Buch, Deutsch, 288 Seiten, GB, Format (B × H): 142 mm x 211 mm, Gewicht: 421 g
Lobpreis und Anbetung in der Gemeinde
Buch, Deutsch, 288 Seiten, GB, Format (B × H): 142 mm x 211 mm, Gewicht: 421 g
ISBN: 978-3-86827-476-9
Verlag: Francke-Buch GmbH
„Anbetung ist ein Weg unseres Herzens zu Gott und Gottes Weg zu unseren Herzen“ – so formulierten es bereits die Kirchenväter. Lobpreis und Anbetung sind heute für viele Gemeinden ein wichtiger Teil ihres Gottesdienstes. Aber es gibt auch viel Unsicherheit: Wie müssen sich unsere Gottesdienste verändern, damit mehr Raum ist für eine Begegnung mit Gott? Wie gelingt ein gutes Miteinander der Generationen und Musikstile? Welche Aufgabe hat eigentlich ein Anbetungsleiter? Und wie wird aus unseren Liedern mehr als nur ein Lied?
Ein Buch für Gemeinden, die auf der Suche sind nach neuen Wegen, Gott anzubeten. Aber auch für Skeptiker, die wissen wollen, ob wirklich mehr dahinter steckt als nur ein paar neue Lieder. Und ein Buch für Anbetungsleiter, die Menschen mitnehmen möchten auf diesem Weg zu Gottes Herz.
Zielgruppe
Verantwortliche in Gemeinden, Lobpreisleiter und ihre Teams
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Von der Enge in die Weite:
Die Vielfalt der Anbetung
Die erste Herausforderung für Gemeinden und Anbetungsleiter besteht darin, dass wir unsere Vorstellung von dem, was „Anbetung“ eigentlich ist, erweitern müssen. Zu oft bleiben wir bei dem stehen, was wir kennen. Was wir gesehen und erlebt haben und was uns vertraut ist. Und dann versuchen wir, das möglichst gut oder sogar perfekt nachzumachen. Oder aber wir wenden uns enttäuscht und gelangweilt von dem ab, was wir als „Anbetung“ kennen, weil es uns zu gewöhnlich und zu vertraut erscheint.
Aber was wäre, wenn das, was wir kennen, noch gar nicht alles ist? Was wäre, wenn unser Bild von „Anbetung“ noch viel zu begrenzt und eingeschränkt ist? Wenn da noch vieles hinter dem Horizont läge, was wir bisher nicht entdeckt haben? Und wenn die Abneigung oder auch Langeweile und Ermüdung, die sich bei manchen eingestellt hat, wenn es um das Thema „Anbetung“ geht, in Wirklichkeit daher kommt, dass wir noch gar nicht richtig angefangen haben, das unbekannte Land der Anbetung zu entdecken?
In diesem ersten Kapitel möchte ich einige Missverständnisse ansprechen, die mir oft begegnen, wenn es um das Thema Anbetung geht. Missverständnisse, die sich bei Fans und Kritikern in gleicher Weise finden. Missverständnisse, die unseren Blick oft unnötig einengen. Und ich möchte versuchen, den Blick zu öffnen für ein weiteres, vielfältigeres und ganzheitlicheres Verständnis von Anbetung.
Anbetung – mehr als „Lieder singen“?
Ein erstes Missverständnis, das mir oft begegnet, könnte man so zusammenfassen: Anbetung ist, wenn man Lieder singt. Oder etwas genauer: Anbetung ist, wenn man eine bestimmte Sorte von Liedern singt. Also zum Beispiel Lieder auf einer Leinwand statt aus einem Liederbuch. Lieder mit Band statt Lieder zur Orgel. Oder Popmusik statt Choral. Dieses Missverständnis findet sich bei den Anbetungsfans ebenso wie bei den Anbetungsskeptikern.
Die Fans sagen: „Wir machen jetzt in unserer Gemeinde endlich auch mehr Lobpreis!“, und sie meinen damit: Wir singen jetzt andere Lieder als früher. Auf Freizeiten und Konferenzen hört man am Rande immer öfter die Frage: „Wer hat Lust, heute Abend noch ein bisschen Lobpreis zu machen?“, und gemeint ist eine spontane Versammlung am Lagerfeuer mit möglichst vielen Gitarren und Liederbüchern und ganz viel Singen. Menschen entdecken Lieder als einen Weg zu Gott, der ihnen mehr liegt als Predigten, Gebete oder das Bibellesen. Und sie sind begeistert.
Die Kritiker dagegen stehen daneben und klagen: „Warum müssen wir heute denn immer fünf Lieder singen, wo früher eines reichte? Und dann so viele, die ich nicht kenne? Noch dazu mit Musik, die für mich zu modern und für die meisten Menschen meiner Nachbarschaft nicht modern genug ist? Waren denn die Lieder, die wir früher gesungen haben, keine Anbetung? Und was mache ich, wenn ich kein musikalischer Mensch bin oder wenn die Musik, die ich am Sonntag im Gottesdienst höre, nicht meinem Geschmack entspricht? Ist dann Anbetung nichts für mich?“
Eine richtige Einsicht
Die Wahrheit ist: Beide, die Fans wie die Kritiker, haben oft ein viel zu enges Bild von dem, was Anbetung ist. Wenn wir Anbetung mit Liedersingen verwechseln, dann haben wir erst angefangen zu verstehen, worum es eigentlich geht. Und es lohnt sich, weiterzudenken. Aber fangen wir einmal mit dem Positiven an: Richtig ist, dass Anbetung in der Tat sehr viel mit Liedern zu tun hat. Und das nicht nur in unseren heutigen Gemeinden und Kirchen, sondern das war auch in der Bibel schon so. Wo immer Menschen anfangen, Gott gemeinsam zu loben und anzubeten, ist Musik nicht weit entfernt: Angefangen beim Auszug aus Ägypten (2. Mose 15) über die Gottesdienste im Tempel von Jerusalem (2. Chronik 5,11-14), das letzte Abendmahl Jesu (Matthäus 26,30), die urchristlichen Gemeinden (1. Korinther 14,15) bis hin in die himmlischen Szenen der Offenbarung (15,3). Allein die Zahlen der Musiker im Tempel von Jerusalem sind beeindruckend:
4000 Musiker (1. Chronik 23,5)
288 Sänger, „allesamt Meister“ (1. Chronik 25,7)
120 Priester in der Bläsersektion (2. Chronik 5,12)
Man kann also wohl kaum sagen, dass Lieder und Musik für die Anbetung unwichtig seien. Im Gegenteil: Sie sind vermutlich die wichtigste Ausdrucksform der Anbetung, in der Bibel und durch die Geschichte bis heute.
