E-Book, Deutsch, 128 Seiten
Bärfuss Malinois
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-8353-4435-8
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Erzählungen
E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-8353-4435-8
Verlag: Wallstein Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
In seinem ersten Erzählband zeichnet Lukas Bärfuss eine irritierende Kartographie der Passionen.
Die Fluchtpunkte in den Erzählungen von Lukas Bärfuss sind die Liebe und das Begehren. Objekt der Obsession kann dabei der Schwager sein, in den sich ein Mann verliebt. Oder die eigene, längst verstorbene Mutter, nach der sich ein Dramatiker sehnt und um die er trauert. Aber nicht nur Menschen können im Zentrum der Begierde stehen: So vergräbt einer der Protagonisten eine Alfa Romeo Giulia in seinem Garten.
Ein weiteres Verbindendes dieser im Laufe von zwanzig Jahren entstandenen Erzählungen ist der immer wieder einfallende Zufall, die Willkür des Lebens, die das Leben von einem Moment auf den anderen plötzlich ändert. In zugleich sinnlicher als auch analytischer Sprache erzählt Lukas Bärfuss von Menschen, die aus den Routinen des Alltags herausgerissen werden und spürt dabei den Fragen nach, wie wir uns begegnen und nach welchen Vorlagen wir die Geschichten unserer Leidenschaften entwerfen.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Los Angeles
Mutter wartete schon unten an der Straße. Jemand muss ihr die Treppe hinuntergeholfen haben. Sie hat sich hübsch gemacht. Sie trägt ein flaschengrünes Kleid, das Haar hat sie hochgesteckt, und auf den Wangen glänzt das Rouge. – Hallo, sage ich und beuge mich zu ihr hinunter. Sie streckt ihren dünnen Hals, und wir küssen uns. Dann hebt Mama ihre Arme, damit ich sie fassen kann. Ich hebe sie aus dem Rollstuhl und setze sie auf den Beifahrersitz. Den Rollstuhl verstaue ich auf der Ladefläche des Transporters und bin erstaunt, wie schwer er ist. Mutter ist viel leichter. – Dann wollen wir losfahren, nicht wahr, sagt Mama und lässt ihre Beinstummel über die Sitzkante baumeln. Sie ist aufgeregt wie ein Schulmädchen. Ich rieche ihr Parfum. Es ist süß. – Was schaust du mich so an, sagt sie, du weißt, ich bin nervös. Schließlich haben wir uns seit weiß Gott wie langer Zeit nicht gesehen. Ich bin dort nicht erwünscht. – Claire möchte dich häufiger sehen, sage ich, während ich den Motor starte. Du bist diejenige, die immer eine Ausrede findet. Es ist noch früh. Wenn Mutter einen zu sich bestellt, so hat man früh zu erscheinen. Noch kein Verkehr auf der Autobahn. In der Schlucht, die wir auf dem Viadukt überqueren, hängt der Morgennebel, und aus den Schornsteinen steigt der Rauch in dünnen Fäden in den Himmel. – Wenn sie bloß diesen Nichtsnutz verlassen würde, sagt sie. – Versteh es endlich, Mama. Sie will ihn nicht verlassen. Sie lieben sich. Weißt du, was das ist, Liebe? Mutter schaut durch ihre dicken Brillengläser hindurch einem roten Sportwagen hinterher. – Und überhaupt, sage ich und weiß, dass es nichts ändern wird, was sollte dann mit Pepe geschehen? – Ich habe euch auch alleine durchgebracht, faucht sie. Man braucht dazu keinen Mann. Einen Mann vielleicht, aber sicher keinen Nichtsnutz. Ich habe es früh genug eingesehen. Seinen Kram habe ich ihm auf die Straße gestellt. Weg war er. Hat sich nicht wieder blicken lassen, verstehst du, nicht ein einziges Mal. Keinen Franken habe ich