E-Book, Deutsch, 368 Seiten
Azevedo Der Hochzeitsreis
1. Auflage 2015
ISBN: 978-3-423-41864-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Roman
E-Book, Deutsch, 368 Seiten
ISBN: 978-3-423-41864-5
Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Format: EPUB
Kopierschutz: Wasserzeichen (»Systemvoraussetzungen)
Francisco Azevedo, 1951 in Rio de Janeiro geboren, hat neben Theaterstücken viele Drehbücher für Spiel- und Dokumentarfilme geschrieben. Sein wundervolles Romandebüt >Der Hochzeitsreis< ist in zahlreiche Sprachen übersetzt worden und hat weltweit Hunderttausende Leser und Leserinnen verzaubert.
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Familie – ein gar nicht so einfaches Rezept
Es ist kurz nach vier Uhr morgens. Isabel schläft noch, und auch die Sonne ist noch nicht aufgegangen. Angetan mit einer weißen Schürze stehe ich, ein alter Mann von achtundachtzig Jahren, in der Küche der Fazenda und hacke frische Kräuter für das große Familienfest heute Mittag. Mute ich mir damit nicht zu viel zu? Ich, der ich für die jüngsten der Familie ein wahrer Methusalem bin und bereits mit Falten im Gesicht auf die Welt gekommen sein muss? … Nein, das glaube ich nicht, achtundachtzig ist ein gutes Alter, die beiden Achter sind wie Endlosschleifen, und es wird gewiss ein köstliches Festmahl werden, ich habe viel Erfahrung, schließlich hat mir Tante Palma schon früh das Kochen beigebracht … Apropos Tante Palma: Wo steckt sie eigentlich? Manchmal erscheint sie länger nicht, dann streift sie wieder ständig mit meinen Eltern durchs Haus. Mal sind sie dabei jung, mal alt, mal fröhlich, mal besorgt, mal plaudern sie miteinander, mal sagen sie kein Wort, je nachdem, zu welcher Tages- oder Nachtzeit ich sie sehe – und das ganz ohne Brille.
Wie? Alles nur Einbildung? Ein Zeichen seniler Demenz? Sie meinen, ich sei nicht mehr ganz klar im Kopf? Hm … hin und wieder ertappe ich mich tatsächlich dabei, wie ich mit dem kleinen Jungen rede, der ich einmal war. Oder ich debattiere laut mit meinen Lieben, die längst im Jenseits weilen. Und manchmal, wenn ich es im Dunkeln mit der Angst zu tun bekomme, pfeife ich – worauf vor meinen Augen plötzlich der Vorhang aufgeht und ich Szenen in einem Film sehe: wie ich im Kindesalter mit meinen Geschwistern herumtolle und unseren jungen Hund damit ganz kirre mache, wie meine Isabel mich verliebt anblickt oder wie ich meine Kinder, als sie noch klein waren, wie meinen Augapfel hüte. Ja, meine Erinnerungen werden derart lebendig, dass ich alles wieder sehen, hören, riechen, schmecken, fühlen kann … Doch jetzt sollte ich mich besser wieder auf die Gegenwart besinnen, die ich gleichfalls liebe, auf das, was ich direkt vor der Nase habe, und auf das, was ich vorauszusehen vermag, bis hin zu dem, wo sich nur noch die Hoffnung hinwagt. Denn hier und heute bin ich die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer Person, das Mysterium einer irdischen Dreifaltigkeit. Und Ihnen vertraue ich das alles an – ja, Sie meine ich, die Sie mir hier in der Küche Gesellschaft leisten.