Musik als Sprache des Herzens
Anbetung ist also zwar nicht dasselbe wie Liedersingen, aber Lieder sind eine wichtige, vielleicht die wichtigste Ausdrucksform der Anbetung. Sie sind die Sprache, in die wir unsere Anbetung kleiden. Und das ist eine wichtige Einsicht. Musik in der Anbetung war Gottes eigene Idee und nicht einfach eine zufällige Entscheidung von Menschen. Gott sagte seinem Volk, noch während es auf dem Weg ins gelobte Land war: „Wenn ihr fröhlich seid an euren Festen und an euren Neumonden, sollt ihr mit den Trompeten blasen.“ (4. Mose 10,10)
Warum ist das so? Warum ist Musik so zentral und wichtig für unsere Gottesbegegnung? Wenn ich diese Frage in Gemeinden stelle, dann kommen immer wieder dieselben Erfahrungen zur Sprache, die Menschen aller Altersgruppen und Kulturen gemeinsam ist. Ich formuliere sie hier einmal mit Worten eines der wohl größten Musiker unserer Zeit, des Violinisten Yehudi Menuhin (1916–1999):
Das Singen ist die eigentliche Muttersprache aller Menschen:
denn sie ist die natürlichste und einfachste Weise,
in der wir ungeteilt da sind und uns ganz mitteilen können –
mit all unseren Erfahrungen, Empfindungen und Hoffnungen.
Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele,
aber es kann auch unsere Körper aus jeglicher Erstarrung
ins Tanzen befreien und uns den Rhythmus des Lebens lehren.
Das Singen entfaltet sich in dem Maße,
wie es aus dem Lauschen, dem achtsamen Hören erwächst.
Singend können wir uns darin verfeinern,
unsere Mitmenschen und unsere Mitwelt zu erhören.
Immer geht uns der Gesang eines Menschen unmittelbar an,
wächst ein Verstehen, Teilhaben und Begreifen
über alle Begriffe hinaus.
Das ist meines Erachtens nur möglich,
weil im Singen sich das menschliche Doppelwesen offenbart:
Singen gehört fraglos zur Natur des Menschen,
so daß es gleichsam keine menschliche Kultur gibt,
in der nicht gesungen würde.
In einer Zeit, in der die natürlichen und
geistig-seelischen Vermögen der Menschen
immer mehr zu verkümmern scheinen,
so daß möglicherweise unsere Zukunft überhaupt bedroht ist,
brauchen wir notwendig alle nur möglichen Quellen der Besinnung, die uns offen stehen.
Singen birgt nun unvergleichlich
das noch schlummernde Potential in sich,
wirklich eine Universalsprache aller Menschen
werden zu können.
Es sind vor allem drei Aspekte der Musik, die Menschen in meinen Seminaren immer wieder zur Sprache bringen: die Ganzheitlichkeit, die Gemeinschaftlichkeit und die Kreativität.
Anbetung und Musik (1): Ganzheitlich Gott begegnen
Musik und Lieder helfen uns, unserem Herzen in einer Weise Ausdruck zu verleihen, für die Worte allein nicht ausreichen würden. Das ist eine alte Erfahrung der Menschheit, die sich vor allem im Phänomen der Liebeslieder zeigt. „Words don’t come easy“ hieß ein Nummer-eins-Hit von F. R. David in meiner Jugendzeit. „Worte fallen mir nicht so leicht“, klagte der Arme darin, und deshalb „schreibe ich dir lieber dieses schlichte Liebeslied“. Und Tim Bendzko fasste die gleiche Erfahrung im Jahr 2011 in seine eigenen Töne. Musik berührt Tiefenschichten unserer Seele, an die Worte allein nicht heranreichen. Diese Erfahrung kennen wir alle aus unserem persönlichen Erleben. Filmemacher und Werbeproduzenten haben diese Macht der Musik längst erkannt, ebenso wie die Kaufhäuser, die uns durch unauffällige Hintergrundmusik im Fahrstuhl in eine entspannte und kauffreudige Stimmung versetzen.
Psychologen, Pädagogen und Hirnforscher haben sich eingehend damit beschäftigt, wie Musik unsere Gefühle und Stimmungen prägt. „Wer singt, betet doppelt“, so wird der Kirchenvater Augustinus oft zitiert, auch wenn er diesen Satz so vermutlich nie gesagt hat. Vielleicht hat er es aber sogar noch treffender ausgedrückt mit den folgenden Worten: „Wer sein Lob singt, der singt nicht nur, sondern liebt auch den, dem er singt.“ Musik in der Anbetung hilft uns also, das auszudrücken, was in unserem Herzen verborgen ist. Musik erreicht die Tiefenschichten unserer Seele und macht unsere Anbetung ganzheitlicher.
