E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Barber Schläfst du noch?
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-20809-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-20809-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit 10 Jahren flieht Josie schon vor ihrer Vergangenheit. Und das aus gutem Grund. In New York ist es ihr endlich gelungen, gemeinsam mit ihrem Freund Caleb Fuß zu fassen und eine Existenz zu gründen. Doch dann taucht eine neugierige Journalistin auf. Sie will um jeden Preis die Geschichte um Josies ermordeten Vater wiederaufrollen. Mit ihrem Podcast bringt sie nicht nur Josies Erinnerungen ans Tageslicht, sondern bedroht auch gleichzeitig ihre heile Welt ...
Kathleen Barber wuchs in Galesburg, Illinois, auf. Sie machte ihren Abschluss an der University of Illinois und der Northwestern University School of Law und arbeitete zuvor bei großen Firmen in Chicago und New York im Bereich Konkursrecht. Wenn sie nicht schreibt, reist Kathleen gerne mit ihrem Mann um die Welt.
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2
Als ich die zweite Folge zu Ende gehört hatte, war es fast fünf Uhr morgens, und ich glaubte nicht, dass ich imstande sein würde zu schlafen, selbst wenn ich gewollt hätte. Mein Kopf war voller Rauschen, und darunter regte sich wie Trommelwirbel ein großer Unmut. Wenn er die Fingerabdrücke bei der Ausführung des Mordes hinterlassen hat, was hat Warren dann im oberen Stockwerk gemacht?
War Warren in jener Nacht im oberen Stockwerk gewesen? Könnte er im Flur gestanden haben, nur wenige Meter von meinem Bett entfernt, mit einer Waffe in der Hand? Es überlief mich kalt. Wenn das stimmen sollte, dann muss er außergewöhnlich leise gewesen sein, um nicht nur der Aufmerksamkeit meines Vaters zu entgehen, sondern auch der meiner Schwester, die ja wach gewesen war.
Wenn er aber die Fingerabdrücke nicht in jener Nacht hinterlassen hatte, musste er es zu einer anderen Zeit getan haben. Warren hatte recht damit, wie selten meine Mutter zu der Zeit das Haus verließ. Ich konnte mich noch gut an den Nachmittag erinnern, von dem er sprach. Wir waren zum Einkaufszentrum gefahren, um ein Geschenk für Tante As Geburtstag zu kaufen. Undeutlich kam mir in den Sinn, wie Mom an dem Abend ihre Schubladen durchwühlte und dabei vor sich hin murmelte. Ich fragte sie, was sie da mache, und sie nuschelte etwas davon, dass sie den Verstand verlöre und Sachen verlege, oder war es andersherum? Unsere Mutter war häufig zerstreut, wenn es um ihre Siebensachen ging. Damals maß ich dem keine Bedeutung bei. Doch was, wenn sie nach dem Medikament oder dem Bargeld suchte, das Warren gestohlen hatte. Und wenn er die Fingerabdrücke im ersten Stock Tage vor dem Mord hinterlassen hatte, war es dann nicht nur logisch, dass auch die im Erdgeschoss daher stammten?
Hör auf, rief ich mich selbst zur Ordnung. Es spielte keine Rolle, wann die Fingerabdrücke entstanden waren. Vielleicht hinterließ er ja noch weitere in der Nacht, als er meinen Vater tötete, oder er hatte sich an dem Abend entschlossen, Handschuhe anzuziehen. Es war nur ein Manöver, um das Augenmerk von dem ausschlaggebenden Beweis abzulenken: dass Lanie gesehen hatte, wie er abdrückte.
