Bachmann | Gilgamesch | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

Bachmann Gilgamesch

Roman
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-85787-928-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark

Roman

E-Book, Deutsch, 236 Seiten

ISBN: 978-3-85787-928-9
Verlag: Lenos
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Auf dem Hintergrund des altbabylonischen Mythos »Gilgamesch« erzählt Guido Bachmann die Geschichte des künstlerisch begabten homosexuellen Gymnasiasten Robert, der der spiessigen Enge in Elternhaus und Schule zu entfliehen versucht. Der Tod des Geliebten und Freundes Christian wirft ihn völlig aus der Bahn, durch sein Schicksal findet der sensible Aussenseiter aber zu seiner Bestimmung, mithin zu sich selbst.

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I Der kleine graue Mann stach den Knaben mit einer Sicherheitsnadel in die Brust. Roland stöhnte leise. Erwachend setzte er sich auf und betastete mit schweissnassen Fingern die schmerzende Stelle. Der nackte Körper glänzte. Roland lauschte dem aufdringlichen Sirren der Mücke: Glasharfenton, hoher und gläserner Ton. Die Schmerzen in Rolands Brust wichen; und der kleine graue Mann, aufgestiegen aus dem Dunkel wilder Träume, sank in den See des Vergessens. Roland sprang aus dem weichen Bett und schlüpfte in die rote Badehose. Zögernd trat er vor das Fenster und presste die heissen Hände an den Leib. Die Hitze stank faulig im steinernen Hof. Als der Vater im anderen Zimmer hustete, beugte sich Roland, nachdem er den Sims bestiegen, kniend aus dem Fenster. Er umklammerte mit beiden Händen das rostige Rohr der Dachtraufrinne und kletterte lautlos hinunter, wobei er die nackten Zehenballen gegen die graue, verwitterte und mit spitzigen Steinchen durchsetzte Hausmauer stemmte. Das Herz schlug bis in den sandtrockenen Mund. Rolands Gewicht hing an den Armen: er kostete wollüstig das kitzelnde Gefühl in der Bauchhöhle aus. Leise drang er durchs Fenster des Erdgeschosses in das mondhelle Zimmer seines Freundes ein. Christians Körper zeichnete sich unter dem weissen Leintuch ab. Behutsam trat Roland näher. Er berührte Christians Schulter. Der Freund öffnete die Augen. Roland sah die schwarzen Härchen in den Achselhöhlen, als Christian die Hände hinter dem Kopf verschränkte. „Gehen wir baden, Christian?“ „Mitten in der Nacht?“ „Ja.“ Sie verliessen das Zimmer. Neben der hohen Harassenbeige im schmutzigen Hof, wo es nach faulen Bananen roch, standen die Freunde eng beisammen. Vier Füsse tanzten über warmen Asphalt. Steinern ragte der Turm des gewaltigen Domes in nächtliches Dunkel. Vorm eisernen Tor blieben sie heftig atmend stehen. Oben, in der Wölbung des Portals: das Jüngste Gericht aus Stein gehauen. Ein wuchtig wirrer Haufe nackter Leiber: verzückt jene zur Rechten, verdammt die anderen links. Die hölzerne Treppe führte zum flaschengrünen Fluss hinunter. Die Knaben standen am Ufer. Roland kniete nieder und flüsterte: „Der Boden ist weich.“ „Ein Bett ist weicher.“ „Ein Bett ist gefährlich.“ Christian verschwand im Wasser. Roland holte ihn schwimmend ein. Sie spielten miteinander und näherten sich dem Stauwehr. Das Brausen des Wasserfalles übertönte ihr Keuchen und Gurgeln, als sie die Badehosen tauschten. Wieder an Land, gingen sie eilig und beschämt flussaufwärts. Roland blieb stehen und fragte: „Sind wir zu alt dazu?“ Christian gab keine Antwort. Das Rauschen des Wasserfalles war nicht mehr hörbar, als Christian sagte: „Jener Baum ist älter als wir.