Aktivierende Wirkung Beruhigende Wirkung
Intensität
große Lautstärke geringe Lautstärke
große Lautstärkeänderungen geringe Lautstärkeänderungen
starke Akzente weiches Pulsieren
Zeitablauf
schnelles Tempo Tempo in oder unterhalb
der Herzfreqzenz
häufige Tempowechsel gleichmäßiges Tempo
tänzerischer Dreiertakt zweizeitige (gerade) Taktarten
Tonhöhenstruktur
großer Tonhöhenumfang geringer Tonhöhenumfang
weite Intervalle (melodische Sprünge) enge Intervalle (Tonschritte)
aufwärts gerichtete Intervalle abwärts gerichtete Intervalle
Klangcharakter
hell strahlende Klangfarbe weiche Klangfarbe
dissonante Klänge konsonante Klänge
weiter harmonikaler Bereich einfache Harmonik
Anbetung und Musik (2): Ein Ausdruck der Gemeinschaft
Musik ist aber noch aus einem anderen Grund wichtig für die Anbetung: Sie ermöglicht uns nicht nur ganzheitliche, sondern auch gemeinschaftliche Anbetung. In der Bibel wird berichtet, dass es im Tempel von Jerusalem so schien, „als wäre es einer, der trompetete und sänge, als hörte man eine Stimme loben und danken dem Herrn“ (2. Chronik 5,13). Und in der Tat machen wir die Erfahrung, dass Musik Menschen zusammenbringt. Sei es bei den Fischerchören oder in der Gospelszene, in der Fankurve des Fußballstadions oder im Rockkonzert: Auf eine geheimnisvolle Weise bringt Musik Menschen verschiedenster Prägung, Sprache und Kultur zusammen und macht es möglich, dass selbst Zehntausende von Stimmen zusammen dasselbe ausdrücken können. Ohne Musik ist das kaum möglich. Und auch im Gottesdienst merken wir, dass an kaum einer Stelle das gemeinschaftliche Element so deutlich erkennbar wird wie in den Momenten, in denen wir zusammen singen. Bei der Predigt redet einer und alle anderen hören zu. In Gebetsgemeinschaften reden viele, aber nicht gemeinsam. Selbst gemeinsam gesprochene Psalmen oder Gebete funktionieren nur, wenn wir uns auf einen einigermaßen monotonen Singsang einigen. Nur in gemeinsamen Liedern können wir die Begrenzungen der Sprache überwinden und dem, was uns bewegt, gemeinsam eine ausdrucksvolle Stimme verleihen.
Anbetung und Musik (3): Ein Spiegelbild des Schöpfers
Es gibt aber noch einen dritten Grund, warum die Musik so wichtig ist für unsere Anbetung: Sie spiegelt auf einzigartige Weise die Schönheit und Kreativität ihres Schöpfers wider. Wer mit offenen Augen durch die Welt geht, der muss zu dem Ergebnis kommen, dass ihr Erfinder und Schöpfer ein Musiker und Künstler sein muss. Wer sonst hätte eine Welt geschaffen, in der es etwa 9000 verschiedene Vogelarten gibt, von denen jede ihre eigene Melodie singt? Ginge es nur darum, dass sich die richtigen Männchen und Weibchen gegenseitig wiedererkennen, hätte man auch weniger ausgefallene Erkennungszeichen finden können als zum Beispiel das Lied der Nachtigall. Oder wer sonst hätte sich ausgedacht, dass Limuren im Dschungel von Madagaskar Opernarien zum Besten geben? Was für eine Verschwendung, dass die Wale in den Tiefen des Ozeans die schönsten Lieder singen, wo sie doch fast niemand hört! Ohne Zweifel: Die Musikalität der Schöpfung deutet auf einen musikalischen Schöpfer hin. Und in der Tat fragt Gott in der Bibel:
„Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir’s, wenn du so klug bist! Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als die Morgensterne miteinander sangen und alle Gottessöhne jauchzten?“ (Hiob 38,4-7)
Als Jesus die wohl eindrücklichste Geschichte von Gott, dem Vater, und seinen verlorenen Söhnen erzählt, da beschreibt er das Haus des Vaters mit den Worten:
„Als er nahe zum Hause kam, hörte er Singen und Tanzen.“ (Lukas 15,25)
Musik ist in der Anbetung nicht nur ein Mittel zum Zweck, sondern sie ist ein Spiegelbild für Gottes Charakter. Wo wir unsere musikalischen Gaben in den Gottesdienst einbringen, um ihm Schönheit, Vielfalt und Farbe zu verleihen, da wird etwas vom Wesen Gottes sichtbar.
Mehr als nur Musik
Musik und Lieder sind also ganz zu Recht eine zentrale und grundlegende Ausdrucksform unserer Anbetung. Aber: Es ist eben nur eine von vielen, wenn auch vielleicht die wichtigste. Und oft machen wir den Fehler, dass wir uns auf diese eine Ausdrucksform beschränken. Dann gibt es statt Anbetung im Gottesdienst eben nur den berühmten „Liedblock“, der manchmal ebenso leblos klingt wie sein Name. Aber selbst dann, wenn die Lieder mit viel Inbrunst und Liebe vorgetragen werden, wenn die Musik perfekt arrangiert ist und alle im Raum aus vollem Herzen mitsingen, kann es sein, dass es nicht viel mehr ist als eben eine Reihe von Liedern. Lieder allein machen noch keine Anbetung aus. Und wir rauben uns etwas von der Vielfalt der Anbetung in der Bibel, wenn wir uns nur auf Lieder beschränken.
Wenn wir auf der Suche nach Wegen aus der Gleichförmigkeit und Eintönigkeit der Anbetung sind, dann wird es auf Dauer nicht ausreichen, einfach nur das Liedrepertoire zu erweitern oder neue experimentelle Musikstile auszuprobieren. Wir müssen vielmehr die Grenzen der Lieder überschreiten und auch andere Ausdrucksweisen der Anbetung suchen.
Ausdrucksformen der Anbetung (1): Vielfältiges Gebet
Wenn ich in Gemeinden danach frage, welche anderen Ausdrucksformen außer Liedern es für die Anbetung noch geben könnte, dann ist eine der ersten Antworten meistens diese: „Gebet“. Aber schon da zeigt sich ein Problem: Denn gerade die Lieder sollten ja, wenn es um Anbetung geht, ebenfalls Gebete sein. Gemeint ist also wohl: Gesprochene Gebete, im Unterschied zu gesungenen Gebeten. In vielen Gottesdiensten, in denen ich zu Besuch bin, ist aber schon das gar nicht so selbstverständlich. Insbesondere da, wo die Aufgaben des „Musikteams“, des „Gottesdienstleiters“ und des „Moderators“ voneinander getrennt werden, kommt es häufig vor, dass man Gebet und „Musikblock“ deutlich voneinander trennt. Da spielt das Musikteam zuerst drei innige Lobpreis- und Anbetungslieder und dann geht der Moderator nach vorne und sagt: „So, und nun wollen wir noch beten.“ Man fragt sich natürlich, was wir denn vorher gemacht haben, als wir die Lieder sangen.
