Bardi | Der Seneca-Effekt | E-Book | sack.de
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E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 1300 mm x 205 mm

Bardi Der Seneca-Effekt

Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-96006-217-2
Verlag: oekom
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection

Warum Systeme kollabieren und wie wir damit umgehen können

E-Book, Deutsch, 320 Seiten, Format (B × H): 1300 mm x 205 mm

ISBN: 978-3-96006-217-2
Verlag: oekom
Format: PDF
Kopierschutz: 0 - No protection



Leben wir in einem Zeitalter, in dem alles kollabiert? Die Finanzmärkte, Europa, die Demokratie? Nichts scheint »heutzutage« mehr sicher. Doch war das früher anders? Sind große Reiche nicht schon immer viel schneller verschwunden als sie errichtet wurden und waren drastische Veränderungen nicht seit jeher eher Ergebnisse von Kipppunkten als von langsamen Prozessen? Ugo Bardi nennt dieses Phänomen den »Seneca Effekt«, weil der römische Gelehrte als erster verstanden hat, dass die Zerstörung gesellschaftlicher und natürlicher Systeme anderen Regeln gehorcht als deren Aufbau. Es ist das viel zitierte Fass, das sich nur langsam füllt, ehe es plötzlich überläuft; die Beobachtung des Ruins, der nur Tage braucht, während viele Leben notwendig sind, um sozialen Status zu erringen; oder der drohende Kollaps des Regenwaldes, der verschwindet, sobald bestimmte Grenzwerte überschritten sind. Wir tun also gut daran, den Kollaps auf der Rechnung zu haben, denn nur so können wir einen guten Umgang mit ihm finden, indem wir Gegenstrategien entwickeln oder uns an das Unvermeidliche anpassen. In einem wahren Parcoursritt durch die Disziplinen ist Bardi dem Kollaps auf der Spur - sowie den Gesetzen, die dahinter stecken.

