E-Book, Deutsch, Band 14, 235 Seiten
Awe / Lammers / Fieberg GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten - Nr. 14
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-7427-0433-7
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 14, 235 Seiten
Reihe: GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten
ISBN: 978-3-7427-0433-7
Verlag: neobooks
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Das Herausgeber-Trio Michael J. Awe, Andreas Fieberg und Joachim Pack treibt es schon seit längerem auf dem Gebiet der Science Fiction und Phantastik um.
Autoren/Hrsg.
Weitere Infos & Material
Andreas Fieberg
DER STOFF AUS DEM DIE SCHATTEN SIND
Für sein Vorhaben war das Wetter ungeeignet, und so machte es Feinfeldt nichts aus, als Krankheitsvertretung in die Fabrik zu kommen. Als selbständiger Subunternehmer bevorzugte er zwar die Arbeit außerhalb, aber heute war das Licht schlecht, und die Ausbeute wäre nicht der Rede wert gewesen.
Kaum hatte er den Gemeinschaftsraum betreten, fing ihn der Schichtleiter mit einem Spezialauftrag ab. In seiner Begleitung befand sich ein Junge, der ihm als Florian vorgestellt wurde und den Feinfeldt an den Schatten unter den Augen sofort als »Talent« erkannte.
»Er fängt heute seine Lehre bei uns an. Da der Ausbilder nicht da ist, wirst du ihn fürs erste unter die Fittiche nehmen.« Der Schichtleiter legte dem Burschen die Hand auf die Schulter und zwinkerte Feinfeldt zu. »Bei Feinfeldt bist du in guten Händen, Junge. Das ist unser bester Schattenmacher!« Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt, um ihn mit seinem neuen Schützling allein zu lassen.
Feinfeldt hängte seufzend seinen Regenmantel an den Haken. »Frisch von der Schule, stimmt’s?« fragte er. Der Junge nickte stumm.
»Abgebrochen?« Wieder ein Nicken. Feinfeldt wußte nur zu gut, wie das ablief, auch ihm war es damals nicht anders ergangen. Er brauchte nur zu sehen, wie der Bursche neben ihm in die Werkhalle schlurfte, um zu wissen, woran er war. Dieser Gang war typisch für die jungen, unbedarften »Talente«, die schlimme Erfahrungen hinter sich hatten, und es würde einiges an Anstrengung kosten, ihm das abzugewöhnen. Hier brauchte sich niemand ihrer Art zu verstecken, hier konnten sie stolz und mit geradem Rücken ausschreiten. Wahrscheinlich würde sich das von ganz allein ergeben, wenn es dem Jungen das erste Mal gelänge, einen eigenen Schatten zu erzeugen. Aber bis dahin war es ein langer, beschwerlicher Weg.
Die Werksirene kündete vom Beginn der neuen Schicht, und die Schattenmacher strömten zu ihren Arbeitsplätzen. Etliche der Plätze blieben heute frei, so dass Feinfeldt eine ihm genehme Farbe wählen konnte. Er ließ sich im Lotussitz vor einer purpurnen Wand nieder, die von einem Scheinwerfer zum Leuchten gebracht wurde, und bedeutete dem Neuling, sich neben ihn zu setzen: »Schau zu und lerne!«
Feinfeldt schloß die Augen, er füllte seine Lungen, atmete aus, ließ die Luft langsam durch die Nase streichen. So begann es immer. Anfangs geschah nichts, außer dass Feinfeldt zu verschwinden schien, so tief versenkte er sich in sich selbst. Endlich aber wurde auf der beleuchteten Fläche hinter ihm eine blasse Verfärbung sichtbar – die Umrisse einer Gestalt, die sich in seinem Rücken erhob.
