Bahr »Das musst du erzählen«
13001. Auflage 2013
ISBN: 978-3-8437-0507-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erinnerungen an Willy Brandt
E-Book, Deutsch, 240 Seiten
Reihe: Ullstein eBooks
ISBN: 978-3-8437-0507-3
Verlag: Ullstein HC
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Egon Bahr, geboren 1922 in Thüringen. Nach dem Krieg als Journalist tätig, u.a. als Leiter des Bonner RIAS-Büros. 1960-66 Sprecher des Berliner Senats. Unter Willy Brandt 1966-69 Leiter des Planungsstabs im Auswärtigen Amt, 1969-1974 Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Er verhandelte u.a. den Moskauer Vertrag, das Viermächteabkommen und den Grundlagenvertrag mit der DDR. Nach Brandts Rücktritt u.a. Bundesminister für Wirtschaftliche Zusammenarbeit, Bundesgeschäftsführer der SPD und Direktor des Instituts für Friedensforschung in Hamburg. Egon Bahr verstarb am 20.August 2015.
Autoren/Hrsg.
Fachgebiete
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politische Ideologien Sozialismus
- Geisteswissenschaften Geschichtswissenschaft Weltgeschichte & Geschichte einzelner Länder und Gebietsräume Deutsche Geschichte
- Sozialwissenschaften Politikwissenschaft Politikwissenschaft Allgemein Politische Geschichte
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TEIL 2 – BONN
Die Große Koalition – ungeliebt
und unentbehrlich
Brandt litt zunächst an den Diffamierungen des Wahlkampfes und an der verlorenen Bundestagswahl 1965. Doch auf dem Parteitag im Juni 1966 wurde er als Parteivorsitzender glänzend bestätigt. 324 von 326 Delegierten stimmten für ihn.
Nachdem sich die von Kanzler Erhard geführte Bundesregierung nicht auf eine von der CDU/CSU geplante Steuererhöhung hatte einigen können, traten die FDP-Minister am 27. Oktober 1966 zurück. Noch am selben Tag listete ich für Brandt in einer ausführlichen Analyse unsere Optionen auf. Ein Zusammengehen mit der Union habe den Geschmack von »widernatürlicher Unzucht«, die FDP sei als Partner unbedingt vorzuziehen. Aber: »Wenn es wegen der FDP mit der FDP nicht klappt, muss die Möglichkeit einer Großen Koalition noch einmal ernsthaft durchdacht werden … Es könnte die einzige Chance sein, in diesem Volk wirklich akzeptabel zu werden.« Bei allen Risiken: »Auf keinen Fall darf die SPD draußen bleiben.«
Während sich die Sozialdemokraten mit Herbert Wehner und Helmut Schmidt und die CDU/CSU mit Kurt Georg Kiesinger und Rainer Barzel schon zur großen Karawane formierten, fand hinter den Kulissen eine zukunftsträchtige Kontaktaufnahme statt. Brandt schickte mich nach Bonn, um mit Hans-Dietrich Genscher, damals Fraktionsgeschäftsführer der FDP im Bundestag, die Möglichkeiten einer Koalition zu sondieren. Das Gespräch fand in seinem Büro statt. Er war entschieden dafür, trotz der relativ knappen Mehrheit. Aber Genschers Parteifreunde Walter Scheel und William Borm warnten, die Geschlossenheit der liberalen Fraktion sei nicht gesichert. Also wurde der Versuch beerdigt, und ich entwarf einen Brief an Scheel, in dem der Chef bedauerte, dass es nicht zu einem Bündnis gekommen war: »Das sollte uns nicht abhalten, in Verbindung zu bleiben … Ich hoffe sehr, dass wir uns das erhalten können.« Es dauerte dann bis zum Dezember 1966, ehe die neue Regierung vereidigt wurde. Mit ihr erreichte Herbert Wehner sein erstrebtes Ziel.
Die Große Koalition war Brandt zuwider. Am liebsten wäre er Parteivorsitzender geblieben. Doch ein Parteivorsitzender außerhalb des Kabinetts oder ein Vizekanzler mit unbedeutendem Ressort widersprachen nicht nur seinem Stolz, sondern auch seinem Machtbewusstsein und letztlich dem Reiz des Auswärtigen Amtes.