“ Roland berührte das Holz. Später stiegen sie die hölzerne Treppe hinauf. Vor dem grauen Haus trennten sie sich schweigend. Roland kletterte am rostigen Abflussrohr entlang nach oben. Langsam zog er die blaue, nasse Badehose Christians aus. Er spürte das Stechen in den Lungen und musste husten. Vor dem Bett kniete er nieder; und der Traum stieg aus dem Vergessen empor: kleiner Mann und grauer. Ein tiefer Schlaf führte ihn zu uralten Wünschen. Als Roland am Morgen im Treppenhaus, wo es nach Kohl und Urin stank, Christian traf, fragte er leise und verschwörerisch: „Willst du immer noch mit mir fliehen?“ Christian nickte zaghaft und schluckte leer. Seine Augen waren umschattet. Roland presste die Lippen aufeinander. Im Hof sagte er: „Heute ist der siebente Juli. Ein guter Tag.“ Er gab der hohen, schiefen Harassenbeige einen heftigen Tritt. Christian fragte: „Hast du den Nachschlüssel?“ „Ja.“ „Man wird uns erwischen!“ „Unmöglich. Wenn man den Diebstahl entdeckt, wälze ich den Verdacht auf dich; denn weil du heute morgen in der Schule fehlst, wird man mich auf keinen Fall durchsuchen.“ „Meinst du?“ „Ich bin sicher! Also – du wartest im Dom auf mich!“ Roland eilte ohne Christian ins Gymnasium. Im Klassenzimmer stand er keuchend vor dem grünen Schrank. Weisse, lange Finger umkrampften den vorne rechtwinklig gebogenen Draht. Es knirschte, als der einsame Dieb seinen Dietrich ins Schlüsselloch steckte und langsam drehte. Die Angst wurde zum Kitzel. Das Zittern war Ausdruck vollkommener Konzentration. Die grüne Gitterkasse lag im zweiten Fach. Roland stopfte die blauen Noten in seine Hosentasche. Drei Hunderternoten. Im Korridor knallten Schritte. Roland vermochte noch abzuschliessen und sein Pult zu erreichen. Als Sutter eintrat, sass Roland übers Heft gebeugt und löste eine algebraische Aufgabe. Er sah flüchtig und mit abwesend gleichgültigem Gesicht auf. In der Toilette, wo er sich einschloss, versteckte Roland die drei Hunderternoten zwischen seiner Haut und Christians blauer Badehose. Das kühle Papiergeld liebkoste sein Geschlecht, eine angenehme Empfindung. Seine Knie zitterten. Erregung pochte im Glied. Der lederne Heiland erteilte Latein. Er liess den zu spät eintretenden Roland aus dem Tacitus übersetzen. Roland sprach undeutlich; denn der lederne Heiland war schwerhörig. Er gab sich zufrieden und humpelte zur Wandtafel. „Des Menschen Zierde ist das Bein, nur darf es nicht gebrochen sein“, schrie der lederne Heiland, der nicht nur an Schwerhörigkeit litt, sondern auch ein steifes Bein nachschleppte. Deswegen wiesen seine Lateinschüler überdurchschnittliche Noten auf. Der ideale Lehrer wünschte gute Besserung und hinkte in ein anderes Klassenzimmer. Die nächste Lektion wurde durch Stift getrübt. „Bonjour messieurs, asseyez-vous!“ Man las Voltaire-Briefe. Stift durchmass das Klassenzimmer mit Riesenschritten. Sein viriler Adamsapfel stach aus dem dünnen Halse. Dr. Dürr machte seine berühmten Glotzaugen und presste die Faust ans Herz, wobei er den Daumen gegen die Klasse richtete. Nach zehn Minuten klirrte Stiftens riesiger Schlüsselbund. Roland atmete kaum. Erst als der Stift kreischte, fuhren die Schüler in die Höhe. Stiftens Adamsapfel tanzte auf und ab. Die Krawatte bewegte sich rhythmisch. „Diebe, voleurs! Tricheurs!