E-Book, Deutsch, 252 Seiten
Baltes Die verborgene Theologie der Evangelien
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-96362-923-5
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Die jüdischen Feste als Schlüssel zur Botschaft Jesu
E-Book, Deutsch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-96362-923-5
Verlag: Francke-Buch
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Jesu Botschaft hat die Welt verändert. Ein wichtiger Teil dieser Botschaft wird jedoch von Bibellesern oft übersehen: Es sind die zentralen Inhalte des jüdischen Glaubens, die im Neuen Testament überall vorausgesetzt sind, aber nie ausführlich erklärt werden, weil sie für jüdische Ohren so vertraut und selbstverständlich waren.
Dieses Buch führt ein in die zentralen Inhalte des jüdischen Glaubens, indem es die großen Feste des Kalenderjahres vorstellt: Neujahr, Laubhüttenfest, Passa, Pfingsten, der große Tag der Versöhnung und der Sabbat. Und damit zugleich die großen Linien von Schöpfung, Erlösung, Liebe, Schuld und Versöhnung, wie sie im Judentum verstanden werden. Daran knüpft Jesus an und macht die jüdischen Feste zum roten Faden seiner Lehre. Deshalb sind sie ein wichtiger Schlüssel, um seine Botschaft zu verstehen.
Autoren/Hrsg.
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2. Geheiligte Zeit:
Leben nach dem Rhythmus Gottes »Die Grundtatsachen des Glaubens liegen im Bereich der Zeit.«
Abraham Joshua Heschel Die Welt wurde mit einem inneliegenden Rhythmus erschaffen. Schon die ersten Sätze der Bibel sind geprägt durch den Wechsel von Tag und Nacht, Licht und Dunkelheit. Noch bevor Erde und Himmel, Festland und Meere geschaffen werden, beginnt der regelmäßige Rhythmus der Zeit: »Und es wurde Abend. Und es wurde Morgen. Tag eins.«7 Zeiträume sind Lebensräume, die Gott uns eröffnet. Der Rhythmus von Tag und Nacht bestimmt unseren Alltag und unser Leben heute genauso wie am Anfang der Zeitrechnung. Zwar können wir dank technischer Hilfsmittel inzwischen die Nacht zum Tag machen und die moderne Arbeitswelt erfordert immer öfter Lebensrhythmen von uns, die diesem grundlegenden Pulsschlag der Welt entgegenlaufen. Aber für die meisten von uns bleibt er nach wie vor bestimmend. Hinzu kommen die Wechsel von Woche und Wochenende, der Kreislauf der Monate und Jahreszeiten und die Spanne unserer Lebenszeit mit ihren Phasen von Geburt, Jugend, Reife, Alter und Tod. Und schließlich markiert die Bibel mit ihrem ersten und letzten Kapitel auch den Weltlauf der Geschichte zwischen Schöpfung und Vollendung. Als Christen und als Juden erleben wir diese Zeiträume als ein Geschenk Gottes und als einen Auftrag zur Gestaltung. Zeit will gestaltet werden, gefüllt durch Ruhe oder Tätigkeit. Unsere Lebenszeit soll nicht nur ziellos dahinfließen, sondern sie soll sinnvoll gefüllt werden. Um uns daran zu erinnern, flicht die Bibel besondere Feiertage und Feste in die Struktur der Zeit hinein. Haltepunkte und Wegweiser, die uns mitten im alltäglichen Strom der Zeit an die größeren Zusammenhänge des Lebens und der Weltzeit erinnern. Regelmäßig wiederkehrende Rituale, Feste und Feiertage sollen uns daran erinnern, an welchem Punkt der Zeit wir uns gerade befinden, wie wir an diesen Punkt gelangt sind und wohin unser Weg durch die Zeit von hier aus weiterführt. Ein altes Gebet, das »Schehechianu«, wird in der jüdischen Tradition zu vielen verschiedenen Anlässen, Festzeiten und Feiertagen gebetet und fasst treffend zusammen, worin der Sinn besteht, besondere Momente in der Zeit zu begehen und zu feiern: »Gepriesen bist du, Herr unser Gott, König der Welt,