Beispielsweise muss ich Ihnen gestehen, dass ich alter Mann meine Eltern sehr vermisse. Ach, wie lange ist das schon her, dass mich Vater oder Mutter auf den Schoß genommen und mit dem Löffel gefüttert haben, der wie ein Flugzeug von weit her angeflogen kam. Was gäbe ich darum, wenn mich heute noch einer der beiden nach dem Baden ins Bett brächte, wo ich mich in die weichen Kissen und frischen Laken kuscheln könnte, und mir dann dieselbe schon tausendmal gehörte Geschichte vorlesen, ein Schlaflied singen und einen Gutenachtkuss geben würde. Und auch die Zimmertür sollten sie einen Spaltbreit auf und das Licht im Flur eingeschaltet lassen. Einen Orientierungspunkt und eine höhere Instanz zu haben hilft nämlich immer, ganz egal, wie alt man ist. Ja, auch alte Menschen wünschen sich manchmal noch eine starke und kluge Persönlichkeit, die im Zweifelsfall für einen entscheidet. Jemand, der unvoreingenommen und besser als man selbst beurteilen kann, ob man etwas gut gemacht hat oder nicht. Ein alter Mann ist eigentlich wie ein Kind, nur dass ihm schneller die Puste ausgeht und er keine große Lust mehr hat, durch den Garten zu toben, zu wippen oder zu schaukeln. Das alles verliert im Alter an Bedeutung. Stattdessen will er nur noch all die Tiere befreien, die er sein Leben lang in sich angesammelt hat: zahme Haustiere, wilde Bestien, träge Reptilien, fröhlich flatternde Schmetterlinge, Fische und Vögel – alle sollen sie frei sein! Tante Palma erklärte mir einmal, dass man in der Stunde des Todes das Größte und das Kleinste in sich erkennen werde: Man sei Elefant und Gottesanbeterin zugleich, Mammutbaum und Gänseblümchen, Meer und Regentropfen, Gebirgskette und Salzkorn. Und auch den Moment des Übergangs spüre man: Zuerst entströme der Seele des Sterbenden ein Brausen des Windes, das Plätschern von Wasser, Schritte im Kies, knisterndes Feuer, knarrendes Holz, kurzer, stoßweiser Atem, ein schnelles Flügelschlagen. Den zweiten Satz dieses Konzerts bilde dann der Chor seiner Tiere: Die Seele knurre drohend, jaule, brülle, wiehere, muhe, summe und zwitschere, befreie sich so von allem auf ihrem Weg in Richtung Unendlichkeit, bis sie schließlich in reinstem Sopran, Alt, Tenor, Bariton oder Bass die schönste Opernarie singe.
Als Kind nahm ich das für bare Münze, als Erwachsener hingegen amüsierte es mich nur noch. Seit einiger Zeit glaube ich jedoch wieder daran und bin mir sicher, dass ich früher oder später von dieser Küche aus meine Tiere freilassen und meine Reise hinauf in den Himmel antreten werde. Die Passkontrolle will vorher noch meine Fingerabdrücke sehen? Bitte sehr, hier sind sie im Brotteig. Sie wollen ein Passfoto von mir? Sie können sich eins aussuchen. Ich habe viele, von der Seite und von vorne, mit meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinen Kindern und Kindeskindern. Und es sind allesamt sprechende Bilder, alle reden laut und wild durcheinander, meine ganze chaotische Familie …
Jetzt muss ich mich aber wirklich aufs Essen konzentrieren. Warum, wollen Sie wissen? Was für eine Frage! Weil das Rezept für eine Familie alles andere als einfach ist! Zunächst bedarf es dazu vieler Zutaten. Allein sie alle zusammenzubekommen ist schon schwierig genug – vor allem zu Weihnachten und Neujahr. Wo dies geschieht, ist dabei nicht so wesentlich. Damit es aber gelingt, braucht man auf jeden Fall Mut, Hingabe und viel Geduld. Und es liegt auch nicht jedem. Angesichts all der Tricksereien, der vielen Geheimnisse und des unvorhersehbaren Ausgangs wollen es viele nämlich gar nicht erst ausprobieren, selbst wenn der Magen dann bedauerlicherweise leer bleibt. Hinzu kommt, dass sie zum Kochen viel zu träge oder wahre Suppenkasper sind oder sie sich nicht vorstellen können, wie es überhaupt schmecken soll.