Die Diffamierungskampagnen der zurückliegenden Jahre hatten sich ihm tief in die Seele gegraben. Mit der bald verbreiteten Bezeichnung einer »Bundesregierung der Versöhnung« musste er sich erst versöhnen. Er kannte die gegenläufigen Biographien der Regierungsmitglieder: Neben dem Emigranten und früheren Linkssozialisten Brandt saß Kiesinger, der genauso wie der SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller Mitglied der NSDAP gewesen war. Während der Exkommunist Wehner, nun Minister für gesamtdeutsche Fragen, das Moskauer Hotel Lux überlebt hatte, war Finanzminister Franz Josef Strauß Wehrmachtsoffizier gewesen.
Für Strauß empfand Brandt Achtung. Er fand, dass der Bayer mit seinen Fähigkeiten und seiner Energie das Zeug zum Kanzler hatte, auch wenn er sich mit seiner Unbeherrschtheit selbst im Weg stand. Ich verglich den CSU-Mann mit einem Kraftwerk, das über die Sicherungen eines Kuhstalls verfügt.
Kiesinger hingegen, intern »König Silberzunge« genannt, schätzte Brandt als Leichtgewicht ein. Er fühlte sich in dessen Gegenwart nicht wohl und überließ Wehner gern die Kommunikation mit dem Regierungschef. Die Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt und Rainer Barzel, zwei vorzügliche Manager, sorgten im Parlament für einen störungsfreien Ablauf.
Im Auswärtigen Amt
Der Unterschied zwischen der Senatskanzlei im Schöneberger Rathaus mit einem Dutzend höherer Beamter und drei Verbindungsoffizieren zu den Alliierten einerseits und dem Apparat des Auswärtigen Amtes andererseits kann mit dem zwischen einem gut verwalteten Handwerksbetrieb und einem internationalen Konzern verglichen werden, oder mit dem zwischen dem Berliner Polizeipräsidenten und dem Verteidigungsminister in Bonn. Die Bundesebene verlangte andere Qualitäten, und das Maß der täglichen Informationen und Aktionen stellte selbst für den Regierenden Bürgermeister von Berlin eine neue Dimension dar. Einen direkten Sprung vom Schöneberger Rathaus ins Kanzleramt hätte Brandt nicht geschafft.
In einem Vermerk für den neuen Außenminister Brandt formulierte ich noch in gewohnter Berliner Manier überdeutlich: Das Wichtigste sei, die Behauptung Adenauers zu widerlegen, Sozialdemokraten in der Regierung wären der Untergang Deutschlands. »Die psychologische Rechtfertigung der Großen Koalition, also das Schlachten mancher heiliger Kühe, muss erst noch passieren.« Das »Schlachten heiliger Kühe« unterstrich Brandt und entschied am Rand: »Nein, Orientierung, gemeinsamer Nenner!« Also Versöhnung durch Zusammenarbeit statt außenpolitischer Tabubrüche auf Kosten des Koalitionsfriedens.
Alle anderen Zielsetzungen aus dem Vermerk übernahm er: Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den osteuropäischen und arabischen Ländern, eine NATO-Reform, sogar diplomatische Beziehungen zur Volksrepublik China. »Dies würde«, so schrieb ich, »ohne materiell viel einzubringen, das Erwachsensein der Bundesrepublik psychologisch am stärksten zum Ausdruck bringen.« Im Rückblick ist die außenpolitische Bilanz der Großen Koalition durchwachsen: weniger als erhofft und mehr, als erwartet werden konnte.
Der neue Minister wurde im Auswärtigen Amt respektiert. Von seinen beiden Mitbringseln aus Berlin galt Klaus Schütz, nunmehr Staatssekretär, als praktische Intelligenz und ich, nunmehr Leiter des Planungsstabes, als theoretische Intelligenz. Wenigstens waren wir nicht nur Parteisoldaten. Wie sich dieses Spitzentrio mit dem Corpsgeist des Amtes arrangieren würde, blieb abzuwarten. Nach siebzehn Jahren systematischer Personalpolitik der CDU verbot sich der befürchtete Kraftakt einer »sozialistischen Umschichtung«. Dafür fehlten nicht nur hinreichend befähigte Sozialdemokraten. Unser Prinzip von Loyalität und Leistung war auf allmähliche Veränderungen ausgelegt. Außerdem hätte es überhaupt nicht zu der Idee einer der Versöhnung dienenden Regierung gepasst, gleich mit einer Säuberung zu beginnen und die Nazivergangenheit der hohen Beamten zu überprüfen, mit der alleinigen Ausnahme des neuen Bundeskanzlers.
