E-Book, Deutsch, 128 Seiten
ISBN: 978-3-8031-4179-8
Verlag: Verlag Klaus Wagenbach
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
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Die Firma meines Vaters hat ein gutes Mittel zur Zerstreuung ihrer Angestellten gefunden. Alle ein oder zwei Monate ändert sich der Einsatzort. So wechselt mein Vater von einer Bibliothek zu einem Gemeindefestsaal und von Büroräumen zu Nachtklubs: Jedes Mal eröffnet sich ihm eine neue Welt. Und mir auch, wenn ich ihn begleite. Er kommt spät heim. Er sagt immer: – Du machst dir kein Bild, was ich die Nacht nich alles gesehen hab, mein Polo! (Ich heiße Paul.) Und dann legt er sich ins Bett meiner Schwester im selben Zimmer wie ich, weil meine Schwester im Bett meiner Mutter und also im Elternschlafzimmer schläft. Er beklagt sich nicht darüber, denn meine Mutter ist gelähmt und hässlich. Eigentlich glaube ich, dass es meiner Mutter ganz recht ist, gelähmt zu sein. Sie tut den lieben langen Tag nichts außer fernsehen und Sudoku spielen, mit Lösungsteil hinten. Mein Vater hat den Herd auf ihre Höhe runtergesägt, damit sie uns von Zeit zu Zeit Crêpes backen oder meine Lieblingsravioli aus der Dose aufwärmen kann. Aber sie macht nichts. Außer zappen. Zeitschriften durchblättern. Psychotests über Sex und Liebe ausfüllen. Und sich über die Cellulitis von einem Star am Strand freuen. Als ich sieben war, hatte sie einen Unfall auf dem Weg zur Arbeit. Von dem Tag an habe ich alleine gebadet. Auch wenn die Badewanne niedrig ist. Eigentlich die richtige Höhe, als hätte der Hersteller daran gedacht, dass eine gelähmte Mutter doch ihren Sohn baden können muss. Ich vergesse zwar immer, mir die Kniekehlen, Ohren und Knöchel einzuseifen, aber ich rieche gut nach Aloe Vera. Zumindest steht das auf der Verpackung. In echt habe ich noch nie Aloe Vera gerochen. Meine Mutter kämmt mich nur und zieht den Scheitel so gerade wie möglich. Seitlich. Sie sagt, das sieht seriöser aus für die Schule. An jenem Tag hat sie mit meiner Schwester für den Schönheitswettbewerb zur Wahl der Miss Mirabelle geübt. Im Idealfall wäre meine Schwester gerne schwarz gewesen. Pech gehabt, sie ist weiß. Sehr weiß. Weißlich. Man sieht alle ihre Adern. Wenn wir am Tisch sitzen, mache ich immer den gleichen Witz: – Lass mal bitte die Küchenrolle rüberwachsen, Elfenbeinerin! Keiner außer mir versteht diesen Witz, aber ein erklärter Witz ist kein Witz mehr, die sollen sich selber durchwursteln. Sie macht sich afrikanische Zöpfe, aber ihre rosa Kopfhaut scheint durch. Sie lässt nicht locker und kräuselt sie, um mehr Volumen zu bekommen, aber das hilft auch nicht, meine Schwester ist eben durch und durch Französin. Ich vermute schwer, dass sie sich einbildet, durchs Vögeln mit sämtlichen Schwarzen der Cité ein bisschen Farbe abzubekommen. Aber alles, was an ihr hängenbleibt, ist ihr Ruf als billige Nutte. Sie lernt auch afrikanischen Tanz im Verein, aber sie hat nicht den richtigen Hintern dafür. Ihrer hängt nach unten anstatt nach oben anzuschwellen. Sie tut es mit viel Herzblut, aber sie hat die Beine der Weißen, die eben aufs Gehen und nicht aufs Zouk-Tanzen programmiert sind. Sie hatte mich gebeten, ihr einen kleinen Vorstellungstext für die Wahl zu schreiben. Denn die Jury will sichergehen, dass die Mädels nicht nur hübsch, sondern auch intelligent sind. – Sag doch: »Im Moment mache ich eine Ausbildung zur Kosmetikerin, aber mir schweben noch ganz andere Projekte vor. Als Tochter meiner Region, wo Tradition und Moderne eng verbunden sind, bin ich eine aufgeweckte junge Frau von heute, und wenn ich gewinne, werde ich als Miss engagiert für die Region eintreten.« – Schon, aber ich bin nicht wirklich Kosmetikerin. Ich klebe falsche Fingernägel auf, mache französische Maniküre … – Dann sag doch: »Im Moment bin ich im Bereich der Fingernagelprothetik tätig, aber mir schweben noch ganz andere Projekte vor.