Feinfeldts Geist kehrte an die Oberfläche zurück, und er stand auf. Sein Schatten an der Wand hatte sich verdichtet, er füllte jetzt die klar gezeichneten Konturen vollständig aus. Unter Florians staunenden Blicken vollführte Feinfeldt einen Zeitlupentanz, dessen Figuren der Schatten willig nachahmte. Feinfeldt gab dem Schatten wechselnde Formen, indem er sich drehte und wendete, sich unterschiedlich zum Licht ausrichtete, damit der Schatten in anderen Winkeln fiel. Er ließ den Schatten anschwellen, zog ihn in die Länge, rollte ihn aus wie geschmeidigen Teig, modellierte ihn wie einen Klumpen Ton. Jeder der zeitweiligen Umrisse schrieb sich in das Gedächtnis des Schattens ein und würde es später seinem neuen Träger ermöglichen, in jeder Lage auf jedwede Fläche eine vollendete, natürliche Schattenform beliebiger Größe zu werfen, ganz so, wie es von der Natur vorgesehen war.
Das war es, was die Menschen brauchten. Denn in dieser seelenlosen Zeit des schönen Scheins war es unmöglich geworden, einen Schatten zu werfen. Die Bedürftigen, die doch alles hatten, was man sich wünschen konnte, verrieten sich durch sein Fehlen. Die meisten hatten diese Kunst verlernt, die einst so selbstverständlich gewesen war. Um dem Mangel abzuhelfen, hatte man anfangs versucht, sich die Schattenwürfe von Mauern, Säulen oder Denkmälern anzueignen. Aber diese Schatten waren dem Lebendigen so fern, dass sie sofort abfielen und sich auflösten. Man hatte es mit den Schatten von Tieren und Pflanzen versucht, gleichfalls ohne Erfolg. Zwar verband sich hier das Belebte mit dem Lebendigen, aber der Mensch war Flora und Fauna, der Natur an sich, so sehr entfremdet, dass die Vereinigung seinen Geist zermürbte und ihn in seelische Verwirrung stürzte. Es setzte sich die Einsicht durch: Nur menschlicher Schatten war für Menschen geeignet.
Dabei waren die Schattenmacher und ihre Arbeit keineswegs unumstritten. Es war noch nicht lange her, daß Feinfeldt um eine Straßenecke gebogen und auf einen Demonstrationszug gestoßen war, der ihm entgegenkam. Sein Blick verdüsterte sich, als er die hochgereckten Schilder und Banner sah. WEG MIT DEN SCHATTEN. SCHATTEN NEIN DANKE. SCHATTEN SIND RATTEN. Schon hatten ihn einige Demonstranten am Rande des Zuges entdeckt. »Ein Schattenmacher!«, schrie einer, und eine Handvoll Mitmarschierer wandte sich um. Sie erkannten ihn an den dunkel umrahmten Augen, die in seinem Gesicht wie eine Maske wirkten. Zwei Frauen lösten sich aus der Gruppe und stürzten auf ihn zu und spuckten vor ihm aus. »Euch sollte man wegsperren und unschädlich machen!« Feinfeldt wich vor so viel Hass zurück.
»Was geht euch das an«, knurrte er. »Das ist allein meine Sache.«
»Es ist krank!«, schrie die Frau. »Das ist nicht normal, einen Schatten zu haben. Ihr seid Missgeburten!«
»Manchen gefällt’s«, versetzte Feinfeldt eisig. »Sie geben viel Geld dafür aus.« Er wollte weiter, aber die Begleiterin der ersten Frau hielt ihn am Ärmel fest. »Das ist es ja! Ihr verkauft eure Seele! Perverser geht’s ja wohl nicht!« Feinfeldt hatte sich losgerissen und war davongeeilt, das Geschrei der Demonstranten hinter sich lassend.