der du uns lebendig gemacht und lebendig erhalten,
uns aufgerichtet und bewahrt hast,
und der du uns geführt hast
bis hinein in diesen Augenblick der Zeit.«8 Der jüdische Philosoph Abraham Joshua Heschel vergleicht die jüdischen Rituale mit der Arbeit eines Künstlers oder Architekten, der dem formlosen Strom der Zeit eine Gestalt verleiht: »Man kann das jüdische Ritual als die Kunst charakterisieren, der Zeit gültige Formen zu geben, als Architektur der Zeit. Die meisten dieser Rituale – der Sabbat, der Neumond, die Festzeiten, das Sabbatjahr und das Erlassjahr – hängen an einer bestimmten Stunde des Tages oder der Jahreszeit. So bringt z. B. der Abend, der Morgen oder der Nachmittag die Aufforderung zum Gebet mit sich. Die Grundtatsachen des Glaubens liegen im Bereich der Zeit. Wir gedenken an den Tag des Auszugs aus Ägypten. An den Tag, als Israel am Sinai stand. Und auch unsere messianische Hoffnung ist die Erwartung eines Tages: des Endes aller Tage.«9 Der Tag: Die kleinste Zeiteinheit der hebräischen Bibel Der Wechsel von Tag und Nacht, wie er in den ersten Sätzen der Bibel erzählt wird, bildet die kleinste Zeiteinheit im Rhythmus der Schöpfung. Es ist interessant, dass die hebräische Bibel weder Stunden, noch Minuten oder Sekunden kennt, um Zeit einzuteilen.10 Diese kleineren Zeiteinheiten spielen erst in späterer Zeit eine Rolle, als die Welt zunehmend an Tempo aufnimmt.11 Schon in den griechischen Teilen des Alten Testaments, den oft so genannten »Apokryphen«, und dann auch im Neuen Testament, ist eine Stundeneinteilung des Tages erkennbar. Schon damals gibt es also das, was wir heute die »Beschleunigung der Welt« nennen. Heute rechnen wir nicht nur in Minuten und Sekunden, sondern in winzigen Bruchteilen davon: Ein durchschnittlicher PC arbeitet mit einem Rhythmus von 4 Milliarden Schlägen pro Sekunde. Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen und manches gerät dabei aus den Fugen. Der Jenaer Soziologe Hartmut Rosa, derzeit einer der populärsten Gesellschaftsforscher in Deutschland, bezeichnet diese anhaltende Beschleunigung unserer Zeit als die größte Herausforderung für die moderne Gesellschaft.12 Weil die verschiedenen Bereiche unseres Lebens immer schneller ticken, aber gleichzeitig in unterschiedlichem Tempo, wächst in uns das Gefühl, aus dem Takt zu sein, nicht mehr im Einklang mit anderen Menschen, mit der Natur oder mit dem Universum. Rosa nennt dieses Gefühl »Entfremdung«. Gelungenes Leben dagegen erfahren wir in Momenten, in denen wir uns im Einklang miteinander oder mit der Welt erleben. »Resonanzerfahrungen« nennt Hartmut Rosa das.13 Wie zwei Pendel oder Metronome, die sich auf ein gemeinsames Tempo einschwingen und für einen Augenblick lang im gleichen Takt schlagen. Wir sehnen uns nach solchen Momenten und erleben sie doch immer seltener. Jeder neue Tag ist eine Chance, sich neu einzustellen auf den Herzschlag, den Gott in seine Schöpfung hineingelegt hat. In der jüdischen Tradition soll der Mensch am Morgen, noch bevor er aufsteht, sein Leben auf Gott ausrichten und ein kurzes Dankgebet sprechen, das »Modeh ani«: »Ich bin dir dankbar, du lebendiger und beständiger König, dass du mir meine Seele zurückgegeben hast. Groß ist deine Treue.