Das mag sich wie ein unnötiger Streit um Worte anhören, geht aber viel tiefer: Denn was durch eine solche Ansagekultur mit Worten ausgedrückt wird, spiegelt oft eine tief gehende Trennung in den Köpfen und Herzen wider, die sich auch auf die Atmosphäre im Gottesdienst niederschlägt: Gebet und Lieder werden als zwei verschiedene „Programmteile“ des Gottesdienstes angesehen, die zum Teil sogar völlig unabhängig voneinander vorbereitet und geplant werden. Wenn es jedoch gelingt, Lieder und Gebete in unseren Gottesdiensten besser miteinander zu verbinden und zu einer Einheit zusammenzuführen, dann ist ein wichtiger Schritt getan weg vom „Musikblock“ und hin zur Anbetungszeit. Dazu gehört natürlich die Bereitschaft von Anbetungsleitern, sich nicht nur als musikalische Leiter oder Vorsänger zu verstehen, sondern in erster Linie als „leitende Anbeter“ (Matt Redman). Also als Leute, die nicht nur mit Liedern, sondern auch mit gesprochenen Gebeten die Gemeinde mit auf den Weg zu Gott nehmen und dabei selbst als Musiker und als Beter vorangehen.
Den Blick weiten, das bedeutet aber auch: verschiedene Formen des gesprochenen Gebets ausprobieren und die Vielfalt suchen. Die gebräuchlichste Form des Gebets ist es sicherlich, dass jemand von vorne ein Gebet spricht. Es gibt aber auch Möglichkeiten, als ganze Gemeinde gemeinsam zu beten: Klassisch ist hier natürlich das „Vaterunser“, das Jesus seine Jünger lehrte. Aber auch andere Gebete aus der Bibel, vor allem die Psalmen, kommen infrage. Oder andere Gebete aus der Bibel, vielleicht etwas kreativ angepasst an heutige Situationen. In katholischen Gottesdiensten etwa betet man oft das Gebet des Hauptmanns von Kapernaum in leicht veränderter Form: „Herr, ich bin nicht wert, dass du unter mein Dach gehst, sondern sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund.“ (vgl. Matthäus 8,8) Eine gute Grundlage für das gemeinsame Gebet ist auch das Gebet des verlorenen Sohnes (Lukas 15,21), das Gebet der Urgemeinde in Jerusalem (Apostelgeschichte 4,24-30) oder auch die Lieder aus der Offenbarung (Offenbarung 5,9-10; 15,3-4). Hier könnten wir ruhig etwas kreativer und vielfältiger werden in unserem gemeindlichen Gebetsleben. Zwar treffe ich immer wieder Christen, die davon überzeugt sind, dass ein „echtes“ Gebet nur das ist, was mit eigenen Worten frei formuliert ist. Aber das war schon in biblischer Zeit nicht so. Und selbst Jesus hat mit seinen Freunden Gebete gebetet, die jemand anders geschrieben hatte und die schon mehrere Hundert Jahre alt waren.
Aber auch andere Formen des gemeinsamen Gebets sind denkbar. Manche davon sind uns vielleicht vertraut, andere bisher noch nicht: Aber warum nicht einfach einmal ausprobieren? Die klassische „Gebetsgemeinschaft“ etwa, die in Freikirchen üblich ist und bei der jeder Gottesdienstteilnehmer spontan von seinem Platz aus laut beten darf. Offene Mikrofone im Raum verteilt, zu denen man hingehen kann, um dort ein Gebet zu sprechen. Das „koreanische Gebet“, bei dem einfach alle gleichzeitig laut und durcheinander beten. Eine Stille, in der jeder für sich beten kann. Stationen im Raum, an denen man Gebete auf Zettel schreiben, an ein Holzkreuz nageln, in eine „Klagemauer“ aus Ziegelsteinen stecken oder mit Luftballons in den Himmel schicken kann. Der Vielfalt sind hier kaum Grenzen gesetzt. Nur sollte man darauf achten, dass die Kreativität der Gestaltung nicht die Haltung des Gebets verhindert oder stört.
Ausdrucksformen der Anbetung (2): Tanz
Eine fast vergessene Ausdrucksform der Anbetung ist der Tanz. In der Bibel gehört er ganz selbstverständlich dazu, in der Geschichte wurde er zeitweise völlig aus den Kirchen verbannt. „Das Bein, das sich zum Tanze regt, das wird im Himmel abgesägt“ – so hieß es noch im 19. Jahrhundert in vielen pietistischen Gemeinden. Und leider ist auch das Zitat, das oft dem Kirchenvater Augustinus zugeschrieben wird, nicht echt: „Mensch, lerne tanzen: Sonst wissen die Engel im Himmel mit dir nichts anzufangen.“ Aus Angst vor „weltlichen Freuden“ und wegen Verwechslungsgefahr mit der heidnischen Kultur der Umgebung verbannte man den Tanz schon früh aus den Kirchen. Natürlich gab es immer auch Ausnahmen: Vor etwa 200 Jahren gab es in Amerika die Gemeinden der „Shaker“, deren Gottesdienste aus kunstvoll arrangierten Tänzen im Squaredance-Stil bestanden. Auch in den Kirchen Afrikas und Südamerikas sind Gottesdienste ohne Tanz kaum denkbar. Aber in der westlichen Welt ist Tanz im Gottesdienst immer noch eine Seltenheit.
