andere, viel ältere, die ihr sehr ähnlich ist, die aber ein ganz altes und eingefallenes Gesicht hat. Auf vielen Bildern ist auch eine junge Frau abgebildet, von der Anna weiß, dass sie ihre Großmutter war, die ebenfalls Anna hieß. Sie sei früh gestorben, hat Mama einmal erzählt, und auch dass Anna ihr sehr ähnlich sehe. Es gibt noch einen Jungen auf einigen wenigen Fotos, den Anna ganz besonders mag. Er ist so hübsch mit seinen dunklen Locken und lächelt immer so freundlich in die Kamera. Seine Augen sind ebenfalls ganz traurig, aber er lacht voller Zuversicht. Anna hat nie ein Bild von ihm als Erwachsenem gefunden.
Allerdings ist sie damals auch noch auf etwas anderes gestoßen, etwas, das ihr Mama auch nie erklärt hat. In eines der Alben ist ganz hinten ein Zeitungsausschnitt gesteckt worden. Er ist ganz vergilbt und die Kanten, an denen er zusammengefaltet gewesen ist, sind brüchig, sodass man dort die Buchstaben nicht mehr erkennen kann. Die Rede ist von einem »der erfolgreichsten Geschäftsmänner im süddeutschen Raum« und dabei steht auch ein Name: Friedrich Weckerlin. Dieser Friedrich Weckerlin ist auch abgebildet und Anna hat das Foto immer wieder interessiert betrachtet. Irgendwie erinnert sie der Mann an den Jungen mit den traurigen Augen und dem hoffnungsfrohen Lachen. Aber als sie die Mutter gefragt hat, warum der Zeitungsausschnitt in einem ihrer Fotoalben steckte und was es mit diesem Friedrich Weckerlin auf sich hatte, hat ihr Mama das Blatt jedes Mal schnell aus der Hand genommen und es wieder ganz hinten in das Album gelegt.
»Ach das«, hat sie gesagt, als handle es sich um eine Sache und keine Person, und hat dabei eine wegwerfende Handbewegung gemacht. Dann hat sie das Album entschieden zugeklappt und nur dies geheimnisvolle »Ach das« ist zurückgeblieben und mit ihm Annas viele Fragen, die nie beantwortet worden sind.
Viel später, beim letzten längeren Krankenhausaufenthalt der Mutter, hat Anna wieder angefangen Fragen zu stellen, als hätte sie geahnt, dass ihr die Zeit davonläuft.
»Komisch, dass es praktisch keine Männer in unserem Leben gibt«, hat sie einmal herausfordernd zu ihrer Mutter gesagt und Marie Helmbrecht, bleich und ausgezehrt vom Krebs und von ständigem Husten geschüttelt, denn die Metastasen hatten sich bereits in der Lunge festgesetzt, hat sich mühsam aufgerichtet und ihre Tochter angeschaut. »Die gibt es schon, aber sie spielen keine Rolle in unserem Leben.«
Daran muss Anna denken, als sie auf dem Boden sitzend und den Kopf gegen die alte Kommode gelehnt die Platanen betrachtet, die vor den hohen Bogenfenstern ihre grün überhauchten Arme ausstrecken. Nein, Mama, da hast du nicht Recht gehabt. Sie seufzt. Für mich spielen sie eine Rolle. Du hast nichts von der Vergangenheit wissen wollen, vor allem nicht, als du die letzten zwei Jahre so verzweifelt um eine Zukunft gekämpft hast. Als dich der Krebs aufgefressen hat, die Krake, die dich erstickt hat. Du hast all deine Kraft für dieses Ungeheuer gebraucht und wolltest dich nicht erinnern. Aber es ist umsonst gewesen und jetzt hast du mich allein gelassen mit all meinen Fragen und ich hab nur diese Fotos mit den Gesichtern, die mir nichts sagen.
Wieder und wieder schluckt Anna die Tränen hinunter. Ich muss es doch auch wegen des Erbes wissen … Das Erbe, also das alte Häuschen dort irgendwo im Schwarzwald, das vom Urgroßvater stammt … So viele Jahre steht es schon leer, aber pünktlich zu Weihnachten ist immer ein Brief nach Berlin gekommen: Krakelige, schiefe Buchstaben auf billigem Papier und die Mutter hat jedes Mal unwillig den Kopf geschüttelt.
»Wie immer Post von der alten Gretl. Was sie mit dem Haus machen sollen, der Holzwurm sei drin! Meinetwegen. Soll doch die alte Hütte eines Tages zusammenfallen. Meinen Fuß setz ich nie wieder da hinein!«
»Warum denn nicht?«, hat Anna damals gefragt. Schließlich sei sie doch darin aufgewachsen.
»Eben«, hat Mama geantwortet. »Und das war schlimm genug, immer der Gestank nach Pisse und Bohnerwachs. Pisse, weil wir ein Plumpsklo hatten, kannst du dir das vorstellen? Nein, Anna, das sind keine schönen Erinnerungen.«
...