Als ich erst einmal von Wiederaufnahme wusste, witterte ich das Thema überall. Jeder, der ein Headset trug, wurde potenziell verdächtigt (oder, je nach meinem momentanen Zustand, gleich überführt), es sich anzuhören. Jeder, der etwas äußerte, das auch nur entfernt nach Buhrman klang, ließ mich innehalten. In der Schlange an der Supermarktkasse hörte ich jemanden wieder aufnehmen sagen und erstarrte sofort. Aber bei einem ängstlichen Blick über meine Schulter entdeckte ich, dass die Begleiterin des Sprechers vehement den Kopf schüttelte und entgegnete: »Ich werde das Thema ganz bestimmt nicht wieder aufnehmen. Dein Zimmernachbar ist ein Barbar, und ich werde ihn nicht mit Denise verkuppeln.«
Tief in meinem Innern wusste ich, dass das Ausmaß meiner Paranoia völlig überzogen war, aber ich konnte das beharrliche Gefühl, dass die Leute mich anstarrten, einfach nicht abschütteln. Ich verließ mein Apartment nur noch, um zur Arbeit zu gehen. Ich ließ mir alle Mahlzeiten nach Hause liefern, und als mir das Toilettenpapier ausging, ließ ich mir auch das kommen, denn in unserem modernen Zeitalter gibt es für alles einen Lieferservice. Ich schlief nicht mehr. Ich blieb die ganze Nacht auf und las alles, was ich über Poppy Parnell und ihren Podcast finden konnte.
Manchmal fragte ich mich, was passieren würde, wenn Caleb aus Afrika zurückkam und von Wiederaufnahme erfuhr. Manchmal bekam ich panische Angst, er könnte bereits davon wissen, zwei und zwei zusammengezählt und begriffen haben, dass ich ihn über meine Vergangenheit angelogen hatte, und er würde nie mehr zu mir zurückkehren. Wir hatten erst einmal miteinander telefoniert, seit ich von dem Podcast wusste, und bei dem unbefriedigenden fünf Minuten langen Gespräch hatten unsere Worte nachgehallt, und die Verzögerungen waren so krass, dass es schon fast zum Lachen war. Kaum der geeignete Moment, einen brandheißen Podcast zu erwähnen, in dem der Mord an meinem Vater aufs Neue untersucht wurde.
Doch der Gedanke an Caleb schmerzte mich noch mehr als der Gedanke an meinen Vater, deshalb verdrängte ich diese Sorge. Alles zu seiner Zeit. Fürs Erste verlangte der Podcast meine ganze Aufmerksamkeit.
Bis zum Freitagnachmittag hatte ich innerhalb von zwei Tagen nur hier und da ein paar Stunden Schlaf gefunden, und die Trennungslinie zwischen Wachen und Schlafen begann sich aufzulösen, bis ich mich in einem einzigen lethargischen Dämmerzustand befand. Bei der Arbeit bemühte ich mich, eine neue Bücherlieferung ins Regal zu stellen, doch mein Gehirn war so träge, dass ich ganze fünf Minuten auf eine Ausgabe von Hundert Jahre Einsamkeit starrte und nicht recht wusste, wie ich Gabriel García Márquez alphabetisch einordnen sollte.
Clara sah meine kümmerlichen Fortschritte eine Weile mit an, bevor sie mir sanft das Buch aus der Hand nahm und fragte: »Bist du okay, Jo? Versteh mich bitte nicht falsch, aber du siehst etwas mitgenommen aus.«
»Ich schlafe zurzeit nicht gut«, gab ich zu und blinzelte.
»Möchtest du vielleicht mal eben rüber zu Starbucks laufen oder so was? Ich halte für dich die Stellung, kein Problem. Ein Kaffee würde dir sicher guttun.«
»Danke«, brachte ich hervor, bevor sich meine Kehle zuzog. »Aber es wird schon wieder.«
Ob es wieder werden würde, musste sich erst noch herausstellen. Der Podcast war allgegenwärtig, selbst in die ehrwürdigen Gänge des Buchladens schlich er sich ein, einen Raum, der normalerweise der Diskussion darüber vorbehalten war, ob kommerzieller Erfolg mit literarischer Leistung gleichzusetzen war, oder der Überlegung, ob Hemingway nun ein Frauenverächter oder ein Menschenverächter gewesen war. Wenn diese Literatur-Snobs sich schon über etwas in den Haaren lagen, was sie im Internet gehört hatten, statt sich gegenseitig mit obskuren literarischen Anspielungen zu überbieten, dann war mein Schicksal besiegelt.