In der Blüte der Hippie-Zeit, in den 70er- und 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts, erlebte der Ausdruckstanz im Gottesdienst noch einmal ein kurzes Revival, meistens im Stil von traditionellem Ballett oder Jazzdance. Und Gruppen wie die „King’s Kids“ haben sogar Elemente des Street Dance in die Gemeinden gebracht. Aber im normalen Gottesdienst am Sonntagmorgen ist davon heute nicht viel übrig geblieben. Hier und dort wird noch getanzt, manchmal mit Fahnen oder Tüchern, aber oft bleibt man dabei in den Formen und Stilen vergangener Zeiten stecken. Wie also müsste zeitgemäßer Anbetungstanz heute aussehen? Es lohnt sich sicher, hier einmal kreativ nachzudenken, entsprechende Kurse zu besuchen und dann eigene, passende Formen zu finden.
Wie kann Tanz ganz praktisch im Gottesdienst vorkommen? Auch hier ist Verschiedenstes denkbar: Klassisch sind Tanzgruppen, die vorne auf der Bühne einen Tanz aufführen, entweder zu Playbackmusik oder zu den Liedern des Lobpreisteams. Solche Tänze können vorher eingeübt werden oder spontan improvisiert sein. Aber auch über andere Formen des Tanzes sollte nachgedacht werden: In afrikanischen Gottesdiensten etwa tanzt die Gemeinde oft bei der Kollekte durch die ganze Kirche, um Gaben nach vorn zum Sammelpunkt zu bringen. Man kann die Gottesdienstbesucher ermutigen, auf ihren Plätzen oder in den Gängen zu tanzen. In der jüdischen Tradition haben sich die Kreistänze bis heute gehalten, auch in Gottesdiensten und bei religiösen Feiern, und sie sind bei Senioren wie bei Teens gleichermaßen beliebt. Vielleicht können wir auch davon noch etwas lernen? Und wer sagt eigentlich, dass die Polonaise ausschließlich dem Kölner Karneval oder dem Ballermann vorbehalten ist?
Sie merken es schon: Ich lasse meiner Fantasie an dieser Stelle einfach mal freien Lauf, vielleicht etwas zu freien. Dem einen oder anderen Leser werden solche Gedanken sicherlich abwegig und vielleicht sogar gotteslästerlich erscheinen. Und es passt tatsächlich nicht alles unbedingt in einen Gottesdienst am Sonntagmorgen. Aber wir sollten uns auch nicht vorschnell mit einem Status quo zufriedengeben, in dem der Tanz aus der Anbetung völlig verbannt bleibt, nur weil es sich bei uns in Europa einmal so eingebürgert hat. Immerhin ist er ein biblisches Gebot, das sollte uns zumindest anstacheln, an dieser Stelle kreativ weiterzudenken.
Ausdrucksformen der Anbetung (3): Anbetung fürs Auge
Wie ist es mit anderen Bereichen der bildenden Kunst und des kreativen Ausdrucks? Wir sind es gewöhnt, Anbetung auf musikalischem Weg auszudrücken. Aber in der Bibel werden auch andere Künste für den Bau an Gottes Heiligtum eingesetzt. Als Vater der bildenden und gestaltenden Künste gelten Bezalel und seine Schüler, die von Gott mit dem Heiligen Geist ausgerüstet werden:
„Sehet, der Herr hat mit Namen berufen den Bezalel, den Sohn Uris, des Sohnes Hurs, vom Stamm Juda, und hat ihn erfüllt mit dem Geist Gottes, dass er weise, verständig und geschickt sei zu jedem Werk, kunstreich zu arbeiten in Gold, Silber und Kupfer, Edelsteine zu schneiden und einzusetzen, Holz zu schnitzen, um jede kunstreiche Arbeit zu vollbringen. Und er hat ihm auch die Gabe zu unterweisen ins Herz gegeben, ihm und Oholiab, dem Sohn Ahisamachs, vom Stamm Dan. Er hat ihr Herz mit Weisheit erfüllt, zu machen alle Arbeiten des Goldschmieds und des Kunstwirkers und des Buntwirkers mit blauem und rotem Purpur, Scharlach und feiner Leinwand und des Webers, dass sie jedes Werk ausführen und kunstreiche Entwürfe ersinnen können.“
Gott liebt nicht nur Musik, sondern auch Farben und Formen. Deshalb sollte es in seinem Heiligtum von Anfang an nicht nur etwas zu hören, sondern auch etwas zu sehen (und sogar zu riechen) geben: Für die kunstvolle Gestaltung des Gottesdienstraumes gibt es in der Bibel seitenlange Anweisungen, in denen die Farben und Formen geschildert werden. Auch für die Kleider gab es einen genauen Farbcode, der die Vielfalt und Schönheit der Schöpfung und ihres Schöpfers widerspiegeln sollte. Leider geht diese Buntheit beim Lesen des reinen Textes sehr schnell verloren und verwandelt sich in tristes Schwarz und Weiß.
Aber in der christlichen Kirche hat man, zumindest in den ersten Jahrhunderten, noch in diesen biblischen Bahnen weitergedacht: Schon die frühesten Versammlungsstätten der Christen, sei es in den Katakomben von Rom oder in den Höhlen der östlichen Türkei, sind geschmückt mit Farben, Verzierungen und Bildern. Und die Architekten, die im Mittelalter die großen Kathedralen entwarfen, sahen ihre Kunstfertigkeit als eine Gabe Gottes, die sie zum Lob des Schöpfers einsetzen wollten. Priester und Musiker trugen Gewänder, deren Farben auf die Inhalte der Gebete und die Themen des jeweiligen Gottesdienstes abgestimmt waren. Erst später, zur Zeit der Reformation, sah man in all dem einen unnötigen Luxus, der vom Wort Gottes ablenkt. In der Marburger Kirche etwa, in der wir mit dem Christus-Treff unsere Gottesdienste feiern, wurden alle Wandgemälde mit sandbrauner Farbe übertüncht, und nur mühsam hat man in den letzten Jahrzehnten kleine Bruchteile dieser Kunst wieder freilegen können. Und ähnlich erging es vielen Kirchen in ganz Europa. Pfarrer wurden ab jetzt in tristes Schwarz eingekleidet: Diese betonte Farblosigkeit schaute man sich bei Professoren und Richtern ab.
