E-Book, Deutsch
Ballantyne Wenn du vergisst
1. Auflage 2017
ISBN: 978-3-641-16310-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch
ISBN: 978-3-641-16310-5
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Lisa Ballantyne wurde 1975 in Armsdale, Schottland geboren, wo sie Englische Literatur studierte. Sie hat einige Jahre in China gelebt, wo sie in den Bereichen Internationale Entwicklung und Bildung tätig war. 2002 kehrte sie in ihre Heimat zurück und arvbeitet seitdem im International Office der Universität Glasgow. "Der Schuldige" ist ihr erster Roman.
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2
Big George
Freitag, 27. September 1985
Big George stieg mit dem Bier in der Hand auf den Tisch und stimmte »Sweet Caroline« an. Er war eins siebenundachtzig groß, hatte schwarze Haare und strahlend blaue Augen mit längeren Wimpern als seine einzige Schwester Patricia. Von den McLaughlins sah er am besten aus und war deswegen jahrelang mit allem durchgekommen. Er war der Liebling seiner Mutter gewesen und konnte genauso gut singen wie sie, nur dass sie jahrelang keinen Anlass mehr zu singen gehabt hatte.
George war schon beim vierten Bier, und seine Augen blitzten mutwillig. Alle in der Bar drehten sich ihm zu und klatschten im Takt. Die McLaughlins zogen immer Aufmerksamkeit auf sich, doch normalerweise, weil der Ruf der Gewalttätigkeit sie umgab. Georgie-Boy war anders. Die meisten Leute im East End von Glasgow kannten ihn und behandelten ihn wegen seiner Familie mit Vorsicht, aber wer ihn näher kannte, behauptete, George sei ein sanfter Riese. Georges Vater Brendan hielt ihn für einen Weichling, aber andererseits war Brendan McLaughlin ohnehin der Härteste.
George stützte sich auf Tam Driscolls Schulter, als er nach seinem spontanen Auftritt vom Tisch kletterte. Ein älterer Mann, der das Portland Arms verließ, klopfte ihm auf den Rücken. »Alle Achtung, Neil Diamond.«
»Hau ab!«, erwiderte George über die Schulter hinweg, doch seine Augen strahlten wegen des Kompliments.
»Noch einen, Großer?«, fragte Tam.
George nickte, wischte sich mit dem Unterarm den Schweiß von der Stirn und stellte sein leeres Glas auf der Theke ab. Als Tam das bestellte Bier bekam, war ein Tisch in der Nähe der Bar frei geworden, und da George nach seinem Auftritt erschöpft war, setzte er sich dorthin und fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
Tam arbeitete seit Neuestem bei George in der Werkstatt der McLaughlins an der Shettleston Road. Der Betrieb stand mehr oder weniger auf legalen Beinen, aber das galt nicht unbedingt für alles, was dort gemacht wurde. Die Werkstatt war so weit ins Familienunternehmen eingebunden, wie George es gerade noch tolerierte. Tam war Mechaniker, und zwar ein guter, doch hatte er den Job nur angenommen, weil er fast ein Jahr arbeitslos gewesen war.
»Ich will in nichts verwickelt werden«, flüsterte er George zu, Gesicht und Hände ölverschmiert, wann immer Georges älterer Bruder Peter auftauchte und, nervös die behandschuhten Hände verschränkend und lösend, ihre Arbeit begutachtete. Peter hatte das Geschäft übernommen, als ihr Vater vor Jahren, vermutlich für immer, verschwunden war.
»Ich doch auch nicht«, versicherte George ihm dann.
In den wenigen Wochen, die sie sich kannten, hatte George ihm als Zeichen seines Wohlwollens und Vertrauens einige persönliche Dinge erzählt, von ihm jedoch bisher nur hier und da einen Abend in der Kneipe und ein paar Bier zurückbekommen.
George verstand Tams Angst und hatte beschlossen, sich in Geduld zu üben. Sein Vater hatte sich einen Namen als Eintreiber für einen der führenden Glasgower Geldverleiher gemacht. Selbst jetzt saßen mindestens zwei, drei Männer in der Bar, die von den McLaughlins verletzt worden waren. Einer der Männer, die George applaudiert hatten, war Giovanni DeLuca, dem die Frittenbude an der Ecke gehörte. Allein sein Anblick im Publikum hatte George so aus dem Takt gebracht, dass er eine Liedzeile vergaß, obwohl alle das dem Bier zuschrieben. Er hatte gesehen, wie Giovanni mit seiner bleichen, mageren Hand gegen die andere, dunkelbraune schlug. Als Vierzehnjähriger hatte George miterlebt, wie sein Vater Giovannis Hand tief in sprudelndes Frittierfett getaucht hatte.
Langsam und darauf bedacht, das Bier nicht zu verschütten, kam Tam zum Tisch. Er war einen ganzen Kopf kleiner als George, aber fünfzehn Jahre älter, dünn und drahtig, mit kurzen grauen Haaren. Er hatte George beigebracht, wie man einen Motor entlüftete und einen Auspuff wechselte. George, der nie ein guter Schüler gewesen war, hatte entdeckt, dass er über Autos gerne alles lernte, und konnte schnell umsetzen, was Tam ihm beibrachte. Für ihn war Tam ein Ersatzvater: wohlwollend, wo Brendan, Gott mochte seiner Seele gnädig sein, gemein gewesen war.