“ Die kleine Unterlippe flatterte. Der Spitzbauch erbebte. Stiftens verwaschenes Knabengesicht unter schütterem grauem Haar wurde fahl. Dr. Dürr starrte in die grüne, leere Gitterkasse. Zwanzig Uhren tickten. Der knochige Sutter meldete die Absenz Christians. Stift stiess den Atem durch die Stupsnase. Er war befriedigt; denn er konnte Christian, der das Gymnasium seit Dienstag nach Ostern besuchte, nicht ausstehen, weil Roland und Christian Freunde geworden, ja, wie das Gerücht flüsterte, sogar Blutsbrüder – wie verworfen –, was die zwei gleichbeschaffenen Narben unter den linken Brustwarzen zu beweisen schienen. Als man aber am Nachmittag auch Roland Steinmann vermisste, richtete sich der Verdacht so sehr gegen die beiden fehlenden Schüler, dass Stift einen Hausbesuch unternahm, wozu er sich mit Hilfe seines fischgrätigen, soliden Sonntagsanzuges drohend zurechtgeputzt hatte. Er läutete beim Redakteur Steinmann. Eine Frau öffnete. Sie blickte dem dürren Herrn ängstlich ins Gesicht. Stift säuselte, dass er Frau Steinmann oder Herrn Steinmann in Angelegenheit des Sohnes Roland zu sprechen wünsche, bitteschön. Sie sei Frau Steinmann, sagte die Mutter. Stift liess die kleine Unterlippe hängen. Der betrunkene Mann näherte sich torkelnd. Stift näselte ängstlich: „Ihr Gatte?“ „Wir kaufen nichts“, brüllte August Steinmann. Seine Glatze war gerötet. Die Trinkeraugen hinter den Brillengläsern tränten. „Bitteschön, ich bin Klassenlehrer!“ „Oho!“ Herr Steinmann rülpste. Er stand wankend vor dem Stift und berührte dessen Schulter. Hieronymus Dürr wich zurück. Steinmann wurde wütend und schrie lallend: „Klassenlehrer werden abgeschossen!“ „August!“ „Ich befehle Rückzug – Abmarsch! Hopp!“ Stiftens flüchtende Schritte dröhnten im übelriechenden Treppenhaus. Frau Steinmann schrie abermals: „August!“ Im Erdgeschoss stand eine Frau vor der Tür. „Ich bin Christians Mutter“, flüsterte sie. „Gestatten, Dürr, Gymnasiallehrer!“ Schweisströpfchen glitzerten auf der Stirne, Denkerstirne, wie er glaubte. Er brachte mit unsicherer Stimme seinen auswendiggelernten Satz vor: „Ich möchte festgestellt haben, dass ich in Mission des Klassenlehrers bei Ihnen vorspreche und des weiteren, was den Sachverhalt betrifft, ich mich Ihnen leider mitzuteilen gezwungen sehe, dass von Ihrem Sohne, der in eine, wollen wir sagen: abstruse Angelegenheit verwickelt wurde, noch keine Nachrichten eingetroffen sind, beziehungsweise man keine Ermittlungen des Sohnes –“ „Wollen Sie eintreten?“ „– des Sohnes“ „Bitte sehr!“ „– des Sohnes“ „Nehmen Sie Platz!“ ,,– des Sohnes hatte machen können, bitteschön, dankeschön.“ „Kirsch?“ „Ich enthalte mich des Alkohols.“ „Zigarette?“ „Nur am Sonntag nach dem Mittagessen.“ Sie sahen sich an. Stift bemerkte die flackernden Augen der Frau und nagte an der kleinen Unterlippe. Auch diese Mutter schien verängstigt, was den Klassenlehrer befriedigte. „Eine polizeiliche Untersuchung ist im Gange. Ich will hier nur das – das äh Milieu studieren.“ „Es ist mir peinlich, Herr –“ ,,Doktor!“ „Doktor?“ „Dürr!“ „Dürr. Herr Doktor –“ „Dürr!“ „Dürr – wirklich, Doktor, peinlich, dass Christian und dieser –...


Geboren am 28. Januar 1940 in Luzern. Studium der Musikgeschichte und Theaterwissenschaft in Bern. Lebte bis zu seinem Tod 2003 als freier Schriftsteller und Schauspieler in St. Gallen.

Guido Bachmann wurde für seine Werke mehrfach ausgezeichnet, u.a. wurde sein gesamtes literarisches Schaffen 1990 mit dem Basler Literaturpreis gewürdigt, 1997 erhielt er für »lebenslänglich« den Literaturpreis des Kantons Bern, 1998 den Buchpreis der Stadt Bern.



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