E-Book, Deutsch, Band 1, 560 Seiten
Reihe: Die Memory-Man-Serie
Baldacci Memory Man
1. Auflage 2016
ISBN: 978-3-641-18213-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Thriller
E-Book, Deutsch, Band 1, 560 Seiten
Reihe: Die Memory-Man-Serie
ISBN: 978-3-641-18213-7
Verlag: Heyne
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Seit einem dramatischen Unfall kann Amos Decker nichts mehr aus seinem Gedächtnis tilgen. Eine Eigenschaft, die ihn zu einem perfekten Ermittler werden lässt. Bis seine Familie bestialisch ermordet wird und er unter der Flut der unlöschbaren Bilder fast zerbricht. Ein Jahr später taucht ein Mann auf und bekennt sich zu der Tat. Und noch während Decker verwirrt feststellt, dass der Mann lügt, findet erneut ein Massaker statt, diesmal an Deckers alter Schule. Wie hängen die Verbrechen zusammen? Wurden sie nur begangen, um Decker zu treffen? Und wird es ihm gemeinsam mit seiner früheren Kollegin gelingen, den Wahnsinn zu stoppen?
David Baldacci, geboren 1960 in Virginia, arbeitete lange Jahre als Strafverteidiger und Wirtschaftsjurist in Washington, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete. Sämtliche Thriller von ihm landeten auf der New York Times-Bestsellerliste. Mit über 150 Millionen verkauften Büchern in 80 Ländern zählt er zu den beliebtesten Autoren weltweit.
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1
Blau. Lähmendes, bedrückendes Blau. Das war die Farbe, mit der Amos Decker die drei gewaltsamen Tode für immer in Verbindung bringen würde. Es waren Erinnerungen, die jedes Mal plötzlich und gewaltsam sein Inneres durchschnitten wie Schlachtermesser aus farbigem Licht. Er würde nie davon frei sein.
Die Observierung hatte lange gedauert und letzten Endes zu keinem Ergebnis geführt. Als Decker nach Hause gefahren war, hatte er sich darauf gefreut, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, bevor er wieder hinaus auf die Straße musste. Er war auf die Einfahrt seines bescheidenen zweistöckigen Hauses eingebogen, das fünfundzwanzig Jahre auf dem Buckel hatte und das er mindestens genauso lange noch würde abbezahlen müssen. Der Regen hatte den Bürgersteig glatt gewaschen; als Deckers Stiefel von der Größe 48 die Pflastersteine berührt hatten, war er ein wenig gerutscht, bevor er Bodenhaftung bekam. Leise hatte er die Wagentür zugedrückt, denn er war sicher gewesen, dass zu dieser späten Stunde alle im Haus schliefen. Dann war er bedächtig zur Küchentür mit dem Fliegengitter gegangen und hatte aufgeschlossen.
Es war damit zu rechnen gewesen, dass das Haus so still dalag. Aber nicht damit, dass es zu still dalag. Nur dass Decker es in diesen Sekunden gar nicht wahrnahm (und sich später nach dem Grund dafür fragte). Ein Versagen mehr in dieser grauenhaften Nacht. Er hatte in der Küche haltgemacht und sich ein Glas Leitungswasser eingeschenkt, hatte es mit einem tiefen Schluck geleert und das Glas ins Spülbecken gestellt. Dann hatte er sich das Kinn abgewischt und war ins Nebenzimmer gegangen.
Wo er schon wieder ausrutschte. Diesmal schlug sein massiger Körper der Länge nach hin. Es war ein glattes Parkett mit Fischgrätmuster, auf dem er schon öfter ausgeglitten war. Diesmal aber stürzte er aus einem ganz anderen Grund, wie er bald feststellte. Es fiel genug Mondlicht durchs Fenster, dass er deutlich sehen konnte.
Als er die Hand hob, schimmerte sie dunkel.
Feucht. Rot.
Blut.
Verdammt, wo kam das Blut her?
Decker rappelte sich auf, um es herauszufinden.