In der freikirchlichen Tradition schließlich verzichtete man vollständig auf alles, was im Gottesdienst vom „Wort“ ablenken könnte: Schlichte Versammlungsräume und Zweckbauten, die Lagerhäusern oder Turnhallen ähneln, reichten aus. Alltagskleidung oder vielleicht der graue Sonntagsanzug waren allemal gut genug. Früher blickte man, wenn man nach vorn schaute, auf weiße Wände und ein schlichtes Kreuz. Heute ist diese aufgeräumte Schlichtheit zwar hin und wieder einem planlosen Gewirr von Kabeln, Technik, Gitarrenkoffern, Notenständern, Rucksäcken und Trinkflaschen gewichen, aber das macht den Anblick auch nicht gerade schöner.
Wo sind sie heute, die Bezalels und Oholiabs? Die Künstler, Maler, Architekten und Grafikdesigner in unseren Gemeinden? Hat Gott seine Gaben zurückgezogen oder haben wir es nur verlernt, diesen Gaben Raum zu geben? Und wie können wir auch sie für die Anbetung Gottes einsetzen? Vielleicht, indem wir unseren Gottesdienstraum noch einmal mit neuen Augen betrachten und danach fragen, ob er etwas vom Charakter Gottes widerspiegelt und zur Anbetung einlädt? Vielleicht können wir die Grafikdesigner aus unserer Gemeinde dafür gewinnen, die Liedfolien so zu gestalten, dass sie nicht nur nach einem Urlaubsprospekt oder Postkartenkalender aussehen, sondern wirklich den Charakter der Lieder untermalen, die wir singen? Vielleicht gibt es Leute, die einen Blick für Schönheit haben und den schmucklosen Zweckbau durch Dekoration und Gestaltung in einen Raum der Anbetung verwandeln können?
Ich habe Gottesdienste und Gebetsabende erlebt, bei denen an den Seitenwänden oder im hinteren Bereich des Raumes Papierbahnen ausgerollt waren, auf denen die Leute ihre Anbetung in Bildern und Farben ausdrücken konnten. Auch auf der Bühne haben wir zuweilen mit Farbe experimentiert: Neben Sängerinnen und Gitarristen hatten wir auch eine Malerin mit im Lobpreisteam, und während die Band auf der einen Hälfte der Bühne mit Liedern die Gemeinde anleitete, entstand auf der anderen Bühnenhälfte ein lebensgroßes Bild der Anbetung. Bei anderen Gelegenheiten haben Jugendliche, die sich mit Videoschnitt und Design auskannten, kurze Videoclips produziert, die zwischen Liedstrophen oder während instrumentaler Phasen die Augen und Gedanken mit auf eine Reise des Gebets nahmen. Und auch hier könnte die Fantasie noch weitere Kreise ziehen: Wie können wir Bildhauer, Töpfer, Fotografen, Dichter und Kunsthandwerker in unsere Anbetung mit hineinnehmen? Hier ist sicher noch viel unentdecktes Land und viel Luft nach oben.
Ausdrucksformen der Anbetung (5): Stille
Bei aller Vielfalt der Ausdrucksformen ist es manchmal auch gut und notwendig, Phasen der Stille in die Anbetungszeiten zu integrieren. Zu oft erlebe ich es, dass ein Lied an das andere gereiht wird und ein Gebet an das nächste, ohne dass die Seele einmal Zeit hat, zur Ruhe zu kommen, sich zu besinnen, auf Gott zu hören oder einfach nur „da zu sein“, ohne etwas zu tun. Manchen Menschen fällt es schwer, Stille auszuhalten, und der innere Druck ist groß, die Stille mit irgendetwas zu füllen. Aber es tut gut, auch einmal still zu werden.
Als wir im Christus-Treff in den frühen 90er-Jahren unsere ersten Begegnungen mit Lobpreisbands aus der anglikanischen Kirche hatten, waren die „Zeiten der Stille“ (neben unserem zugegebenermaßen etwas veralteten Liedgut und dem Musikstil, der noch sehr durch die 80er geprägt war) eines der ersten Dinge, die unseren Freunden aus England auffiel: „Ihr braucht mehr Fluss in eurer Anbetung, ihr macht zu viele Pausen!“, wurde uns gesagt. Und wir lernten gehorsam: wie man fließende Übergänge zwischen Liedern gestaltet, wie man Gebete mit Musik untermalt, wie man Pausen mit Musik füllt. Alles wurde runder und fließender, bis unsere Freunde uns nach einigen Jahren einen neuen Trend aus England mitbrachten: „Silence in Worship“ – Stille in der Anbetung. Eine großartige, neue Erfahrung, wurde uns erzählt. Und wir sollten das doch auch mal ausprobieren. Das haben wir, folgsam wie wir sind, gern getan, und so tauchten die Zeiten der Stille, die wir einige Jahre zuvor in die Schublade verbannt hatten, wieder auf.
Natürlich gibt es solche und solche Stille. Es gibt Pausen, die nur deswegen entstehen, weil man das nächste Liedblatt noch nicht auf seinem Notenständer hat oder weil der Schlagzeuger wieder einmal vergessen hat, dass er das nächste Lied einzählen soll. Es gibt Zeiten der Stille, die nur gefüllt sind mit Ratlosigkeit, weil man nicht weiß, was jetzt passieren soll. Solche Zeiten „ruheloser“ Stille sind nicht unbedingt Zeiten der Anbetung. Auch Stille muss bewusst vorbereitet und gestaltet sein. Sie muss vielleicht durch ein paar Worte eingeleitet werden, die dazu einladen, auf Gott zu hören, auf Gott zu schauen, Gott zu suchen, über etwas nachzudenken oder einfach zu warten. Man kann natürlich auch dazu einladen, in der Stille zu beten, aber das ist dann wieder etwas anderes. Stille kann auch ohne Worte, durch eine entsprechende musikalische Gestaltung, eingeleitet werden. Dann sollte das Lied, das der Stille vorangeht, aber nicht einfach nur „enden“, sondern durch ein gutes Arrangement ganz gezielt in eine Haltung der Stille hineinführen.