»Du kannst einfach nicht anders, wie, Großer?«
»Geht doch nichts über ein Liedchen, um die Stimmung zu heben.«
»Wenn du es sagst.«
George trank noch einen Schluck von seinem Bier. »Nein, nein, diesmal nicht«, sagte er mit schwerer Zunge und tätschelte Tam am Brustkorb. »Nicht: wenn ich es sage. Ich will …«, George unterdrückte ein Aufstoßen, »… einmal hören, was du zu sagen hast. Du bist der Mann, der Macher. Du bist mein Lehrer, mein Meister.«
»Ach was! Was redest du da!«
»Nein, ich mein’s ernst. Ich hab ernsthaft Respekt vor dir. Ernsthaften Respekt. Aber du redest nie über dich selbst. Erzähl mir was von dir – von DIR – was ist bei dir so los?«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen«, entgegnete Tam.
Trotz seiner Angetrunkenheit merkte George doch, dass sein Freund beunruhigt war. George hatte die Statur von seinem Vater geerbt, aber das Herz von seiner Mutter. Seine Brüder, und seine Schwester noch mehr, hatten sich gegen die Gewalt verhärtet. George und seine Mutter jedoch hatten Mitgefühl, eine Perle im Schmutz und Schlamm ihres Lebens, die sie sich gegenseitig poliert hatten. Seine Mutter war erst letztes Jahr gestorben, und zwar grausamer- und ungerechterweise an einer simplen Infektion, nachdem sie Jahrzehnte der Gewalt überlebt hatte.
»Du hast eine Familie«, beharrte George. »Du erzählst aber nie über sie.«
»Da gibt’s nicht viel zu erzählen.«
Tams Miene war starr, nur seine Augen zuckten.
»Du hast eine Tochter. Wie alt ist sie?«
»Fünfzehn«, sagte Tam mit schwacher Stimme, als gestehe er etwas.
»Ich frag doch bloß«, sagte George und drückte dem Älteren den Arm. »Ich will dich nur besser kennenlernen, Herrgott noch mal. Wenn dir das zu persönlich ist, kannst du mir einfach sagen, ich soll mich verpissen. Schließlich bin ich nicht dein Beichtvater.«
Tam nickte. Wieder meinte George, etwas in seinem Blick zu sehen.
»Du bist gar nicht katholisch, oder?«
»Meine Mutter war katholisch. Ich hab nichts gegen …«
»Es kümmert mich einen Scheiß, woran du glaubst. Herrgott, es ist schwer genug, überhaupt an was zu glauben, oder? Du bist mein Kumpel, und wenn du ein Protestantischer bist, ist mir das egal.«
Tam sagte nichts, sondern nickte nur. Ihm stand der Schweiß auf der Stirn. George trank noch einen Schluck Bier und beschloss, sich an seine bisherige Taktik zu halten und von sich zu erzählen. Blieb zu hoffen, dass Tam irgendwann sein Vertrauen erwiderte.
»Du hast Glück«, bemerkte George, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück. Sie saßen nebeneinander auf der mit rotem Kunstleder bezogenen Bank. Weil er wollte, dass sein Kumpel sich entspannte, blickte er bewusst zur ovalen Bar. »Ich beneide dich um deine Tochter. Es verändert einen Mann, wenn er eine Tochter hat. Das heißt, meinen Vater natürlich nicht, aber der war auch speziell. Mich jedenfalls hat es verändert.«
George holte tief Luft. Allein das Wort Tochter brachte ihn schon aus der Fassung. Es war wie ein Riss in seiner Trunkenheit, ein Portal in einen anderen Bewusstseinszustand.
»Ich wusste gar nicht, dass du eine Tochter hast«, sagte Tam leise.
Da wandte sich George wieder zu ihm und grinste breit. »Hier, guck dir das mal an«, sagte er, knöpfte sein Hemd auf und zog es zurück, um Tam seine Brust zu zeigen. Dort prangte direkt über seinem Herzen in roter Tinte der Name Moll.
»Moll war deine Tochter?«, fragte Tam und trank einen Schluck.
»Nein, sie ist meine Tochter. Sie ist nicht tot. Sie lebt.«
Tam leckte sich über die Lippen. George sah ihm an, dass er mehr wissen wollte, sich aber nicht zu fragen traute. Er trank selbst einen Schluck Bier, und dann erzählte er Tam die ganze Geschichte.
»Kathleen Jamieson wirst du nicht kennen. Ich kam direkt nach der Schule mit ihr zusammen, und wie ich schon mal sagte, wurde ich mit knapp vierzehn rausgeschmissen, also fing ich früh an. Sie war meine erste große Liebe … und wohl auch meine einzige. Wir waren fünf, sechs Jahre zusammen, den größten Teil davon heimlich, weil ihre Familie was gegen mich hatte. Sie war ein nettes Mädchen, weißt du? Na ja, wir passten nicht auf, und sie wurde schwanger. Ich freute mich darüber, denn im Gegensatz zu anderen Typen wollte ich immer heiraten und Kinder haben. Schon als ich sechs, sieben Jahre alt war, träumte ich davon, irgendwann eine eigene Familie zu gründen …« George unterbrach sich und lachte. »Wahrscheinlich, weil meine ein einziger beschissener Albtraum war, oder?«
Tam erlaubte sich ein Lächeln. Dazu verzog er nur einen Mundwinkel, doch seine andere Gesichtshälfte blieb wachsam, fast traurig.
»Ihre Familie war echt fromm – du kennst doch die Sorte: für jeden Furz ein Ave Maria. Also war es schon schlimm genug, dass sie unverheiratet schwanger wurde, aber dann auch noch von so einem? Tja, natürlich beschlossen sie, dass sie das Baby kriegen musste. Ich kam sofort mit Verlobungsring und allem an, aber davon wollten sie nichts wissen. Sie sagten, sie hätte eine Fehlgeburt gehabt und würde sich jetzt bei einer Tante erholen. Ich war sicher, dass sie sie wie in den Sechzigern in ein Kloster gesteckt hatten. Das meinte jedenfalls meine Mutter. Sie war die Einzige aus meiner Familie, der ich es erzählt hab …...