Er entdeckte die Quelle im nächsten Zimmer. Johnny Sacks, sein Schwager. Ein großer, massiger Mann wie Decker selbst, jetzt der Länge nach ausgestreckt. Decker ging auf die Knie, beugte sich vor, bis sein Gesicht nur eine Handbreit von dem Johnnys entfernt war. Jemand hatte ihm die Kehle durchgeschnitten, von einem Ohr zum anderen. Es wäre absurd gewesen, nach einem Puls zu fühlen; es konnte keinen mehr geben. Der größte Teil von Johnnys Blut war auf den Boden geflossen.
Decker hätte in diesem Augenblick sein Handy hervorholen und den Notruf wählen können, aber er wusste es besser. Er wusste, dass man nicht an einem Tatort herumtrampeln durfte – und genau das war sein Haus nun geworden, dank des toten Johnny, der so unverkennbar durch Gewalteinwirkung ums Leben gekommen war. Das Haus war jetzt wie ein Museum: Man durfte nichts anfassen. Ja nichts anfassen! Deckers professionelles Ich schrie es geradezu.
Aber das war nur eine Leiche.
Deckers Blick zuckte zur Treppe. Sein Verstand löste sich plötzlich von ihm, als ihn Panik erfasste, die jede Faser seines Seins vibrieren ließ. Er fühlte tief im Bauch, dass das Leben ihm gerade alles genommen hatte, was er besaß und jemals besitzen würde.
Decker rannte los. Seine Stiefel patschten durch die Pfützen halb geronnenen Blutes.
Er zerstörte wichtige Beweise. Er berührte, was unberührt hätte bleiben sollen. Er veränderte, was niemals hätte verändert werden dürfen. In diesem Augenblick war es ihm scheißegal.
Er trug Johnnys Blut die Treppe hinauf, als er drei Stufen auf einmal nahm. Sein Atem ging keuchend, sein Herz schlug rasend schnell und heftig; es fühlte sich seltsam aufgebläht an, sodass es Decker wie ein Wunder erschien, dass es nicht den Brustkorb sprengte. Sein Verstand war wie gelähmt, doch seine Arme und Beine bewegten sich wie aus eigenem Antrieb.
Er gelangte in den Flur, prallte zuerst von der einen Wand ab, dann von der anderen, während er zur ersten Tür rechts rannte. Er holte seine Pistole gar nicht erst hervor; ihm kam nicht einmal der Gedanke, dass der Mörder noch hier sein könnte und darauf wartete, dass er, Amos Decker, nach Hause kam.
Er rammte die Tür mit der Schulter auf, schaute sich hektisch um.
Nichts.
Nein, falsch.
Decker erstarrte auf der Schwelle, als die Lampe auf dem Nachttisch schwach den nackten Fuß erhellte, der auf der anderen Bettseite auf der Matratze lag und unter dem Laken hervorragte.
Er kannte diesen Fuß. Er hatte ihn im Lauf vieler Jahre gehalten, massiert, gelegentlich auch geküsst. Er war lang und schmal, dieser Fuß, und noch immer schön geformt. Der Zeh neben dem großen war etwas länger, als er hätte sein sollen. Die blauen Äderchen um den Knöchel herum, die Schwielen unter der Fußsohle, die rot lackierten Nägel – alles war, wie es sein sollte. Sah man davon ab, dass der Fuß zu dieser Stunde nicht über der Matratze hätte hervorstehen sollen. Denn das bedeutete, dass der Rest des Körpers auf dem Boden lag.
Und warum sollte das der Fall sein?
Es sei denn …
Decker taumelte zur gegenüberliegenden Bettseite und schaute hinunter.
Cassandra Decker, von allen nur »Cassie« genannt, auch und vor allem von ihm, blickte vom Boden zu ihm hoch. Das heißt, »blicken« konnte sie eigentlich nicht mehr. Decker stolperte zwei Schritte vorwärts, blieb neben ihr stehen und ließ sich dann langsam zu der Toten hinunter, bis die Knie seiner Jeans in der Blutpfütze ruhten, die sich neben Cassies Leiche gesammelt hatte.
Ihr Blut.
Ihr Hals war unversehrt, wies keine Verletzung auf. Das war nicht die Quelle, aus der das Blut geströmt war. Es war ihre Stirn.