Ausdrucksformen der Anbetung (6): Lebensberichte
Wenn ich mit Gemeinden und Lobpreisteams über die Vielfalt der Formen in der Anbetung nachdenke, dann kommt oft auch die Frage nach „Zeugnissen“ auf den Tisch, also kurze Berichte von dem, was man mit Gott erlebt hat. Solche Berichte können eine große Ermutigung und eine Hinführung zur Anbetung sein. Und natürlich wird dadurch auch Gott die Ehre gegeben. Dennoch bin ich vorsichtig geworden, solche Berichte direkt in Gebets- und Anbetungszeiten hineinzunehmen. Zu leicht passiert es, dass eine Grundhaltung des Gebets unterbrochen wird, wenn man sich erst einmal wieder darauf einlassen muss, einem anderen Menschen zuzuhören. Besser ist es daher, solche Berichte vor oder nach der eigentlichen Anbetungszeit einzuplanen, sodass sie entweder zum Gebet hinführen oder aber aus dem Gebet heraus entstehen.
Ausdrucksformen der Anbetung (7): Die Gaben des Geistes
Im Neuen Testament gehören die verschiedenen Gaben des Geistes ganz selbstverständlich zu einem christlichen Gottesdienst dazu. Paulus nennt an mehreren Stellen unterschiedliche solcher Gaben, und es wird deutlich, dass es weder eine genaue Liste noch eine genaue Definition dafür gibt, was eine Geistesgabe ist und was nicht. Wichtig ist für Paulus, dass es sich bei den Gaben zwar um „Geschenke“ handelt, dass wir uns aber dennoch darum „bemühen“ oder danach „streben“ sollen. Die Gaben sind also weder etwas, das wir selbst produzieren können, noch etwas, auf das wir einfach passiv warten sollen. Sie sind auch nicht einfach identisch mit den persönlichen Stärken und Neigungen, die wir von Natur aus haben, oder mit dem, was uns ohnehin leichtfällt und Freude macht. Denn dann bräuchten wir uns ja nicht darum zu bemühen oder danach zu suchen. Erbitten kann ich nur etwas, was ich noch nicht habe, was ich aber gerne hätte. So sollen wir es auch mit den Gaben machen.
Für den Gebrauch im Gottesdienst hebt Paulus zwei dieser Gaben besonders hervor: die Zungenrede und die prophetische Rede. Um beide soll man sich bemühen. Paulus sagt sogar recht mutig: „Ich will, dass ihr alle in Zungen redet“. Luther hat das in seiner Übersetzung deutlich abgeschwächt, ja fast ins Gegenteil gekehrt: „Ich wollte, dass ihr alle in Zungen sprechen könntet“. Das klingt fast so, als wäre das eben leider nicht möglich. Paulus aber hat es nicht im Konjunktiv, sondern im Indikativ formuliert. Noch mehr als um die Zungenrede soll man sich allerdings um die prophetische Rede bemühen, weil diese nicht nur dem eigenen Gebet dient, sondern vor allem auch den anderen und insbesondere den Besuchern, die Gott noch nicht kennen. Durch prophetische Worte kann Gott in unsere Anbetungszeiten hineinreden, er kann unserer Anbetung eine neue Richtung geben und uns wird dadurch deutlich: „Gott ist wahrhaftig unter uns“.
Manche Christen, und auch ganze Gemeinden, haben Angst, diese Gaben des Geistes in ihrer Anbetung einzusetzen. Das hat manchmal mit schlechten Erfahrungen zu tun, manchmal auch mit einer bestimmten Tradition der Bibelauslegung. Vor vielen Jahren war ich einmal in eine Gemeinde eingeladen worden, um ein Lobpreisseminar zu halten. Einige Wochen vor dem angedachten Termin erhielt ich jedoch einen Anruf. Der Pastor und der Leitungskreis wollten noch einmal mit mir reden. Jemand hatte in einem meiner Bücher entdeckt, dass ich zum Gebrauch der Geistesgaben ermutigte. Nun befürchtete man, dass es in der Gemeinde zu einer ähnlichen Unordnung kommen könnte wie damals in Korinth, wo die Gaben offensichtlich nicht immer in einer Weise praktiziert wurden, die der Gemeinde dienlich war. Nun gut, ich wurde also zu einem Vorgespräch eingeladen, in dem meine Bibeltreue sorgsam geprüft wurde. Am Ende des Gesprächs fasste der Pastor das Ergebnis zusammen: „Wir machen in dieser Gemeinde jetzt seit 25 Jahren erfolgreich missionarischen Gemeindeaufbau. Wir sind bisher ohne den Heiligen Geist ausgekommen, und wir werden das auch in Zukunft tun.“ Das geplante Seminar fand nicht statt, obwohl ich versprochen hatte, das strittige Thema zu meiden. Vermutlich meinte der Pastor seine Worte nicht genau so, wie sie klangen. Aber in der Praxis leben viele Christen tatsächlich auf diese Weise. Sie glauben zwar an die Existenz der Geistesgaben, sind aber ganz zufrieden damit, wenn sie im Gottesdienst nicht vorkommen. Doch für Paulus sind sie wertvoll und wichtig, weil sie den Gottesdienst bereichern, vielfältig machen und dazu beitragen, dass Anbetung nicht nur von denen gestaltet wird, die vorne auf der Bühne stehen. Vielmehr wirken bei der Anbetung alle mit, die Gott mit seinen Gaben ausstattet, und auch Gott selbst, der aktiv hineinredet und hineinwirkt in unsere Gottesdienste:
„Wie ist es denn nun, liebe Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder einen Psalm, er hat eine Lehre, er hat eine Offenbarung, er hat eine Zungenrede, er hat eine Auslegung. Lasst es alles geschehen zur Erbauung!“
