Barlach | Seespeck (Klassiker der Moderne) | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 163 Seiten

Barlach Seespeck (Klassiker der Moderne)

Eine Geschichte der Identitätskrise
1. Auflage 2016
ISBN: 978-80-268-6868-2
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Eine Geschichte der Identitätskrise

E-Book, Deutsch, 163 Seiten

ISBN: 978-80-268-6868-2
Verlag: e-artnow
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Dieses eBook: 'Seespeck (Klassiker der Moderne)' ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Ernst Barlach (1870-1938) war ein deutscher Bildhauer, Schriftsteller und Zeichner. Barlach ist besonders bekannt für seine Holzplastiken und Bronzen. Außerdem hinterließ er ein vielgestaltiges druckgraphisches, zeichnerisches und literarisches Werk. Seine künstlerische Handschrift, sowohl in der bildnerischen als auch in der literarischen Arbeit, ist zwischen Realismus und Expressionismus angesiedelt. Aus dem Buch: 'Seespeck wollte auf eine Frage, die er selbst gern gestellt hätte, keine Antwort geben. Er erkundigte sich aber, als sie im Vorraum an der Tür standen, nach dem Zustande des Brennofens, dessen Stirnwand, mit Vertiefungen des Bodens und Luftzuführungen wie ein Fuchsbau anzusehen, von der Leuchte aus dem Dunkel gehoben war. Holk antwortete, und es konnte nicht ausbleiben, daß sie hinzutraten, um Einzelheiten zu untersuchen, als hätte es sich für Seespeck um einen Kauf gehandelt.'