« – Oh ja, das ist gut. Pro was noch mal? – Fingernagelprothetik. – Ja, super. Das klingt nach Medizin und so … Sie ist ins Schlafzimmer gegangen und hat mit meiner Mutter geübt, die ihr so groteske Anweisungen gegeben hat wie »lass den Mund immer halb geöffnet, das wirkt geheimnisvoll« oder »sag nie nein, sag ja, aber…« oder »eine kleine Träne vergießen hat noch nie geschadet«. Durch die angelehnte Tür habe ich gehört, wie sie sich mit Wörtern rumgeschlagen haben, deren Sinn ihnen völlig abging. – Polo, um zu sagen, dass man ein bisschen schüchtern ist, sagt man da »ich bin sittsam« oder »ich bin schamhaft« ? – Weder das eine noch das andere, da sagt man »ich bin ein Wonnemädchen«. Ich bin aufgestanden, um ihnen zu erklären, dass Wonnemädchen der passendste Begriff ist, weil er gleichzeitig sittsam und schamhaft, zurückhaltend und lebensfreudig bedeutet, lebenshungrig eben … Sie hat es brav in ihr Miss-Lehrbuch geschrieben. Nie wäre sie auf die Idee gekommen, es nachzuprüfen. Ich sehnte den Tag herbei, an dem sie mit halbgeöffnetem Mund antworten würde: »Ich bin ein Wonnemädchen, und als Tochter meiner Region bin ich eine aufgeweckte junge Frau von heute.« Mir war klar, dass sie, wenn sie gewinnen sollte, allen Zweitligafußballern einen blasen würde, denn als Tochter ihrer Region hat meine Schwester eine Vorliebe für Leckereien … Als mein Vater nach Hause gekommen ist, habe ich ihm Fischstäbchen mit Pommes im Backofen gemacht. Meine Schwester hat den Tisch gedeckt und dabei ihren Text geprobt. Er ist zu meiner Mutter rein und hat ihr gewohnheitsmäßig einen Kuss gegeben, bevor er sich aufs Schlafsofa im Wohn-Esszimmer fallen ließ. Der Platz ist bei uns ein Dauerproblem. Er hat seinen Teller verlangt und ist mit der Fernbedienung in der Hand eingeschlafen. Sein Mund stand halboffen, aber aus anderen Gründen. Nicht um geheimnisvoll auszusehen. In ein paar Stunden musste er wieder los, um irgendwo zu putzen. Meine Schwester und ich sind der Form halber am Tisch sitzen geblieben. Darauf bestehe ich immer. Ich will wenigstens einen Anschein von Familienleben, von geregeltem Beisammensein und ein klein wenig Disziplin aufrechterhalten. Einfach nur am Tisch essen, wie sie’s im Fernsehen und in den Deko-Magazinen tun, wie’s bei meinem Nachbarn Marwan und bei Millers in meinem Englischbuch gemacht wird. Ich versuche auch, Tischgespräche zu führen, wie sie in meinen Büchern vorkommen. – Wusstest du, dass sich Primo Levi jeden Morgen mit seinem eigenen Urin gewaschen hat, um das Ritual der täglichen Reinigung auch im Lager aufrechtzuerhalten? – Was? – Um nicht zu vergessen, dass er ein Mensch ist, auch wenn er wie ein Hund behandelt wurde. – Deinen Primo kenn ich nicht, aber prima für ihn. Während sie sich halbtot lacht, hat sie angesichts des näher rückenden Wettbewerbs den Seelachs aus der kalorienreichen Panade rausgefieselt und ohne Salz gegessen. – Sehr witzig! – Muss voll eklig sein, sich mit der eigenen Pisse zu waschen. – Nein, ganz im Gegenteil, es war mehr, um die Gesten der Morgentoilette beizubehalten, kapierst du das? – Nein, aber das geht mir echt am Arsch vorbei. – Sich mit seinem Urin waschen, damit er nicht vergisst, dass er ein Mensch ist … – Verdammt, ist doch voll eklig, Polo, wir essen gerade. – Ist überhaupt nicht eklig, sondern unglaublich. – Unglaublich ist eher, dass ich hier bin und mir deinen Blödsinn anhöre … Sie hat ihren Teller genommen und ist wieder zu meiner Mutter gegangen. Vor den Fernseher. Ins Bett. Voller Krümel. Stimmt, ich hatte das in der Bibliothek gelesen. Stimmt schon, dass ich mich auch gerne ausbreite. So Sachen sage, die sie ganz bestimmt nicht versteht. Mein neues Wissen ausprobiere. So dass sie es nicht checkt und hä? was? wieso? wer ist das? was heißt das? brabbelt. Ich mag es, sie bei Tisch zu belehren. Ihr zu sagen, dass wir uns wehren müssen, auch wenn der Fall unvermeidlich sein wird. Unser Fall. Mit aufgerichtetem Rücken und die Ellenbogen schön … eigentlich sind die Ellenbogen egal, Hauptsache, wir essen gemeinsam, oder fast. Ich hätte mir gewünscht, dass meine Schwester mich unterstützt, um mich in dieser Familie weniger allein zu fühlen. Um zu retten, was zu retten ist. Den Schein zu wahren. Fürs Familienfoto eben. Jeden Abend stößt es mir doppelt sauer auf: gesättigte Fettsäuren im Teller und Scheißfamilie drumherum. Später werde ich getrennte Wohn- und Esszimmer haben, außerdem ein Sofa und ein separates Bett. Eine reizende Ehefrau in der Küche, die Kinder um den Tisch versammelt, ich werde das Feuer im Kamin anfachen und frisches Gemüse vom Markt als Beilage auf meinem Teller haben. Entmutigt habe ich den Tisch abgeräumt und gespült. Zusammengewürfeltes Geschirr. Messer ohne Zacken, gefährliche Gabeln, schartige Gläser, zerkratzte Teller. Und fettige...