E-Book, Deutsch, Band 13, 159 Seiten
Reihe: Linguistik und Schule
Averintseva-Klisch / Froemel Der komplexe Satz
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-8233-0363-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 13, 159 Seiten
Reihe: Linguistik und Schule
ISBN: 978-3-8233-0363-3
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Komplexe Sätze sind nicht nur ein Prüfstein für die syntaktische Theorie, sondern auch ein expliziter Lerngegenstand im Grammatikunterricht. Darüber hinaus haben sie Querbezüge zu vielen anderen Bereichen des Deutschunterrichts, insbesondere Wortarten, Zeichensetzung und Lesen und Verfassen von Texten. Dieser Band beleuchtet die komplexen Sätze aus der Sicht von Syntax und Schulpraxis. Zur Analyse wird konsequent ein didaktisch angepasstes Feldermodell verwendet. Dabei ist die Analyse kompatibel mit den aktuellen KMK-Vorgaben ('Verzeichnis der grundlegenden grammatischen Fachterminologie'). Ein Glossar und Aufgaben zu den einzelnen Kapiteln runden den Band ab.
Dr. Maria Averintseva-Klisch ist akademische Oberrätin in der linguistischen Abteilung am Deutschen Seminar an der Universität Tübingen.
Dr. Steffen Froemel ist Fachberater für Deutsch. Er lehrt am Deutschen Seminar der Universität Tübingen Sprachdidaktik und ist Lehrer für Deutsch, Ethik und Mathematik am Gymnasium Hechingen.
Autoren/Hrsg.
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2Satzgefüge – prototypische und periphere Nebensätze
Satzgefüge sind komplexe Sätze, in denen mindestens ein Teilsatz (der Nebensatz) einem anderen Teilsatz formal durch die Verbendstellung und/oder funktional als sein Satzglied(teil) untergeordnet ist. Prototypische Nebensätze sind formal und funktional untergeordnet: Sie haben Verbendstellung und sind Satzglieder oder Attribute. Nicht prototypische Nebensätze erfüllen entweder das formale Kriterium der Verbendstellung nicht und haben Verberst- oder Verbzweitstellung oder sie erfüllen das funktionale Kriterium nicht und sind keine Satzglieder bzw. Attribute. Semantisch-funktional gesehen erlaubt ein Satzgefüge, Informationen relativ zueinander zu gewichten und miteinander verknüpft darzustellen. Nebensätze sind innerhalb ihres Matrixsatzes interpunktorisch, in der Regel durch Kommata, gekennzeichnet. Die Beziehung der Unterordnung (= Subordination) wird in der Forschungsliteratur unterschiedlich verstanden. In diesem Buch verstehen wir die Subordination mit Zifonun et. al. (1997: 2236) als „[d]as Verfahren der Einbindung von Nebensätzen“ in komplexe Sätze. Bei dieser Einbindung wird ein Nebensatz durch die Verbendstellung formal gekennzeichnet und/oder übernimmt die Funktion eines Satzglieds oder Attributs.10 Subordiniert, d. h. Nebensätze, sind Teilsätze, die nicht nebengeordnete Teile eines komplexen Satzes sind. –Ein prototypischer Nebensatz erfüllt zwei Kriterien: 1. formal: Verbendstellung, 2. funktional: Äquivalent eines Satzgliedes oder eines Attributs. –Bei nicht prototypischen Nebensätzen wird eines der Kriterien nicht erfüllt, entweder das formale Kriterium (andere Verbstellung) oder das funktionale Kriterium (kein Äquivalent eines Satzgliedes bzw. eines Attributs). –Wenn beide Kriterien nicht erfüllt sind, liegt kein Nebensatz vor. (1) Ich gab ihr das Feuer, das ihr junges Gesicht erhellte, und fragte, ob sie mich denn heiraten würde.
(Max Frisch, Homo Faber) (2) Ich habe immer gemeint, du bist wütend auf mich
(Max Frisch, Homo Faber) (3) Paul erzählt von einer bahnbrechenden Erfindung, was ihm aber niemand so recht glaubt. Die Nebensätze in (1) erfüllen beide Kriterien der Definition: Sie weisen Verbendstellung auf und sie sind ein Attribut- bzw. ein Objektsatz. Der Nebensatz in (2) erfüllt als Objektsatz nur das funktionale Kriterium, das formale Kriterium wird nicht erfüllt, da ein Verbzweitsatz vorliegt. Der Nebensatz in (3) erfüllt nur das formale Kriterium (Verbendstellung), hingegen nicht das funktionale: Es handelt sich um einen sogenannten weiterführenden Relativsatz.11 Per Definition nicht als Nebensätze betrachten wir die seltenen Fälle von illokutiv selbstständigen VE-Sätzen wie (4); vgl. auch D’Avis (2013; Beispiele von ihm) und Geilfuß-Wolfgang & Ponitka (2020: 65): (4) a. Dass der überhaupt Klavier spielen kann! b. Wen die nicht alles kennt! Da sie nicht Teilsätze eines komplexen Satzes sind, sind sie keine Nebensätze.12 2.1Form der Nebensätze
Prototypische Nebensätze weisen eine Endstellung des Finitums auf, wobei der Satz durch eine Subjunktion oder ein Relativpronomen bzw. Interrogativpronomen13 eingeleitet ist.14 (5) Ich überlegte, ob ich nicht zu Bett gehen wollte.