gesehen. Ich habe es alleine geschafft. Und hat es dir oder Claire in irgendeiner Weise geschadet? – Darum geht es nicht, sage ich. Sie braucht nicht alles so zu machen, wie du es getan hast. Sie hat ihr eigenes Leben. – Ach was. Sie ist bloß zu stolz, um zuzugeben, dass ich recht hatte. Von Anfang an habe ich es gewusst. Mit dem, habe ich zu ihr gesagt, mit dem wirst du deine Probleme haben. Sie ist zu stolz. Ich bin auch stolz, das hat sie von mir. Ich war zu stolz, um einen Nichtsnutz auszuhalten. Das ist der Unterschied. Dann lässt sie sich schwängern, und jetzt hat sie Probleme. – Sie hat aber keine Probleme, sage ich. – Und die ewigen Wohnungswechsel, erwidert Mama, ist das etwa kein Problem? Die rennen doch vor irgendetwas weg. Und dem kleinen Pepe tut es auch nicht gut. Wie soll er denn Freunde finden? Heute lebt meine Schwester in Spreitenbach, aber früher sind sie und Roman einige Jahre durch die Schweiz gezogen, haben mal hier, mal dort gewohnt. Ein halbes Jahr in Etziken bei Solothurn, einige Monate im Kanton Nidwalden, und für zwei Wochen in Bargen, am äußersten Zipfel des Kantons Schaffhausen. Ich habe ihnen bei den meisten Umzügen geholfen. Bargen gefiel mir, nicht wegen Bargen selbst, sondern der hübschen Straße wegen, die durch das Dorf hinunter zum Zoll führt und in Blumberg?/?Deutschland endet. Zwei Wochen freuten sich die beiden über das billige Fleisch, dann ging auf der Baustelle, auf der Roman Fliesen verlegte, die Arbeit aus. So packten sie das Geschirr wieder in die Kisten, die Kleider in den Mottenschrank und riefen mich an. – Hör zu, sagte Claire am Telefon, wir müssen wieder weg hier. Roman hat Arbeit im Prättigau gefunden. Sei so lieb und komm mit dem Transporter nächsten Sonntag. Eine Fahrt wird reichen. Du und Roman, ihr fahrt mit dem Wagen, ich und Pepe nehmen den Zug. – Wie heißt der Ort, fragte ich. – Küblis, sagte sie. – Und wie lange fährt man von Bargen nach … Küblis? – Roman sagt zweieinhalb Stunden. Du weißt ja, wie er fährt. In zwei Stunden solltet ihr es schaffen. Claire und Roman besitzen nicht viel, aber es scheint, dass sie alles Notwendige haben. Und meiner Schwester gelingt es immer wieder, in die traurigsten Wohnungen ihre Auffassung von Gemütlichkeit zu bringen. Das Kind war in der Kübliser Zeit drei Jahre alt. Ich sah Claire in jener Zeit selten. Nach Küblis brauchte ich über drei Stunden, und außerdem mochte ich die Gegend nicht. Einmal besuchte ich sie, es war an einem Sonntag. Nach dem Mittagessen – es war köstlich, meine Schwester ist eine wunderbare Köchin –fuhren wir nach Klosters. Es war September oder Oktober. Die Bäume standen gelb. Klosters war ausgestorben, und die wenigen Menschen, die auf den Straßen gingen, warfen lange Schatten. Wir tranken in einem altrosa Tearoom Kaffee. Es gab süße Eclairs, die mit den kleinen Dessertgabeln schwierig zu essen waren. Eine elektrische Pendule schlug die Viertelstunden mit den Glocken von Big Ben. Die Lampen waren aus Kristallglas und hingen niedrig über den Tischen. Der kleine Pepe weinte die ganze Zeit. Er war einfach nicht zu beruhigen. Deshalb bin ich nie wieder nach Küblis gefahren. Küblis trifft keine Schuld, auch den kleinen Pepe nicht. Ich an seiner Stelle hätte auch geweint. Mutter will Tee trinken, und so fahre ich bei der nächsten Raststätte raus. Wie ich den Wagen zur Zapfsäule steuere, kramt sie in ihrer blauen Handtasche