UGO BARDI lehrt Chemie an der Universität Florenz - seine Freizeit gehört der Suche nach rätselhaften Phänomenen und Geschichten. Besonders angetan hat es ihm der Stoiker Seneca und dessen Erkenntnis, dass es gemeinhin viel schneller bergab als bergauf geht. Darüber hinaus ist er Autor von »Der geplünderte Planet«, einem Bericht an den Club of Rome, und betreibt ein Blog namens Cassandra's Legacy.
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Einführung
Kollaps ist kein Defizit, er ist eine Eigenschaft
»Esset aliquod inbecillitatis nostrae solacium rerumque nostrarum si tam tarde perirent cuncta quam funt:
nunc incrementa lente exeunt, festinatur in damnum.«
»Es wäre ein Trost für unsere schwachen Seelen und unsere Werke, wenn alle Dinge so langsam vergehen würden, wie sie entstehen; aber wie dem so ist, das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft.«
Lucius Anneaus Seneca (4 v. Chr. bis 65 n. Ch.), Epistolarum Moralium ad Lucilius (Briefe an Lucilius, 91, 6)1
Dieses Buch ist einem Phänomen gewidmet, das wir »Kollaps« oder »Zusammenbruch« nennen. Normalerweise denken wir unwillkürlich an Katastrophen, Desaster, Versagen und alle möglichen negativen Auswirkungen. Doch dieses Buch ist kein »Katastrophenbuch«, von denen es heute so viele gibt, und es schildert auch nicht den bevorstehenden, vielleicht unvermeidlichen Untergang. Hier geht es um die Erforschung von Zusammenbrüchen, darum, zu erklären, warum und wie es zu einem Kollaps kommt. Wenn man weiß, was Zusammenbrüche sind, werden sie nicht mehr überraschen und können verhindert werden. Man kann sie möglicherweise bewältigen und sogar zum eigenen Vorteil wenden. Im Universum ist ein Kollaps kein Defizit, sondern eine Eigenschaft.
Abbildung 1
Der »Seneca-Effekt«, dargestellt mit der Methode der »Systemdynamik«. Diese Kurve ist ein allgemeines Modell und beschreibt viele physikalische Phänomene, die langsam anwachsen und schnell wieder zurückgehen.
Wie sich zeigt, können Zusammenbrüche in unterschiedlichster Gestalt und überall auftreten, sie haben die verschiedensten Ursachen und entwickeln sich auf unterschiedliche Weise. Zusammenbrüche können vermeidbar sein oder auch nicht, gefährlich oder nicht, katastrophal oder nicht. Offenbar manifestiert sich in ihnen die Tendenz des Universums, seine Entropie zu erhöhen und zwar so schnell wie möglich – ein Phänomen, das als »maximale Entropieproduktion« (MEP) bezeichnet wird.2
Demnach sind allen Zusammenbrüchen bestimmte Eigenschaften gemeinsam. Es sind stets kollektive Phänomene, das heißt, sie treten nur in sogenannten komplexen Systemen auf, also in Netzstrukturen aus »Knoten«, die durch Verknüpfungen miteinander verbunden sind. Ein Kollaps ist die rasche Umstrukturierung einer großen Zahl solcher Verknüpfungen, unter Umständen auch ihr Zusammenbruch und Verschwinden. Bei allem, was zusammenbricht (Alltagsgegenstände, Türme, Flugzeuge, Ökosysteme, Unternehmen, Imperien und Ähnliches), handelt es sich stets um Netzwerke. Die Knoten können Atome sein und die Verknüpfungen zwischen ihnen chemische Verbindungen. So ist es etwa bei Festkörpern. In manchen Fällen sind die physikalischen Verbindungen zwischen den Elementen künstliche Strukturen und somit ein Studienobjekt für Ingenieure. Und manchmal sind die Knoten Menschen oder gesellschaftliche Gruppen, deren Verbindungen im Internet zu finden sind oder sich in persönlicher Kommunikation manifestieren, vielleicht auch in Wechselkursen. Dies ist das Forschungsgebiet der Sozialwissenschaften, der Ökonomie und der Geschichte.
All diese Systeme haben vieles gemeinsam, vor allem ein nichtlineares Verhalten, das heißt, sie reagieren nicht proportional zur Stärke einer Störung von außen (eines »Antriebs« oder »forcing«, wie es in der Fachsprache heißt). In einem komplexen System besteht keine einfache Beziehung zwischen Ursache und Wirkung. Vielmehr kann ein komplexes System die Folge einer Störung mehrfach vervielfältigen, wie es der Fall ist, wenn man ein Streichholz an einer rauen Fläche reibt. Umgekehrt kann die Störung auch so gedämpft werden, dass das System kaum davon berührt wird. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn man ein brennendes Streichholz in ein Glas Wasser fallen lässt.
Dieses Phänomen der Nichtlinearität einer Reaktion wird oft als »Rückkopplung« bezeichnet, ein sehr wichtiges Charakteristikum komplexer Systeme. Wenn ein System eine Störung von außen verstärkt, spricht man von einer »sich selbst verstärkenden« oder »positiven« Rückkopplung, hingegen von einer »dämpfenden«, »stabilisierenden« oder »negativen« Rückkopplung, wenn das System die Störung eindämmt und größtenteils ignoriert. Wie es heißt, ist bei einem komplexen System immer mit einem »Rückschlag« (»Kick back«) zu rechnen3, manchmal erfolgt so ein Rückschlag überraschend heftig und gelegentlich erscheint er einfach chaotisch.
Die Tendenz komplexer Systeme zum Zusammenbruch lässt sich unter anderem unter dem Aspekt der »Kipppunkte« betrachten. Der Begriff verweist darauf, dass ein Kollaps kein sanfter Übergang ist, sondern eine drastische Veränderung, die das System von einem Zustand in einen anderen überführt, wobei es kurzzeitig einen instabilen Zustand durchläuft. Der Begriff wurde vor allem von Malcolm Gladwell in seinem gleichnamigen Buch (The Tipping Point) von 2009 dargelegt.4