Meinen ersten Gedanken, »während der Flitterwochen« personelle Pflöcke einzurammen, verwarf ich schnell als schlicht weltfremd. Auch das Auswärtige Amt war im Dritten Reich der Gleichschaltung nicht entgangen. Bei einem auch nur etwas genaueren Blick zeigte sich, dass seine Beamten sich von denen in anderen Institutionen nicht wesentlich unterschieden, wenn auch die spezielle Ausprägung des diplomatischen Dienstes mit der Verwendung im Ausland nicht zu übersehen war: Charakter, Talent, Opportunismus, Unauffälligkeit und Herkunft erzeugten eine einzigartige Mischung. Beim Aufbau des Dienstes nach dem Krieg hatte die vorweggenommene Versöhnung den Namen Globke getragen. Das Netz der »Ehemaligen«, fast durchweg Mitglieder der NSDAP, hatte geradezu bewundernswert funktioniert.
In einem Ausblick, den ich für Brandt noch vor Weihnachten 1966 schrieb, definierte ich »drei Schichten: die Reaktivierten aus dem alten AA, die ›Neuen‹, überwiegend aus der Diplomatenschule in Speyer, und die ›Außenseiter‹. Die zweite Gruppe verbindet große Erwartungen mit echter Bereitschaft zur Zusammenarbeit.« Die Gruppe der Außenseiter sei sehr heterogen: Leute, deren schreiende Unfähigkeit »kein Grund gewesen sei, sie für ›gute CDU-Arbeit‹ nicht zu belohnen«, sowie die aus unterschiedlichen Gründen »zu kurz Gekommenen«.
Die Aufgabe, das gesamte Amt arbeitsfähig zu halten und zu integrieren, gab ich zu bedenken, verbiete jede selektive Personalpolitik: »Ein eiserner Besen von Personalpolitik unter parteipolitischen Vorzeichen wäre nur die andersgeartete Fortsetzung der bisherigen CDU-Politik.« Die Folgerung müsse heißen, »loyale Leistung zum obersten Maßstab« zu machen. Auf die Mitarbeit ausgesuchter »Ehemaliger« war nicht zu verzichten. Für »unsere Freunde« bedeutete das nachvollziehbare Enttäuschungen. Aus der SPD gab es Kritik und die Forderung, bisherige Opfer der CDU-Politik besonders zu fördern und auch geeignete Sozialdemokraten einzustellen. Aber Brandt blieb bei seiner Linie: Integration. Sie war nicht nur durch den Versöhnungscharakter des neuen Kabinetts begründet, sondern auch durch Erfahrung und Weitsicht.
Während seiner fast dreijährigen Amtszeit musste der Außenminister über zahlreiche Beschwerden und Wünsche entscheiden. Dabei war ihm Georg Federer als Leiter der Personalabteilung der wichtigste Berater und Helfer, nicht weil, sondern obwohl er »Parteigenosse« im alten Amt gewesen war. Er kannte seine Pappenheimer, wusste die Spreu vom Weizen zu trennen, war loyal dem Minister wie dem Amt gegenüber.
Unsere Prinzipien bewährten sich. Ich sah zum Beispiel Franz Krapf wieder. Unsere zufällige Bekanntschaft stammte aus dem Zug, in dem wir anlässlich der Verhandlungen zum Schuman-Plan 1950 nach Paris gefahren waren. Er fand es unmöglich, dass unsere Delegation durch »einen ganz unbekannten Professor namens Hallstein« geleitet werden sollte. Nach den Kriterien, die Joschka Fischer als Außenminister anordnete, erhielten ehemalige Mitglieder der NSDAP keinen ehrenden Nachruf mehr in der Mitarbeiterzeitschrift des Amtes. Als einen der Ersten traf es Franz Krapf. Der Siebenundzwanzigjährige hatte 1938 im Auswärtigen Amt seinen Dienst angetreten und war von 1940 bis 1945 an der Botschaft in Tokio tätig gewesen. In einem...