Baierl / Frey Praxishandbuch Traumapädagogik
3., unveränderte Auflage 2016
ISBN: 978-3-647-99627-1
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lebensfreude, Sicherheit und Geborgenheit für Kinder und Jugendliche
E-Book, Deutsch, 294 Seiten
ISBN: 978-3-647-99627-1
Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Lebensfreude, Vertrauen in sich und andere sowie die Erfahrung, das Leben in die eigenen Hände nehmen zu können, gehören zu den wichtigsten Zielen in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. In diesem Buch beschreiben erfahrene Traumapädagogen, wie dies im Alltag gelingen kann. Der Fokus liegt auf der pädagogischen Praxis im Gruppensetting, aber auch die Einzelarbeit wird berücksichtigt. Besonderer Wert wird auf die unmittelbare Umsetzbarkeit der Inhalte im erzieherischen Alltag gelegt. Die beständige Rückbindung der Praxis an den aktuellen traumatologischen Kenntnisstand bewirkt, dass die vorgestellten Methoden in ihrer Sinnhaftigkeit begriffen und somit individuell angepasst werden können. Zudem erleichtert dies, bei Bedarf eigene zielgerichtete Vorgehensweisen zu entwickeln. Im gesamten Band wird deutlich, wie durch die Verbindung von hoher Fachlichkeit und einer wertschätzend liebevollen Haltung sich selbst und den Betreuten gegenüber ein heilsames Milieu erwächst. Das 'Praxishandbuch Traumapädagogik' ist ein Destillat der aktuellen traumapädagogischen Theorie, eine Erfahrungsweitergabe von Praktikern für Praktiker und ein Grundlagenwerk zur Weiterentwicklung der eigenen traumapädagogischen Kompetenzen.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Pädagogik Teildisziplinen der Pädagogik Sozialpädagogik
- Sozialwissenschaften Psychologie Psychotherapie / Klinische Psychologie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
- Sozialwissenschaften Pädagogik Pädagogik Pädagogische Psychologie
- Sozialwissenschaften Soziologie | Soziale Arbeit Soziale Arbeit/Sozialpädagogik Soziale Arbeit/Sozialpädagogik: Familie, Kinder, Jugendliche
Weitere Infos & Material
Martin Baierl 1 Mit Verständnis statt Missverständnis: Traumatisierung und Traumafolgen 1.1 Vorbemerkung Jede pädagogische Handlung ist letztendlich eine Begegnung von Mensch zu Mensch. Echte Begegnung – und somit zielführendes wie sinnvolles pädagogisches Handeln – setzt voraus, dass wir uns selbst kennen, bereit sind, den anderen kennenzulernen und uns in gegenseitiger Würde zu begegnen. Darauf wird in Beitrag 2 noch verstärkt eingegangen. Ein Teil des Begegnungsprozesses ist der Aufbau von gemeinsamen Wirklichkeitskonstruktionen (vgl. Mücke, 2003). Wir alle leben in der jeweils eigenen Wirklichkeit, je nachdem, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten, welche Bedeutung wir dem Wahrgenommenen geben und welche Schlüsse wir daraus ziehen. Dieser Beitrag beschreibt zum einen den Wirklichkeitsrahmen, innerhalb dessen die nachfolgenden Beiträge zu verstehen sind. Zum anderen legt er ein Fundament, das es erleichtert, die Wirklichkeiten traumatisierter Kinder und Jugendlicher zu verstehen. Geht es doch in der Arbeit mit traumatisierten Jungen und Mädchen immer auch darum, mit ihnen zusammen ein gemeinsames Verstehensmodell von normalem wie gestörtem Erleben und Verhalten zu entwickeln (vgl. Landolt u. Hensel, 2012). Aus diesem gemeinsamen Verständnis heraus ist es einfacher, für sie und mit ihnen gemeinsam individuelle Wege des heilsamen Miteinanders zu entwickeln. Traumatisierte Kinder und Jugendliche sind jedoch in erster Linie Kinder und Jugendliche. Wann es sinnvoll oder notwendig ist, eine traumaspezifische Brille aufzusetzen, und wann andere Betrachtungsweisen hilfreicher sind, muss im Einzelfall geklärt werden. 