Dennoch schafft es das Leben immer wieder, dass etliche von uns es in Angriff nehmen, weil uns allein beim Gedanken daran bereits das Wasser im Mund zusammenläuft. Die Zeit deckt den Tisch, bestimmt die Anzahl der Stühle und die Sitzordnung – und irgendwann ist die Familie dann fix und fertig und wird dampfend serviert: X ist dabei die Intelligenteste von allen und Y ohne Zweifel der Witzigste und Gesprächigste. Z hingegen, hm, wie soll ich sagen?, Z wurde zu früh erwachsen und verwelkte deshalb auch zu früh. Ah, und der ist der Dickste und Großzügigste, wohingegen der gegenüber alle überrascht hat und am weitesten wegzog. Und sie dort … sie ist die Leidenschaftlichste, die daneben die Bodenständigste …
Und wer sind Sie in Ihrem Rezept? Ja, Sie meine ich, Sie, die Sie hier in der Küche gerade meine Gedanken lesen. Wie wirken Sie in Ihrem Familienalbum? Sind Sie der Pragmatiker oder die Sentimentale? Womöglich die Hilfsbereite? Oder etwa die, die ihre Arbeit mehr als alles andere liebt? Wie auch immer, ärgern Sie sich nicht über Ihre Sippe oder darüber, wie Sie von ihr beurteilt werden. Suchen Sie bloß alles Gute und Schlechte zusammen, was Ihr Leben ausmacht … Nur keine Eile, ich warte gerne … Haben Sie alle? … Bestens! Dann binden Sie sich jetzt die Schürze um, nehmen ein Brett von dort drüben und das schärfste – Vorsicht! – Messer. Ah, und schämen Sie sich nicht, wenn Sie wie ich gleich nach Knoblauch und Zwiebeln riechen werden und Ihnen beim Schneiden vielleicht die Tränen kommen. So ein Familienrezept zuzubereiten, ist nun mal hoch emotional. Da heult man oft. Vor Freude, Wut oder Traurigkeit.
Vorab sollten Sie allerdings noch einiges wissen. Zunächst einmal: Exotisches kann den Geschmack des Familienrezepts verändern. Wenn Sie die unserem Gaumen fremden Gewürze, die oftmals aus Afrika oder Asien stammen, aber mit Fingerspitzengefühl hinzugeben, machen sie es farbenfroher, interessanter und zudem um einiges leckerer.
Vorsicht ebenso mit den Mengen. Eine Messerspitze zu viel von diesem oder jenem kann alles verderben, alle Zutaten müssen genau abgewogen sein, denn so ein Familienmahl ist eine äußerst knifflige Angelegenheit. Und nicht nur das Mischungsverhältnis muss stimmen, nein, man muss auch ein feines, nahezu professionelles Händchen dafür haben, wann man alles unter einen Hut, äh, Deckel bringen kann. Den richtigen Zeitpunkt dafür zu erwischen, ist eine wahre Kunst.
Eine gute Freundin von mir hat ihr ganzes Familienrezept ruiniert, nur weil sie ihre Nase zu früh in den Topf gesteckt hat. So manche Familie braucht nämlich unendlich viel Zeit, weil ihr Rezept vorsieht, das Ganze auf kleiner Flamme zu köcheln – auch wenn einem das den letzten Nerv rauben kann. Andere wiederum sind regelrechtes Fast Food, blitzschnell fertig, bedingt durch eine unwiderstehliche körperliche Anziehungskraft: Nichts ahnend und noch bester Dinge wacht man eines Morgens auf, und die Meisterleistung ist bereits vollbracht. Darum ist es gut, wenn man rechtzeitig die Hitze drosselt. Ich habe schon ganze Familien scheitern sehen, nur weil die Flammen der Leidenschaft zu hoch geschlagen sind.
Seien Sie aber vor allem davor gewarnt, zu glauben, dass es ein Patentrezept für die perfekte Familie gibt. Das ist Schwachsinn, reines Wunschdenken. Keine Familie gleicht einer anderen. »Familie à la Oswaldo Aranha«, »Familie à la Rossini«, »Familie nach Gärtnerinnenart«: Jeder bereitet seine nach Art des Hauses zu, und jede Familie hat ihren ganz besonderen Geschmack. Es gibt...