Eine einzige Eintrittswunde. Decker wusste, dass er es nicht hätte tun dürfen, doch er hob ihren Kopf behutsam mit dem Arm hoch und drückte ihn an seine Brust, die sich unter schweren Atemzügen hob und senkte. Ihr langes dunkles Haar breitete sich schimmernd und üppig auf seinem Arm aus. Der Punkt auf ihrer Stirn war geschwärzt und blasig von der Glut der Kugel.
Eine Kontaktwunde, der der Kuss einer Mündung vorausgegangen war, der nur eine Sekunde gedauert hatte, bevor das Projektil Cassies Leben ein Ende bereitete. Hatte sie geschlafen? War sie wach gewesen? Hatte sie die Angst ertragen müssen, ihren Mörder vor sich stehen zu sehen?
All diese Fragen schossen Decker durch den Kopf, als er seine Frau wohl zum letzten Mal in den Armen hielt.
Er legte sie dorthin zurück, wo er sie gefunden hatte, blickte hinunter auf das Gesicht, weiß und leblos, schaute auf das geschwärzte Loch auf der Stirn, das seine letzte Erinnerung an sie sein würde, ein grammatikalischer Punkt ganz am Ende.
Von allem.
Er stand auf. Seine Beine fühlten sich taub an, als er den Raum verließ und über den Flur zum einzigen anderen Zimmer hier oben taumelte.
Er öffnete die Tür nicht gewaltsam, denn er hatte jetzt keine Eile mehr. Er wusste, was er finden würde. Nur eines wusste er nicht. Noch nicht. Wie der Mörder auch sie umgebracht hatte.
Bei Johnny ein Messer. Bei Cassie eine Pistole.
Und bei Molly?
Sie war nicht im Kinderzimmer, womit das angrenzende Bad übrig blieb.
Die Deckenlampe war eingeschaltet und tauchte den Raum in helles Licht. Der Mörder hatte offensichtlich gewollt, dass Decker diese letzte Tat in allen Einzelheiten sah.
Und da saß sie, auf der Toilette. Der Gürtel ihres Bademantels war um den Spülkasten geschlungen und hielt ihre kleine Leiche, sonst wäre sie nach vorn gekippt.
Langsam ging er zu ihr, rutschte diesmal nicht aus. Es gab kein Blut. Sein kleines Mädchen hatte keine Verletzungen, die er auf den ersten Blick sehen konnte. Doch als er näher trat, sah er die Würgemale an ihrem Hals, hässlich und gefleckt, als hätte jemand sie dort eingebrannt. Vielleicht hatte der Mörder den Gürtel des Bademantels benutzt. Vielleicht auch nur die Hände. Decker wusste es nicht, und es war ihm gleichgültig. Tod durch Erwürgen war nicht schmerzlos, sondern qualvoll. Und Molly hatte dort gesessen und zum Täter hochgeschaut, während er langsam das Leben aus ihr drückte.
Molly wäre in drei Tagen zehn Jahre alt geworden. Sie hatten eine Geburtstagsfeier vorbereitet, Gäste eingeladen, Geschenke gekauft und eine Schichttorte mit Schokoladenfüllung bestellt. Decker hatte sich freigenommen, um Cassie zu helfen, weil sie Vollzeit arbeitete und so ziemlich alles im Haushalt erledigte, weil er keinen Achtstundenjob mit festen Arbeitszeiten hatte, nicht einmal annähernd. Sie hatten Witze darüber gemacht. Was wusste er schon vom wirklichen Leben? Einkaufen? Überweisungen ausfüllen? Molly zum Arzt fahren?
Nichts, wie sich herausstellte. Verdammt, nicht das Geringste. Er hatte keinen blassen Schimmer.
Decker setzte sich vor seiner toten Tochter auf den Boden und legte die langen Beine übereinander, wie sein kleines Mädchen es gern getan hatte, sodass der rechte Fuß auf dem linken Oberschenkel lag, der linke auf dem rechten Oberschenkel. Er war für einen so großen Mann sehr biegsam. Die Lotusposition, dachte er benommen. Oder so ähnlich. Er wusste nicht, warum er das dachte; er wusste nur, dass er unter Schock stand.
Mollys Augen waren weit aufgerissen und starrten zu ihm zurück, ohne ihn wahrzunehmen. Wie die Augen ihrer Mutter. Cassie und Molly würden ihn nie...