1.2 Häufigkeit von Traumatisierung Als Fortbilder, Supervisor oder Berater bin ich mit einer Vielzahl von Institutionen der Jugendhilfe und Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie im deutschsprachigen Raum vertraut. In der Regel berichten diese, dass circa 50 bis 75 % – und nicht selten 80 bis 100 % – der von ihnen betreuten jungen Menschen unter psychischen Störungen leiden. Dies deckt sich mit den aktuellen wissenschaftlichen Studien zu diesem Gebiet (z. B. Schmid, 2007; Ford, Vostanis, Meltzer, Goodman, 2007; Blower, Addo, Hodgson, Lamington u. Towlson, 2004; Hukkanen, Sourander, Bergroth u. Piha, 1999; McCann, James, Wilson u. Dunn, 1996). Mindestens 60 % der Kinder und Jugendlichen in Jugendhilfeeinrichtungen erfüllen die ICD-10-Kriterien für mindestens eine psychische Störung und über ein Drittel der dort Betreuten zeigt komplexe Symptomatiken mehrerer miteinander verwobener Störungsbilder. Dies ist sechs Mal so häufig wie der Bundesdurchschnitt bei Minderjährigen (Bundespsychotherapeutenkammer, 2013). Nachdem traumatische Erlebnisse einen Hauptrisikofaktor für psychische Störungen darstellen (Sugaya et al., 2012), ist es schwer nachvollziehbar, dass kaum systematische Erfassungen von Traumatisierungen bei fremduntergebrachten Kindern und Jugendlichen vorliegen. Traumafolgestörungen sind nach Schmid (2013) bei fremdplazierten Kindern eher die Regel als die Ausnahme. Laut Jaritz, Wiesinger und Schmid (2008) hatten mindestens 75 % der fremduntergebrachten Mädchen und Jungen in zumindest einem Lebensbereich (schwere Unfälle, Vernachlässigung, Zeuge körperlicher oder sexueller Gewalt, emotionale Misshandlung, körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch) ein oder mehrere traumatische Erlebnisse, über die Hälfte hatte traumatische Lebensereignisse in mehreren dieser Bereiche und fast ein Sechstel hatte traumatische Erfahrungen in über vier dieser Bereiche. Zwar erleben auch 50 bis 60 % der Gesamtbevölkerung zumindest einmal im Leben ein Ereignis, das die Stressorkriterien der Posttraumatischen Belastungsstörung erfüllt (Schnyder, 2000), aber insgesamt entwickeln laut DSM-IV nur 1 bis 14 % der Gesamtbevölkerung eine entsprechende Traumafolgestörung. 1.3 Definition von Traumatisierung »Trauma« ist keine feste Einheit, die immer gleich bleibt. Daher wird hier der Begriff »Traumatisierung« bevorzugt, der Prozesshaftigkeit und Dynamik beinhaltet. Die ICD-10 (»International Classification of Diseases« in der 10. Überarbeitung; Dilling, Mombour u. Schmidt, 2000) ist das im deutschen Gesundheitssystem verbindliche Klassifizierungssystem für psychische Störungen. »Psychische Störung« wird dort als eine längerfristige Veränderung von Fühlen, Denken und Verhalten, das von der allgemeinen Norm abweicht, (nicht triviales) Leid verursacht und das soziale Miteinander erschwert oder verunmöglicht, beschrieben. Als eine Untergruppe davon wird Traumatisierung als »Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde« definiert. Im DSM-5 (APA, 2013), dem Klassifikationssystem der Amerikanischen Psychiatrischen Gesellschaft, das häufig für internationale Forschungsvorhaben genutzt wird, werden vor allem Situationen, die extreme körperliche Bedrohungen (inklusive sexuellem Missbrauch) bei sich oder anderen beinhalten, als Voraussetzungen für Traumafolgestörungen anerkannt. Sack (2013) betont dagegen, dass vielgestaltige lang anhaltende Belastungen über die Zeit hinweg ähnliche Auswirkungen haben können. Für die Behandlung – und somit auch für die Pädagogik – sei es nicht relevant, ob ein »Trauma« im eigentlichen Sinne vorliege. Anders, Shallcross und Frazier (2012) betonen ebenso, dass neben den klassischen Extremerlebnissen auch wiederholte und starke Kränkungen im Alltag (etwa durch Mobbing, Ausgrenzung oder Abwertung) zu für Traumatisierung typischen Symptomen