(Max Frisch, Homo Faber) (6) Mister Lewin wurde geradezu amüsant, da er den Wein nicht vertrug.
(Max Frisch, Homo Faber) (7) a. Ich saß auf dem holpernden Karren, der mit nassem Kies beladen war. b. Ich verstand nicht, was der Grieche redete. c. Ich wusste nicht, wie er sich das vorstellte.
(Max Frisch, Homo Faber) Subjunktionen lösen Verbendstellung aus und haben keine Satzgliedfunktion. Ob aber auch das Pronomen in (7) als ein Auslöser der VE-Stellung angesehen werden kann, ist umstritten. Zum einen sind Interrogativpronomen und mit den Relativpronomen weitgehend identische Demonstrativpronomen auch im VF oder MF von V2- und V1-Sätzen möglich, vgl. (8), während Subjunktionen ausschließlich die Satzeinleiter-Position besetzen können: (8) a. Wie stellst du dir das vor? b. Hast du den gesehen? Zum anderen gibt es in süddeutschen Dialekten ein Lexem, die sog. ‚Relativ-subjunktion‘ wo, das die VE-Stellung auslöst (vgl. Gallmann 2015: 20), vgl. (9a); bei Interrogativpronomen wie in (9b) tritt die Subjunktion dass zusätzlich auf: (9) a. [… ] mit dem kloana Prinzn, der wo schlaft, [… ] b. [… ] wiaso dass do jetz a Straßenlatern und an Laternenanzünder braucht. (Antoine de Saint-Exupéry, Da kloa Prinz. Ins Bairische gebracht von Gerd Holzheimer, München 2016) Für solche Fälle wird vorgeschlagen, dass das Relativpronomen der bzw. das Interrogativadverb wieso im VF steht, wie das Pronomen im V2-Satz (8a), und die VE-Stellung durch wo bzw. dass ausgelöst wird. Im Hochdeutschen sei die entsprechende Position „ebenfalls vorhanden, aber lexikalisch leer“ (Gallmann 2015: 20). Auch sind Pronomen in (7), genauso wie in (8), Satzglieder in ihren VE-Sätzen, was die Subjunktionen nicht sein können. Es ist deshalb umstritten, ob Subjunktionen und Relativ- und Interrogativpronomen in VE-Sätzen gleich oder unterschiedlich zu analysieren sind (vgl. z. B. Gallmann (2015) für eine differenzierende Analyse auch für die Schule). Wir haben uns jedoch dafür entschieden, die Verbstellung konsequent als ausschlaggebend zu betrachten und das satzeinleitende Element bei VE-Sätzen einheitlich in der SE-Position zu analysieren. Hierfür gibt es sowohl theoretische als auch didaktische Gründe: Theoretisch gesehen scheint es uns sinnvoll, Pronomen in (10a) und (10b) topologisch unterschiedlich zu analysieren: (10) a. jemand, der gestern geimpft wurde … b. ob der gestern geimpft wurde … In (10a) muss das Relativpronomen an der ersten Stelle im Relativsatz stehen, während das Demonstrativpronomen in (10b) auch an einer anderen Stelle im Mittelfeld erscheinen kann, z. B. ob gestern der geimpft wurde. Dies ist unabhängig von der Frage, ob mit der ein Lexem vorliegt oder mehrere, ein genuin topologischer Grund für unterschiedliche Analysen. Didaktisch gesehen spricht für die Satzeinleiterposition, in der sowohl Subjunktionen als auch satzeinleitende Pronomen stehen können, dass Verbend-Sätze einheitlich dargestellt werden können. Dadurch fällt es den Schüler:innen und Studierenden unserer Erfahrung nach leichter, Verbend-Sätze zu erkennen und zu analysieren. Während die Subjunktional-, Relativ- und w-Interrogativ-VE-Sätze in den Beispielen (5)–(7) oben formal subordiniert und eingebettet sind, zeigen die folgenden Beispiele (11a) und (11b), dass sowohl Relativ- als auch Subjunktionalsätze auch ohne Satzglied- bzw. Attributfunktion vorkommen...