nach dem Portemonnaie und drückt mir eine Zwanzigernote in die Hand. Der Diesel gluckert tief unten im Tank, aber ich höre es nicht. Zu laut ist der Lärm der Autobahn. Was ich höre, ist ein süßer Schlager, der aus dem Lautsprecher über dem Kiosk quäkt »… sie wohnt auf dem Hausboot, unten am River, jedermann nennt sie Pretty Belinda …« Dann sitzen wir auf blutroten Barhockern an einem u-förmigen Tresen aus Chromstahl. Ich wollte an einem der Tische Platz nehmen, aber Mutter bestand darauf, dass wir uns an die Theke setzten. Ich fürchte um ihr Gleichgewicht, denn sie hat keine Füße, die sie auf den Fußlauf stellen könnte. Mama trinkt ihren Tee mit vier Würfeln Süßstoff. Sie hält die Tasse mit beiden Händen. Ihre Hände sind blau. Die Bedienung mag mich, aber ich habe nur Augen für die Schwarzwäldertorte, die in der Kühlvitrine mit dem Apfelkuchen Walzer tanzt. Gerne würde ich abklatschen. Doch meine Mutter sitzt neben mir. In ihrer Gegenwart esse ich nie Süßes. Ich fürchte, es könnte sie kränken. Sie hat in ihrem Leben nie den Mund in die süßen Lagen aus Schlagsahne vergraben. Sie weiß nicht, wie Mohrenköpfe schmecken. Vielleicht ist das der Grund. Ich bin verrückt nach Süßem. Ein Chauffeur am anderen Ende des Tresens zeigt mit dem Finger auf die Leuchtreklame. Es ist neun Uhr früh, und er will eine Bratwurst. Die Bedienung schüttelt den Kopf, nur Frühstück, Breakfast only. Er flucht in einer Sprache, die keiner versteht. Mutter gibt mir ein Zeichen. Ich schiebe den Rollstuhl an den Barhocker. Sie lässt sich sanft hineingleiten. Dann fährt sie zur Toilette. – Schrecklich, sagt die Bedienung, während sie kassiert, wie schafft sie das bloß? – Ja, nicht wahr, das frage ich mich auch immer. Aber sie ist tapfer. – Ich würde lieber sterben, als mir die Füße amputieren zu lassen, sagt sie und verzieht die Lippen wie Gummibänder. – Wenigstens braucht sie nicht hier zu arbeiten, gebe ich zur Antwort. Sie wirft mir einen Blick zu, der böse sein soll, aber ich finde ihn niedlich, und zum ersten Mal gefällt sie mir. Bevor wir losfahren, kauft Mutter im Blumengeschäft einen Kranz aus Trockenblumen. Der Verkehr hat zugenommen. Mama lässt den Kopf zur Seite fallen. Bald atmet sie tief. Ich drehe das Radio an und hoffe, dass sie nicht aufwacht. Nach Küblis kam Merligen. Es war eine schöne Zeit. Ich liebte die Wohnung mit dem direkten Blick auf den Niesen, hoch über dem Thunersee. Achtzehn Monate wohnte ich gleich nebenan und konnte, wann immer ich Lust hatte, in den Wagen steigen, und eine halbe Stunde später saß ich in der sonnigen Laube. Dann war ich es, der wegzog. Aber vorher hatte ich Roman besser kennengelernt. Zu den Fahrten in meinem Transporter – hinten im Auto die Bilder, das Bett und das Geschirr, all die beinahe schon vertrauten Dinge –, zu den vibrierenden und stummen Stunden auf der Autobahn, unterwegs von einem Namen auf der Straßenkarte zu einem anderen Namen auf der Straßenkarte, war in Merligen der Alltag hinzugekommen. Oder das, was man für den Alltag hält. Ich sah Roman von der Arbeit nach Hause kommen. Ich sah, wie ihm die nassen Haare am Kopf klebten, und ich sah, wie schlecht ihm der Bademantel stand, den Claire ihm zum Geburtstag geschenkt hatte. Ich kam abends mit Taschen voller Lebensmittel in Merligen an. Ich kochte für uns vier. Ich deckte den Tisch. Ich wunderte mich über die Schlaftabletten in der Schublade. Ich sah sie...