Auf meinem Heimweg zitterte ich vor lauter Schlafmangel und kribbelnder Panik am ganzen Körper. Ich hielt den Kopf gesenkt, da ich sicher war, dass jeder, an dem ich vorüberging, sich Poppys Geschwätz angehört hatte und jetzt alles über meine schmerzliche Vergangenheit wusste. Vor Jahren schon hatte ich eine offizielle Namensänderung beantragt und Josephine Buhrman hinter mir gelassen, aber das war nur eine Formalität und würde mir wenig nützen, wenn die Fans des Podcasts erst mit der Bildersuche begonnen hatten. Jetzt, wo das Gesicht meines Vaters auf der Wiederaufnahme-Webseite ihr Interesse geweckt hatte, wie lange würde es da wohl dauern, bis sie nach Fotos von uns allen googelten? Was, wenn sie damit schon angefangen hatten? War es naiv von mir gewesen, mir einzureden, ein Podcast wäre nichts weiter als modernes Radio, einfach nur Worte, die durch den Raum schwirrten? Er existierte im Internet, gleich neben Google Images, ein gefundenes Fressen für begeisterte Web-Detektive.
Ich machte beim Weinladen Halt, stellte die Flasche, die ich eigentlich kaufen wollte, aber gleich wieder zurück, als ein Mädchen sich hinter mich in die Schlange einreihte und sofort anfing auf ihrem Handy herumzutippen. Mich überfiel der Verdacht, dass sie womöglich wusste, wer ich war, und obwohl mir klar war, dass ich mich vollkommen verrückt verhielt, rannte ich aus dem Laden. Zurück auf der Straße, fiel mein Blick auf das bemalte Fenster eines Friseursalons, dem ich vorher gar keine Beachtung geschenkt hatte, und ich flüchtete mich hinein.
»Ich möchte mir die Haare schneiden lassen«, verkündete ich, und meine Stimme kam mir selber viel zu laut vor. Die junge Frau am Empfang musterte mich unbehaglich. Mir war bewusst, dass ich meine Stimme senken und die Schärfe aus meinem Tonfall nehmen sollte, doch dazu schien ich außerstande zu sein. Ich setzte sogar noch eins drauf, beugte mich vor und sagte: »Sofort.«
»Gut«, erwiderte sie mit einer so zaghaften Stimme, als würde ich ihr eine Pistole unter die Nase halten. »Ich seh mal nach, ob jemand frei ist.«
Sie erhob sich vorsichtig von ihrem Tisch und ging in den hinteren Teil des Salons. Dabei schaute sie mit offenkundigem Misstrauen zweimal über ihre Schulter zu mir zurück. Sie beratschlagte sich im Flüsterton mit den dort versammelten drei schwarzgekleideten Friseurinnen, bevor eine von ihnen, eine spindeldürre Platinblonde, die Achseln zuckte und mit klimpernden Armreifen vortrat.
»Ich bin Axl«, sagte sie. »Ich bin gerade frei.«
Ich fühlte mich jäh zurückversetzt an einen nieseligen Mainachmittag vor fast zehn Jahren. Damals hatte ich in einem Discount-Friseursalon in London ebenfalls in so einem Sessel gesessen. Schneiden Sie’s ab, hatte ich mit einer Stimme gesagt, von der ich hoffte, dass sie beherzt klang. Einfach runter damit. Die Friseurin hatte einen Blick auf meine roten, verquollenen Augen und das mehrere Tage alte, verkrustete Make-up auf meinem Gesicht geworfen und den Kopf geschüttelt. Ich glaube nicht, dass Sie in der richtigen Verfassung sind, irgendwelche drastischen Entscheidungen über diese wunderschönen Haare zu treffen, Schätzchen, hatte sie gesagt. Wie wär’s, wenn ich Ihnen stattdessen nur mal hübsch die Spitzen schneide? Sie ein bisschen aufpeppe? Da mir die Energie fehlte, mich ihr zu widersetzen, hatte ich nur brav genickt und war als wesentlich gepflegtere Version der gleichen Frau wieder...