Gegen Ende der Schicht begleitete Florian seinen Lehrmeister zur »Abtrennung«. Ein Arbeitstag war von Erfolg gekrönt, wenn es gelungen war, einen stabilen Schatten herzustellen. Seine Substanz war so delikat, dass es großer Sorgfalt bedurfte, ihm eine dauerhafte Form zu geben, die auch ein Ablösen überstand. Hier in der Fabrik konnte Feinfeldt einen Schatten pro Tag abliefern; der Ertrag war größer, wenn er Gelegenheit hatte, ihn in freier Wildbahn herzustellen.
Feinfeldt bemerkte die Unruhe, mit der sich sein Schützling an seiner Seite in die Schlange einreihte, wo die Kollegen anstanden, um ihrerseits die Früchte des Tagewerks abzuliefern. Die Sorge des Jungen war nicht unberechtigt angesichts der respekteinflößenden Maschine mit sichelförmigen Klingen, die die Schatten vom Körper schälten.
»Du musst um jeden Preis stillhalten, denn der Schnitt muss an genau der vorgesehenen Stelle geschehen!« mahnte Feinfeldt. Geriete nämlich ein Arbeiter zu dicht an die Klinge, könnte es zu lebensbedrohlichen Verletzungen kommen, zuckte er vor der Rasiermesserschärfe der Klingen zurück, würde der Schatten unsauber abgetrennt und nicht vollständig entfernt, der verstümmelte Rest begänne zu faulen und fiele ab, eine nässende Wunde hinterlassen. Die konnte einen Schattenmacher für lange Zeit arbeitsunfähig machen, und selbst wenn er, wieder gesundet, seine Arbeit erneut aufnahm, litt die Qualität seiner Produkte unter der Vernarbung. Unter den Kollegen gab es alte Hasen, die auf die sedierende Injektion vor der Abtrennung verzichteten, obwohl sie es besser wissen sollten, und dann doch Nerven zeigten.
»Die Abtrennung ist etwas, das dich irgendwann täglich erwartet. Es wird dir bald zur Routine werden. Aber hüte dich vor Selbstüberschätzung«, schärfte Feinfeldt dem Jungen ein. »Es lohnt sich nicht, den Helden zu spielen. Viel wichtiger als alles andere ist die Perfektion des Schattens, die wir anstreben.« Er schob Florian an die Werkbank. »Da sind die Markierungen. Hier und hier und hier. Wenn du dich nach ihnen richtest, kann gar nichts schiefgehen.«
Bestimmt hatte sich der Bursche seine zukünftige Profession rosiger vorgestellt, Feinfeldt wußte aus eigener Erfahrung, dass die Anwerber die unangenehmen Seiten der Branche gerne verschwiegen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er und zwei andere aus seiner Klasse – Außenseiter, die zuviel sahen und zuviel fühlten und von allen gemieden wurden – in den Versprechungen der Anwerber einen Ausweg aus ihrer Misere sahen. »Talente« verrieten sich durch einen dunklen Saum, der sich am Rande ihrer Sohlen zeigte, unter denen der Flaum eines zarten Schattens heranwuchs, von der Umwelt noch unbemerkt, aber von seinem Besitzer sorgsam als Geheimnis gehütet. Stets achteten sie darauf, die Blicke von ihren Füßen abzulenken. Um den Schatten, der dort gegen ihren Willen und ohne ihr Zutun ans Tageslicht kroch, zu verbergen, hatten sie sich einen schlurfenden Gang zugelegt. Feinfeldt und seine Kameraden, die dasselbe Schicksal teilten, hatten kaum noch die Füßen vom Boden gehoben, um sich nicht zu verraten.
So war es nicht schwer, die talentierten Kinder aus der Schule fortzulocken. Es ging ihnen ja ohnehin nicht besonders gut in der Klasse, und die Aussicht auf eine berufliche Laufbahn und raschen Verdienst machten ihnen die Entscheidung leicht. Die Eltern waren fast ausnahmslos einverstanden, denn auch sie waren davon überzeugt, dass es für ihre Sprößlinge nur besser werden konnte. Die Nachteile, die man mit dieser Entscheidung in Kauf nehmen musste, erschienen als...