E-Book, Deutsch, 336 Seiten
Autissier Klara vergessen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-86648-378-1
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 336 Seiten
ISBN: 978-3-86648-378-1
Verlag: mareverlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Murmansk, nördlich des Polarkreises. Zum ersten Mal kehrt Juri, der längst als Ornithologe in Nordamerika lebt, in seine Heimat zurück. Sein Vater Rubin liegt im Sterben, lediglich das Rätsel um Juris Großmutter Klara - eine Wissenschaftlerin zur Zeit Stalins, die vor den Augen des damals vierjährigen Rubin verhaftet wurde - hält ihn am Leben. Klaras Verschwinden und eine Jugend voller Entbehrungen haben aus Rubin einen unerbittlichen Fischer und hartherzigen Vater gemacht, der seinen ungeliebten Sohn nun in einem letzten Aufeinandertreffen um Hilfe bittet: Er soll herausfinden, was mit Klara passiert ist. Und schließlich stößt Juri auf eine Wahrheit, die ihm vor Augen führt, wie eng alle drei Schicksale - sein eigenes, Klaras und Rubins - miteinander verknüpft sind ...
Ein großes menschliches Abenteuer und eine familiäre Spurensuche, voll von spektakulären Beschreibungen einer wilden Natur, packend erzählt von Bestsellerautorin Isabelle Autissier.
Isabelle Autissier, 1956 in Paris geboren und dort aufgewachsen, lebt heute in La Rochelle. Mit sechs Jahren entdeckte sie ihre Leidenschaft für das Segeln; 1991 machte sie Furore als erste Frau, die allein im Rahmen einer Regatta die Welt umsegelte. Seit den Neunzigerjahren widmet sie sich dem Schreiben. Ihr Roman 'Herz auf Eis' (2017) war für den Prix Goncourt nominiert und wurde SPIEGEL-Bestseller.
Weitere Infos & Material
Juri
Die Entdeckung der Vögel
Am 9. Mai wird der Sieg im Zweiten Weltkrieg gefeiert. Überall sonst wird dieses Ereignis am 8. Mai begangen, aber in der UdSSR ist die Zeitverschiebung zu berücksichtigen und der Wunsch, die Größe des Leides und des Heldenmuts des russischen Volkes während des Großen Vaterländischen Krieges in den Vordergrund zu rücken. Hitlers Weltbild gestand Franzosen, Belgiern oder Niederländern einen gewissen Status zu, ordnete aber die Bevölkerung der Ukraine, der baltischen Länder und der UdSSR als Untermenschen ein. Mit unglaublicher Brutalität war der Westen des Landes verwüstet worden, worauf mit ebensolcher Gewalt geantwortet wurde. Kämpfe wie die berühmte Schlacht von Stalingrad waren der Gipfel dieses Gemetzels. In den Siebzigerjahren, als Juri ein Kind war, litten die Familien noch unter den nicht verheilten Wunden; Albträume ließen die Alten unter Krämpfen und mit blankem Entsetzen im Blick mitten in der Nacht hochschrecken. Der Ruf des »genialen Strategen« Stalin hatte massiv gelitten, seit sein Tod dem Personenkult ein Ende bereitet hatte, aber die Machthaber der UdSSR strickten weiterhin eifrig an der Legende von der Einzigartigkeit und Unbesiegbarkeit der russischen Nation. Juri liebte den Mai. Die Tage wurden wieder endlos, der letzte Schnee war geschmolzen, sodass man in den Höfen und auf den Brachflächen spielen konnte, und eine ungewohnte Leichtigkeit ergriff die Erwachsenen. Am 1. Mai wurden die Arbeiter gefeiert, dann kam der 9. Mai und am 26. schließlich sein Geburtstag. Schon im April spürte er, wie die Vorfreude zunahm. Besonders intensiv erlebte er sie in der großen Turnhalle mit den schmutzigen Fenstern, wo die gesamte Schule die Siegesfeier vorbereitete. Am Morgen