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Kapitel 2
Inhaltsverzeichnis
Seespeck fand sein Zimmer nicht leer, der kleine Sohn seiner Wirtin lag auf dem Teppich und drehte an der Kurbel einer kleinen, elenden Spieldose. Seespeck hatte die Laune, ein Weilchen zuzuhören, ehe er das Kind hinausschickte; seine Gnade galt aber weder der Spieldose noch dem Jungen, sondern er wollte der Wirtin, die ihn erst später erwartet hatte, zur Überwindung ihres Ärgers über den bösen Zustand seines Zimmers, der eigentlich wohl sein Ärger hätte sein müssen, Zeit lassen. Nachdem er ein paar von diesen traurigen und faden Tönen ohne Mitleid mit sich oder dem Spieler angehört hatte, wollte er grade den Rest in irgend einem Winkel seiner Unaufmerksamkeit verschwinden lassen, als er sich eine sonderbare Betroffenheit anmerkte. Es war wie der Duft frischlackierter Spielsachen, aufleuchtende Erinnerungsreste von Kindererlebnissen schossen vorüber ins Dunkle, sinnlose Gruppierungen von allerlei Wesenlosem, Dagewesenem aus einer weit weggeschwommenen Zeit. Und als er aus diesem schwindelnden Augenblick aufwachte, der wirklich nur mit dem Zeitmaß eines einzigen tiefen Atemholens gemessen werden konnte, wußte er sich über eine lange Wegstrecke widerwillig zurück und belauerte mit der geheimen Erwartung die simple Tonfolge des Instruments, daß sie ihm noch einen zweiten, diesmal besser ausgenutzen Fernblick auf etwas, das ihm süßer erschien als alle Erfüllung von Gegenwartswünschen, bescheren würde. Richtig, da kamen die drei Töne wieder, die in ihren Zwischenräumen das ganze Gefühl seiner Jugend in dem Schauer eines einzigen Moments zurückbrachten. Da war ein tief schwingender Ton, eigentlich der Nachhall, das Fortbrummen eines Echos, das über die Jahre her von der Glocke kam, an die beim Klettern im Kirchturm seine Kinderfinger geklopft hatten, ihm folgte, wie hinausgeschoben, erquält, weh wie eine Enttäuschung ein Anflug von einem Aufschwung, der schon beim ersten Flügelschlag ermattet, und endlich ein dritter dazu, der aus Kälte und Wagnis zum warmen, dunklen Grund kleinkindlicher Geborgenheit und Gläubigkeit heimwärts nieder strebt. ›Ach ja‹, dachte er, ›wie sonderbar war das, man hatte damals noch keine Sechslings-Lebenswerte in der Hand, man wußte nichts und ahnte und fühlte alles; damals staken Gespenster hinter den Dingen, und man ging leise, halb furchtsam, halb neugierig daran vorbei und wagte doch nicht, hinter sich zu schauen. Eine zage Musik in einem ahnte etwas vom Leben, das überall in allem wäre.‹ Das alte Vaterhaus hatte ihn angerufen mit einem unendlich leisen Hauch aus unermeßlicher Ferne, aber die leise Erschütterung hatte genügt, sein Herz auszuschütten und unscheinbare Erinnerungen herauszusammeln, voll von der schmerzlichen Lust, mit der man im Traum Tote und Verlorene in schluchzender Seele auferstehen sieht. ›Könnte man doch‹, dachte er unwillkürlich, ›einen Glauben, ja einen Aberglauben haben, an dem man mit solcher Seligkeit hinge!‹ Aber diese seine Entzündung einer verborgen schlafenden Empfindung verzog sich wieder in eine Tiefe, vor deren Türe er in bitterer Erkenntnis seiner Ausgeschlossenheit stehen mußte. Ein Verdruß wie eine rauhe Narbe schnürte sich irgendwo in ihm zusammen. Was nützte es ihm, an etwas zu denken, das sich widerwillig in ihm vor sich selbst verbarg? ›War ich denn einmal etwas Besseres, und will sich dies Bessere nicht mit mir verunreinigen?‹ Morgen sollte er auf sein Büro, da war es schon besser, man betrank sich heute noch einmal, dachte er wütend im Weggehen. Aber als er draußen war, wollte er es doch lieber nicht tun, geriet aber im planlosen Umherschlendern an ein Haus mit Mädchen und trat ein. Da begegnete ihm auf der Treppe eine ganz junge und sehr schöne Person, die ihn anredete, sogar mit Anstand und einer gewissen Bescheidenheit, wie es ihm vorkam. Sie war wirklich schön, und als Seespeck drei Worte mit ihr geredet hatte, schien sie ihm in nichts verändert; er hielt sich mit ihr eine kurze Weile auf der Treppe und wartete mit einer gewissen Ungeduld, um endlich durch ihre Schönheit das andre herausschlagen zu sehen, was doch einmal kommen mußte, wie er genau zu wissen glaubte, diese kleinen Anzeichen in Bewegung und Sprache von der letztlichen Gewöhnlichkeit und Unterschiedlosigkeit, von dem, was Hinz und Kunz auch sind und haben. Aber als es doch auf sich warten ließ, überkam ihn eine Angst wie die Ahnung eines Übelwerdens, er würde es nun doch noch herausfinden, und diese Übelkeit ließ ihn plötzlich forteilen. Sie sah ihm über die Schulter nach, so lange sie ihn, ohne den Hals zu bewegen, im Blickfeld hatte, dann, ehe er noch ganz unten war, entließ ihr Auge ihn von sich wie einen kühlen, grauen, formlosen Schatten. Als Seespeck ziemlich schnell aus der Tür trat und zwischen dem letzten und dem nächsten Schritt nicht wußte, ob es rechts oder links gehen sollte, hatte er rechts die