Wenn es also in Ihrer Gemeinde Berührungsängste im Hinblick auf die Geistesgaben gibt, dann ist ja vielleicht die Richtlinie des Paulus ganz gut: Beschränken Sie sich doch für den Anfang erst einmal auf zwei oder drei prophetische Worte und zwei oder drei Zungenreden pro Gottesdienst. Mit Auslegung natürlich. Paulus findet das ein gesundes und geordnetes Maß. Mehr muss es also gar nicht sein. Wenn es allerdings weniger ist, wäre es verfrüht, schon jetzt darüber nachzudenken, wie Sie das Chaos einschränken oder einen Missbrauch der Gaben verhindern können. Vielleicht wäre in Ihrer Gemeinde dann eher die Frage, wie die Gaben noch mehr Raum bekommen können. Denn das ist der eigentliche Rat des Paulus in seinem Brief an die Korinther: „Bemüht euch um die Gaben des Geistes!“
Ausdrucksformen der Anbetung (8): Anbetung ohne Grenzen
In der Gestaltung unserer Anbetung sind unserer Kreativität keine Grenzen gesetzt. Die Liste der möglichen Ausdrucksformen ist uneingeschränkt erweiterbar. Und meistens, wenn wir in Seminaren oder Workshops in diese Richtung weiterdenken, dann kommen wir irgendwann zu der Einsicht: Alles im Leben kann ein Ausdruck der Anbetung sein. Im Neuen Testament wird die Geldsammlung für die Armen einmal als „Anbetung“ bezeichnet. Und Martin Luther hat gesagt: „Die Magd, die im Stall den Mist auskehrt, tut damit genauso einen Gottesdienst wie der Priester, der die Messe liest.“ Und das stimmt. Anbetung ist in der Bibel nicht nur das, was wir am Sonntagmorgen in unserem Gottesdienst tun. Es ist eine Lebenshaltung. Und dennoch ist auch hier eine Warnung angebracht: Immer dann, wenn wir sagen „Das ganze Leben sollte A oder B sein“, besteht die Gefahr, dass A oder B sich am Ende ganz im Meer des Alltags auflösen. Die großen Kirchen in unserem Land haben mit der Begründung „Das ganze Leben sollte Mission sein“ ganze Missionswerke abgeschafft, und unter der Devise „Das ganze Leben sollte Evangelisation sein“ wurden Evangelistenstellen gestrichen und Evangelisationsveranstaltungen bekämpft. Es ist also zwar eine richtige Einsicht, dass unser ganzes Leben von Anbetung geprägt sein soll, aber weil das im Alltag leicht verloren geht, hat Gott seinem Volk von Anfang an aufgetragen, sich bewusste Zeiten und Orte für die Anbetung in gemeinsamen Feiern zu suchen. Man sollte also das eine nicht gegen das andere ausspielen: Anbetung im Alltagsleben ist wichtig. Aber ebenso wichtig ist es, der Anbetung auch als Gemeinde in Veranstaltungen gemeinsam Ausdruck und Form zu verleihen.
Anbetung: Mehr als nur Lieder
Das geschieht schon in der Bibel in erster Linie durch Lieder. Es sollte aber nicht nur bei den Liedern bleiben: Gesprochene Gebete, einzeln und gemeinsam, Lesungen, Körpersprache, Tanz, Malerei, Design, Medien, Geldgeben, Stille, Lebensberichte und mehr – unsere Anbetung sollte ganzheitlich, vielfältig und kreativ sein, so wie der Schöpfer selbst, der uns dazu einlädt. Natürlich werden wir nicht alle diese Ausdrucksformen gleich am nächsten Sonntag in unserer Gemeinde einführen können. Manche Formen brauchen ein wenig Zeit und Geduld, bis man mit ihnen vertraut wird. Auch wird nicht in jeder Gemeinde jede Form angemessen oder angebracht sein. Und es macht auch keinen Sinn, die Anbetung mit zu vielen verschiedenen kreativen Elementen zu überladen. Worauf es aber ankommt, ist, beweglich zu bleiben und sich nicht von der Macht der Gewohnheit einengen zu lassen. Und vielleicht kann man versuchen, wenigstens im Laufe eines Jahres einmal verschiedene Wege und Formen auszuprobieren, sodass der eigene Horizont sich mit der Zeit weitet und die „Zone der Vertrautheit“ innerhalb der Gemeinde größer wird.
Anbetung – mehr als ein Gefühl?
Ein zweites Missverständnis, das mir in Gemeinden oft begegnet, lautet: Anbetung ist eine Gefühlssache. Auch dieses Missverständnis ist bei Fans wie bei Skeptikern gleichermaßen verbreitet. Die Anbetungsfans jubeln: „Seit wir Anbetungslieder singen, gibt es endlich mal etwas mehr Gefühl in unserem Gottesdienst.“ Menschen berichten davon, dass sie Gottes Gegenwart in den Anbetungszeiten mehr erleben oder erfahren als in Predigten oder anderen Gebetszeiten. Die Lieder helfen ihnen dabei, ihrer Freude Luft zu machen oder ihre Liebe zu Jesus auszudrücken. Dadurch gibt es schnell diese Zuordnung: Anbetung ist was fürs Gefühl und die Predigt was für den Kopf. Manche Leute denken sogar: Anbetung ist nur dann echt, wenn sie mit „heiligen“ Gefühlen verbunden ist, wenn mir also bei jedem Lied warm ums Herz wird oder wenigstens die Tränen ordentlich fließen.
Die Kritiker warnen vor Manipulation und Gefühlsduselei, denn Glaube sei ja schließlich kein Gefühl. Vielen Menschen sind Anbetungslieder gerade deshalb suspekt, weil sie so gefühlsbetont sind.
Und dann gibt es die betont Nüchternen, die sagen: „Anbetung ist nichts für mich, ich bin eben kein Gefühlsmensch.“ Sie langweilen sich in Anbetungszeiten und wissen nichts mit sich anzufangen, weil sie eben nichts dabei „fühlen“.
Aber auch hier, wie schon beim ersten Missverständnis, erliegen beide, die Fans wie die Kritiker und Distanzierten, wieder einem solchen: Denn Anbetung ist kein Gefühl und weit mehr als nur eine Gefühlssache.