des 9. marschierten die Jugendorganisationen auf. Die kleinen Oktobristen, zu denen Juri mit sechs Jahren zählte, liefen vorneweg. Dann kamen die zehn- bis vierzehnjährigen Pioniere, gefolgt von Angehörigen des Komsomol, den Großen, bei denen man ins Träumen geriet. Vor der offiziellen Tribüne bildeten die Gruppen je nach Alter immer kompliziertere Formationen. Die Jüngsten sangen, und auf ein Signal hin schwangen sie in einer kleinen Choreografie selbst gemalte Bilder über den Köpfen, die die UdSSR zeigten und beim Umdrehen Hammer und Sichel. Juri liebte es, zu singen und zu tanzen. Die vielen Stimmen und die gemeinsam ausgeführten Schritte ließen seinen ganzen Körper bis ins Mark beben. Er fühlte sich von einer fröhlichen Kraft getragen, obwohl die Liedertexte traurig waren. Ansonsten war er eher ein zurückhaltender, schüchterner Junge, ein »Schwächling«, wie seine Kameraden spotteten, mit denen er sich nur im äußersten Notfall prügelte. Juris Begeisterung hatte ihm einen Platz an der Spitze einer Reihe beschert. Die anderen hinter ihm mussten sich nur an ihm orientieren. Er war ungeheuer stolz, und zwar umso mehr, als er den Blicken ausgesetzt war. Im Laufe des Aprils war seine Aufregung ständig gewachsen. Morgens, wenn er unnötig früh aufwachte, ging er im Kopf den Ablauf durch und alles, was falsch laufen konnte: dass ihm versehentlich sein Bild hinunterfiel, dass er nicht im Gleichschritt mit den Anführern der anderen sechs Reihen war und plötzlich als Einziger vorne stand oder, noch schlimmer, dass er über das unebene Kopfsteinpflaster stolperte, hinfiel und Spott auf sich zog. Er war ohnehin schmächtig, konnte aber nichts mehr essen, ein wildes Tier hatte sich in seinem Magen breitgemacht und zerfraß ihn von innen. Am Abend vor dem großen Tag kam sein Vater eigens für die Feierlichkeiten von See zurück. Juri behielt sein Geheimnis für sich. Er stellte sich Rubins Überraschung und große Freude vor, der den Aufmarsch von der Tribüne aus anschauen würde, die für die Kapitänsfamilien reserviert war. Er malte sich aus, wie sich die dicke Unterlippe zu einem der seltenen Lächeln wölbte und Rubin seine Nachbarn mit dem Ellenbogen anstieß: »Das ist mein Juri, ganz vorne in der dritten Reihe. Ein echter Oktobrist, Donnerwetter!« Er prüfte sorgfältig seine Uniform, die kurze marineblaue Hose, die langen Kniestrümpfe und das weiße Hemd, die himmelblaue Mütze und vor allem die Medaille mit dem Bildnis von Lenin, und vergewisserte sich, dass deren Sicherheitsnadel gut auf Höhe des Herzens festgemacht war. Erst morgens um zwei Uhr schlief er ein, bis dahin murmelte er unablässig den Refrain vor sich hin: Riesig ist mein Vaterland Wald, Fluss, Feld, so weit das Auge reicht Ich kenne kein andres Land Das ihm in seiner Freiheit gleicht Trotz eines kühlen Nieselregens, der die roten Papierblumen zerknitterte, die die kleinen Mädchen schwenkten, lief alles bestens. Kaum hatte der Lehrer sie in Reihen aufgestellt, ging es Juri besser, die Bauchschmerzen waren vergessen. Er war so konzentriert wie nie zuvor, und die Darbietung verging ihm wie im Flug. Er widerstand der Versuchung, zu seinen Eltern hinüberzuschauen, denn laut Anweisung sollten sie nach vorne blicken wie stolze Kinder der UdSSR. Der Nachmittag war für die Militärparade reserviert. Juri war immer dabei gewesen, zuerst auf dem Arm seiner Mutter, dann auf den Schultern seines Vaters. In diesem Jahr fuhr Rubin ihn an: »Schluss damit! Du bist kein kleines Kind mehr. Stell dich hin und halt dich gerade, um unsere Truppen zu grüßen.