führen können. Shore (2001) fasst unter »Bindungs- und Beziehungstrauma« zusammen, wie nicht nur Missbrauch und Misshandlung, sondern auch Vernachlässigung oder andere Formen fehlender Bindung zu Traumatisierung führen können. Copeland, Keeler, Angold und Costello (2010) fügen den möglichen Auslösern einer Traumatisierung noch den Verlust wichtiger Bezugspersonen hinzu. Unter diesem Gesichtspunkt sollte viel dafür getan werden, Maßnahmeabbrüche und die sich daraus ergebenden Beziehungsabbrüche so gering wie möglich zu halten. All diesen Sichtweisen ist gemeinsam, dass Traumatisierung überwiegend auf ein furchtbares oder stark belastendes Geschehen zurückzuführen ist und nicht primär auf Eigenheiten der traumatisierten Personen. Ergänzt wird diese Sicht in der Traumadefinition von Fischer und Riedesser (1998, S. 79) als »ein vitales Diskrepanzerlebnis zwischen bedrohlichen Situationsfaktoren und den individuellen Bewältigungsmöglichkeiten, das mit Gefühlen von Hilflosigkeit und schutzloser Preisgabe einhergeht und so eine dauerhafte Erschütterung von Selbst- und Weltverständnis bewirkt.« Aus den obigen Definitionen scheint mir folgende Zusammenfassung sinnvoll: Traumatisierung – entsteht durch Situationen oder Geschehnisse extremer oder lang anhaltender, meist außergewöhnlicher Belastung, – welche die Bewältigungsmöglichkeiten des Betroffenen übersteigen – und dadurch zu anhaltenden tiefgreifenden Veränderungen des Selbst- und Welterlebens führen – sowie dauerhafte Veränderungen von Denken, Fühlen und Handeln hervorrufen. 1.4 Typen von Traumatisierung Es gibt unterschiedliche Unterteilungen von Traumatisierung, wie zum Beispiel in frühe, einfache und komplexe bzw. Typ-1- und Typ-2-Traumatisierung, Entwicklungstraumastörung, Bindungstrauma oder auch die Traumafolgestörungen nach ICD-10. Dieser Band beschreibt grundlegende Dynamiken, die all diesen unterschiedlichen Traumatypen zugrunde liegen. Die vorgestellten Rahmenbedingungen und Interventionen sind ebenfalls unabhängig der spezifischen Traumatypen hilfreich. Eine ausführliche Beschreibung dieser Typen findet sich in Sack, Sachsse und Schellong (2013). 1.5 Folgen von Traumatisierung Die »tiefgreifenden Veränderungen des Selbst- und Welterlebens sowie dauerhafte Veränderungen von Denken, Fühlen und Handeln« können sich in der Erscheinungsform aller psychischen Störungen und Symptomatiken sowie vielerlei körperlichen Beschwerden zeigen (u. a. Ackerman, Newton, McPherson, Jones u. Dykman, 1998; Schmid, Fegert u. Petermann, 2010). Wird keine traumaspezifische Anamnese erhoben, wird schnell übersehen, dass Mädchen und Jungen, welche zum Beispiel Symptome einer Störung des Sozialverhaltens, ADHS oder einer Depression zeigen, dies als Folge einer Traumatisierung tun und der Symptomatik ursächlich traumatypische Dynamiken zugrunde liegen. Wird in solchen Fällen nur nach dem vordergründigen Symptombild diagnostiziert, entstehen Fehldiagnosen, aus denen wenig erfolgreiche Behandlungsversuche und ebenso erfolglose pädagogische Interventionen abgeleitet werden. Seit einiger Zeit wird daher die Forderung einer neuen diagnostischen Klassifikation gestellt, welche dieser Dynamik gerecht wird und die in ICD und DSM aufgenommen werden sollte (z. B. van der Kolk et al., 2009; Rosner u. Steil, 2012). In Deutschland hat sich diesbezüglich der Begriff entwicklungsbezogene Traumafolgestörung durchgesetzt. Andererseits führen Ereignisse, die als traumatisch definiert werden (wie etwa Gewaltverbrechen, schwere Unfälle oder Naturkatastrophen), nicht bei allen Betroffenen zu Traumatisierung und Traumafolgestörungen (Hensel, 2014). Zudem ist Komorbidität – also das gleichzeitige Vorliegen unterschiedlicher psychischer Störungen – ein Faktor, der beachtet werden muss. Für die...