Bei der wissenschaftlichen Untersuchung komplexer Systeme geht der Begriff des Kipppunkts mit dem des »Attraktors« einher. Manchmal ist auch von einem »seltsamen« (»strange«) Attraktor die Rede, ein Begriff, der durch den ersten Teil der Jurassic-Park-Serie Verbreitung fand. Unter einem Attraktor versteht man eine Reihe von Parametern, auf die sich ein System zubewegt. Der Kipppunkt ist systemisch betrachtet das Gegenteil: Der Attraktor zieht das System an, der Kipppunkt stößt es ab. Ein System im Zustand der sogenannten Homöostase »tanzt« gewissermaßen um einen Attraktor, bleibt in seiner Nähe, erreicht ihn aber nicht. Wenn sich das System jedoch vom Attraktor entfernt, etwa aufgrund einer äußeren Störung, kann es den Kipppunkt erreichen und auf die andere Seite, in den Einflussbereich eines anderen Attraktors kippen. In der Physik wird diese drastische Veränderung als »Phasenübergang« bezeichnet; dieser ist der entscheidende Mechanismus des Phänomens, das wir »Kollaps/Zusammenbruch« nennen.
Die Fähigkeit eines Systems, sich auch bei einer starken Störung in der Nähe eines Attraktors und vom Kipppunkt fernzuhalten, bezeichnen wir als Resilienz. Dieser Begriff wird in den verschiedensten Bereichen verwendet, von der Materialwissenschaft bis hin zur Untersuchung sozialer Systeme. Bei näherer Betrachtung stellt man rasch fest, dass es nicht immer positiv ist, so nah wie möglich am Attraktor zu bleiben. Ein starres, unelastisches System kann plötzlich und auf katastrophale Weise zusammenbrechen, beispielsweise ein Glasgefäß, das in Stücke zerbirst.
An dieser Stelle möchte ich an eine alte Weisheit erinnern, die von einem anderen Philosophen stammt, nämlich Laotse. In seinem Buch Taoteking heißt es: »Das Harte und Starre begleitet den Tod. Das Weiche und Schwache begleitet das Leben.« Tatsächlich ist der Seneca-Effekt meist die Folge des Versuchs, sich einer Veränderung zu widersetzen, statt sie anzunehmen. Je mehr Widerstand man gegen eine Veränderung leistet, desto mehr schlägt diese Veränderung zurück und überwindet schließlich diesen Widerstand. Und oft geschieht dies plötzlich. Letztlich ist dies das Ergebnis des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik: Die Entropie nimmt zu.
Es ist kein Zufall, dass Philosophen häufig dazu raten, sich nicht an materielle Dinge zu klammern, die Teil dieser schwierigen und unbeständigen Welt sind. Das ist durchaus ein guter Rat. In der Philosophiegeschichte vertrat die Schule der sogenannten Stoiker als eine der ersten diese Haltung und versuchte, sie in die Praxis umzusetzen. Auch Seneca gehörte zu den Stoikern und sein ganzes Denken ist von dieser Haltung durchdrungen. Der Satz »Das Wachstum schreitet langsam voran, während der Weg zum Ruin schnell verläuft« ist Bestandteil dieser Sichtweise. Im Umgang mit einem Kollaps sollten wir uns deshalb an den Rat Epiktets, eines anderen Lehrers der stoischen Schule, erinnern: »Wir müssen die Dinge, die in unserer Macht stehen, möglichst gut einrichten, alles andere aber so nehmen, wie es kommt.«
Daraus folgt, dass man die »Seneca-Klippe« umgehen oder zumindest die Folgen eines Kollaps abmildern kann, sofern man die Veränderung akzeptiert, statt gegen sie anzugehen. Es bedeutet, dass man niemals versuchen sollte, das System zu etwas zu zwingen, was es nicht tun will. Obwohl eigentlich klar sein müsste, dass man Entropie nicht bekämpfen kann, versuchen es Menschen immer wieder.
Jay Forrester, der Begründer der wissenschaftlichen Disziplin der »Systemdynamik«, brachte diese Neigung schon vor langer Zeit auf den Punkt, als er schrieb: »Jeder ist bemüht, ›das System‹ in die falsche Richtung zu lenken.«5 Die Politik beispielsweise scheint jeden Versuch aufgegeben zu haben, sich Veränderungen anzupassen, und greift stattdessen zu groben, schlagkräftigen Parolen, die eine unmögliche Rückkehr in die frühere Zeit der Prosperität versprechen (etwa »Amerika wieder groß zu machen«). Menschen unternehmen oft enorme Anstrengungen, um Beziehungen zusammenzuhalten, die man lieber ausklingen lassen sollte. In der Technik investiert man viel Energie in die Entwicklung von Methoden, um alte Erfindungen weiter nutzen zu können – zum Beispiel (Privat-)Automobile –, die wir wahrscheinlich besser abschaffen sollten. Auch klammern wir uns hartnäckig an unseren Arbeitsplatz, obwohl wir ihn vielleicht hassen und sogar erkannt haben, dass wir uns einen neuen suchen sollten.
Ganze Zivilisationen erlebten einen Niedergang und verschwanden, weil sie sich nicht an...


UGO BARDI lehrt Chemie an der Universität Florenz – seine Freizeit gehört der Suche nach rätselhaften Phänomenen und Geschichten. Besonders angetan hat es ihm der Stoiker Seneca und dessen Erkenntnis, dass es gemeinhin viel schneller bergab als bergauf geht. Darüber hinaus ist er Autor von 'Der geplünderte Planet', einem Bericht an den Club of Rome, und betreibt ein Blog namens Cassandra’s Legacy.



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