« Drei Stunden lang starrte er auf die Rücken der Leute vor ihm und konnte nur mit Mühe die Geschütztürme der Panzer ausmachen. Vor allem aber wartete Juri vergebens auf ein Lob oder auch nur eine kleine Bemerkung zu seiner tadellosen Leistung vom Vormittag. Er war durchgefroren und enttäuscht. Später würde er sich an dieses Erlebnis als den Beginn seiner Abneigung gegen Militärparaden erinnern. Auch am späten Nachmittag entzog sein Vater sich ihm. Er war zur feierlichen Überreichung der Medaillen eingeladen: Tapferkeitsmedaille, Verdienstmedaille, in Ausnahmefällen der Rotbannerorden – Rubin mochte diesen Prunk. Es bot Gelegenheit, Beziehungen zu pflegen und einen ordentlichen Schluck auf Kosten der Partei zu trinken. Währenddessen hatte Juri sich zu Hause aufgewärmt, wo die Nachbarn gute Wünsche, mit Kohl und Pilzen gefüllte Piroggen, Salat und Sülze austauschten. An diesem Tag schaute man nicht aufs Geld. Nachdem Juri sich gestärkt hatte, nahm er sich vor, auf seinen Vater zu warten, um endlich zu erfahren, wie sein Urteil ausfiel. Rubin kam spät und betrunken nach Hause, als Reva, Juris Mutter, gerade damit fertig war, die Küche aufzuräumen. Er ließ sich auf das Ecksofa fallen und verlangte, dass sie das Essen wieder herausholte. Seine Frau war daran gewöhnt, dass er spätnachts nach Hause kam, und hatte einen Teil des Essens aufgehoben, das sie ihm nun teilnahmslos servierte. »Ganz ehrlich, die Partei wird immer knauseriger. Von wegen Buffet! Nichts mehr da nach zwei Minuten! Und dieser Trottel von Anardow, der nie die Fangquote erreicht, hat uns die Verdienstmedaille weggeschnappt.« Er setzte sich an den Tisch. Löffel für Löffel verschlang sein großer Mund den Kartoffelsalat, den er mit einem Schluck Wodka hinunterspülte. Juri setzte sich ihm gegenüber und lauerte auf eine günstige Gelegenheit. Als Rubin endlich wie ein sattes wildes Tier seinen Teller beiseiteschob, hielt er den Moment für gekommen. »Hast du mich heute früh gesehen, Papa? Ich war an der Spitze der Reihe. Der Lehrer hat gesagt, dass ich das verdiene, weil ich besser singe und tanze als die anderen.« Der Vater schlürfte in Ruhe einen letzten großen Schluck. »Singen, tanzen!«, schimpfte er vor sich hin. »Bei Aufmärschen schön und gut, aber dabei bleiben darf es nicht. Ist was für Mädchen. Du hast Besseres zu tun. Mir wär’s lieber, dass du auch mal eine verpasst kriegst und mir erzählst, dass du die Prügelei gewonnen hast.« »Aber Papa …«, hakte der Junge nach. »Was, ›Aber Papa …‹«, äffte sein Vater ihn nach. Das für ihn typische Grinsen brachte seine Verachtung zum Ausdruck. Er betrachtete seinen Sohn, während er sich die Zähne säuberte. »Sechs Jahre! In deinem Alter hatte ich anderes zu tun, als zu singen und zu tanzen. Du solltest allmählich damit anfangen, ein Mann zu werden. Schau dich doch an, dünn wie eine Bohnenstange und Muskeln wie Gummi.« Wieder begutachtete er Juri auf eine Weise, die dem Kind unangenehm war. Rubin war stolz gewesen, einen Sohn zu bekommen. Er hatte durchgesetzt, dass es ihr einziges Kind bleiben würde, um die Familie nicht über Gebühr zu belasten. Reva bekam als Sekretärin des Rüstungsbetriebs ein gutes Gehalt. Rubin hatte sich für das Baby nicht interessiert. Als Juri sprechen und laufen konnte, hatte er ihm Lieder...