«14 Hinter diesem Gebet steht die tiefe Einsicht, dass wir unser Leben und unsere Seele jeden Morgen neu als ein Geschenk von Gott anvertraut bekommen: Am Abend legen wir sie in Gottes Hand, am Morgen erhalten wir sie von ihm zurück. Rabbi Akiba hat es einmal so ausgedrückt: »Alles ist uns auf Bürgschaft gegeben: Der Laden steht offen, der Krämer leiht aus, die Schreibtafel ist aufgeschlagen und seine Hand schreibt. Und jeder, der borgen will, kommt und borgt. Und die Einnehmer gehen beständig an jedem Tag herum und machen sich von dem Menschen bezahlt mit seinem Wissen und ohne sein Wissen. Sie haben ihre Aufzeichnungen, auf die sie sich stützen, und das Gericht ist ein gerechtes Gericht, und alles ist zum Festmahl bereitet.«15 Neben dem individuellen Gebet zum Aufstehen gibt es in der jüdischen Tradition auch festgesetzte Gebetszeiten zu verschiedenen Tageszeiten. Am Morgen (schacharit), am Nachmittag (mincha) und am Abend (ma’ariv). Diese Gebetszeiten lehnen sich an die Tageszeiten an, an denen zu biblischer Zeit im Tempel von Jerusalem die gemeinschaftlichen Opfer gebracht wurden.16 Dass diese regelmäßigen Gebetszeiten sehr alt sind, ist auch daran zu erkennen, dass sowohl im Alten als auch im Neuen Testament Gebete zur Zeit des mincha-Opfers ausdrücklich erwähnt sind.17 Nach einer alten rabbinischen Auslegung wurden die drei Gebetszeiten sogar schon von den drei Erzvätern Abraham, Isaak und Jakob eingeführt: »Eine Überlieferung von Rabbi Josef ben Hanina und Rabbi Josua ben Levi besagt: Schon Abraham führte das Morgengebet ein. Denn die Schrift sagt: ›Und Abraham machte sich früh auf zu dem Ort, wo er vor dem Herrn stand‹18 Und was bedeutet ›stehen‹, wenn nicht das Gebet? Denn schon in den Psalmen steht: ›Pinehas stand und betete‹19. Isaak führte das Nachmittagsgebet ein. Denn es steht geschrieben: ›Und er war ausgegangen um sein Herz auszuschütten auf dem Felde am Nachmittag‹.20 Und was ist ›sein Herz ausschütten‹, wenn nicht das Gebet’? Denn schon in den Psalmen steht: ›Ein Gebet für den Elenden, der sein Herz vor dem Herrn ausschüttet‹.21 Jakob schließlich führte das Nachtgebet ein. Denn es steht geschrieben: ›Und er traf auf die Stätte bei Nacht‹.22 Und was bedeutet ›antreffen‹, wenn nicht das Gebet? Denn schon im Propheten Jeremia steht: ›Du sollst für dieses Volk nicht bitten, nicht klagen, nicht beten und du wirst mich nicht antreffen!‹«23 Vor Gott stehen, sein Herz vor Gott ausschütten und Gott begegnen: Drei Bilder für das, was im Gebet geschieht. Anders als das »modeh ani« soll man die drei täglichen Gebetszeiten allerdings in Gemeinschaft mit anderen gestalten. Mindestens zehn Männer über 13 Jahre bilden eine rechtlich gültige Gebetsversammlung (minyan), die sich möglichst in einer Synagoge oder einem anderen zum Beten geeigneten Raum trifft.24 Wo keine Synagoge erreichbar ist, sind aber auch andere passende Orte möglich. In Israel sieht man z. B. oft zu den Gebetszeiten kleine Gebetsgruppen am Rand der Autobahn stehen und auch in Flughäfen oder sogar im Mittelgang eines Flugzeugs kann es vorkommen, dass sich solche Gruppen spontan bilden. Dadurch, dass man die täglichen Gebete im Stehen betet, dabei den blau-weißen Gebetsschal (tallit) über den Kopf legt und auch die Gebetsriemen (tefillin) um den Arm und um die Stirn legt, sind die Gebetsgruppen in der Öffentlichkeit deutlich...