Vision des Bäckers von Moosburg, der seine schlürfenden Elefantenschritte über das spiegelnde Pflaster zog, aber es war wohl nur eine Vision, denn er schob die Vorstellung einer Begegnung in diesem Augenblick voll Ekel so radikal beiseite, als er links abbog, daß nichts in ihm zurückblieb als ein unbeachtetes Sohlengeräusch in seinen Ohren. Er beschloß, zu Eixner zu gehen, mit dem er wohl nicht grade von Herz zu Herz verbunden war; indessen waren sie beide aus dem kleinen Städtchen am Rande der Marsch, und Eixners Mutter, die jetzt sowie auch seine Schwester bei ihm wohnte, war mit Seespecks verstorbenen Eltern auf dem landläufigen guten Bekanntenfuß gestanden, der in der Erinnerung durch die Zeugenschaft eines langen Hergewesenseins und den selbstverständlichen Wert aller gemeinsamen Heimatserinnerungen überhaupt von selbst zu einem zuverlässigen Freundschaftsfuß geworden war. Die alte Frau Eixner pflegte Seespeck immer ein wenig mit Beschlag zu belegen, und er war es wohl zufrieden so, denn mit ihr konnte man bequem ein paar Stunden herumbringen, was von Eixners Gesellschaft oder der seiner Schwester nicht zu sagen war. Eixner war in der Redaktion irgendeiner Zeitung eine wohl nicht mehr als obskure Persönlichkeit, und seine Schwester, die in einem Büro zu tun hatte, dessen Bestimmung Seespeck nicht einmal kannte, war neuerdings mit einer überschwenglichen Freudigkeit, die Seespeck in einer knurrigen Stimmung bei sich Galgenhumor nannte, ans Übersetzen von skandinavischen Schriftstellern gegangen. Übrigens fühlte sich Seespeck an diesem Abend so trostlos einsam, daß er, wie es schon ein paar Male geschehen war, zu dem Gedanken an Eixners Schwester Zuflucht nahm und sich vorstellte, wie sonderbar es sein müßte, wenn er sich vielleicht grade heute abend noch in sie verlieben würde. Ob sie an diesem Fall einen Anteil nehmen würde, darüber spekulierte er schon gar nicht, denn wenn er an solche Sachen dachte, so war es ihm gewissermaßen um dasselbe zu tun, wie einem Zweifler ums Dogma; nur daß er sich in seinen Gedanken verehrend an etwas hängen konnte, war es, was er wünschte. Die Magnetnadel seines Innern war ohne Richtung und quälte sich zwischen allen Himmelsgegenden herum, ohne in irgendeiner zu Hause zu sein, und so war Seespeck bisweilen dringend um einen Strom zu tun, der ihm seinen Norden anwiese. Übrigens bereute er schon auf dieser halberhellten, jämmerlichen Treppe, hergegangen zu sein, und klingelte an der vierten Etagentür mit dem unbestimmten Grauen vor der nächsten Minute, die vielleicht dem Schicksal seines Lebens oder nur dieses Abends irgendeine feste Form bringen würde. Frau Eixner, die ihm öffnete, sagte rasch: »Das ist gut von Ihnen, daß Sie sich heute sehen lassen, mit meinem Sohn ist es gar nicht auszuhalten, er hat wieder seinen Herbstkoller ...« ›O Gott‹, dachte Seespeck, ›ob ich mit meinem eigenen Koller seinen kurieren soll?‹ Übrigens sah er sogleich etwas Besonderes an Frau Eixner. ›Ist es der Fischmund?‹ fragte er sich, ›aber das habe ich ja sonst nie an ihr bemerkt -- oder hat sie Spinnweb in den Augenwinkeln?‹ Er trat näher und wollte erstmal das übliche Papperlapapp von sich geben, als Eixner seine Tür aufriß und ihm den Faden abschnitt, ehe er ihn anspinnen konnte. »Was gibts Neues?« fragte er und machte die Tür hinter Seespeck zu. Es war ein gewaltiges Gerüst, eine stattliche Knochenkonstruktion, über dem Eixners knappes Gewebe harten Fleisches gespannt war, so daß das Ganze an Langbeinigkeit, mächtiger Brust- und Schädelwölbung doch ein bißchen auf Karikatur eines gewissen holsteinischen Typus hinauslief, seine schmalrückige, grade nach unten gestreckte, vorn sehr kantige Nase spielte sich auf wie ein besonderes Stück Wesen, eigenlebendig und herrisch, gleich einem einzigen Führer und verantwortlichen Anstifter des ganzen Menschen. »Was es Neues gibt«, antwortete Seespeck, indem er sich setzte, »hast Du schon mal Umstands-Brautkleider gesehen? Das ist doch die modernste, neueste Errungenschaft der Vorurteilslosigkeit ... wenigstens hab ich so was in einem Modeladen gesehen diese Tage«, fügte er hinzu, denn ihm war nur eine starke Kleiderpuppe aufgefallen, und den Rest hatte seine Phantasie dazugetan. ›Nur nicht den Koller verraten‹, dachte er dabei, ›lieber Blödsinn reden‹, denn Eixner war irgendwelchen vertraulichen Anlässigkeiten aus persönlicher Verstimmung heraus gegenüber stets gnadenlos. Eixner hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und ließ die Fäuste zwischen den Beinen hängen, wie zwei Schaufeln eines riesigen Maulwurfs anzusehen, er hörte nicht zu und sah irgendwo gegen die Wand, als stemmten sich die Blicke dagegen, wie man sich anlehnt, um einmal Ruhe zu haben. »So«, sagte er, »na? und nun?« Seespeck antwortete: »Ja, weiter weiß ich nichts, ich komme übrigens grade heute von der Lüneburger Heide zurück.« »So«,...



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