E-Book, Deutsch, 280 Seiten
Augustin Schluchten zwischen den Welten
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7521-0409-7
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 280 Seiten
ISBN: 978-3-7521-0409-7
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
Dritte Auflage mit aktualisiertem Nachwort. Als erster Roman entstand "Schluchten zwischen den Welten" zwischen 2015 und 2018. In ihren Erzählungen setzt sich die Autorin mit politischen, gesellschaftskritischen und zwischenmenschlichen Themen auseinander. Hauptberuflich ist sie als Ärztin tätig. Außerdem erschienen: "Doch alle schweigen" und "Über große und kleine Kriege"
Autoren/Hrsg.
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2 Die Rückkehr
Der Onkel winkt ihm am Flughafen zu. Irgendwie hat er das Gefühl, diese Situation schon einmal erlebt zu haben.
„Bist du gewachsen?“, begrüßt er ihn wie beinahe jedes Mal. „Aus dir ist ein richtiger Mann geworden.“
Stolz lächelt er den Bruder des Vaters an. An dessen Schläfen schimmert das kurze lockige Haar schon weiß. Er ist zwei Jahre älter als der Vater. Aber das schmale, friedliche Gesicht, das stets mit einer Mischung aus Belustigung und Zärtlichkeit in seine Augen blickt, lässt ihn bedeutend jünger wirken.
Plötzlich sieht er auch wieder ihre dichten Locken vor seinen Augen. Im Flugzeug sind seine Gedanken immer wieder zu ihr, den letzten Momenten, dem Anfang, dem Feuer gekreist. Immer wieder hat er gehofft, dass sie auf einmal neben ihm auftauchen würde. Nur ein weiteres Mal.
Das Auto knattert und klappert, während sie über die schmalen, unebenen Straßen fahren.
Der Onkel pfeift dabei fröhlich, kurvt um die Schlaglöcher, lacht, wenn der Atem kurz aussetzt und das Auto springt.
„Wie geht es der Großmutter?“, erkundigt er sich.
Andrii stellt das Radio leiser. „Sie freut sich, dich wiederzusehen.“ Dabei verdreht er verschwörerisch die Augen. Jeder weiß, wie gerne die Großmutter ihre Enkel hat. Da sie sie so selten nur noch zu Gesicht bekommt, lässt sie sie in den ersten Momenten gar nicht mehr von ihrer Seite oder aus ihren Armen. Darauf folgt für jeden Einzelnen eine wohl gemeinte Liste aus Ratschlägen, Kritik und Verbesserungsvorschlägen für das Leben.
Sie lachen beide. Ohne direkten Grund. Bloß des Lachens wegen. Bloß, um ihre Anspannung, die Distanz zwischen ihnen zu maskieren.
Früher hatte der Onkel ihn mitgenommen, wenn er in die Stadt gefahren ist, ihn an den Schaufenstern der Spielwarengeschäfte staunen lassen. Sie waren über die Felder getobt. Sie hatten Fußballturniere gespielt. Andrii stets als Schiedsrichter für die Dorfjugend.
Er konnte Geschichten erzählen, wusste bestens über die Menschen Bescheid.
So war er lange Zeit über ein Vorbild für ihn gewesen. Ganz anders auch als der Vater. Viel liebevoller in seinem Wesen, viel humorvoller.
Großmutter schließt ihn so fest in die Arme, dass er fast fürchtet zu ersticken. Ganz langsam legt er seine Hand auf ihr lichtes, schlohweißes Haar.
„Wie geht es dir, Großmutter?“ Sie drückt ihren Kopf noch fester an seine Brust, reibt mit der Stirn hin und her.
„Ich muss euch stärker festhalten, damit ihr nicht wie die Sandkörner in alle Richtungen euch verteilt, während ich hier einsam sterbe.“
„Dafür bist du ohnehin noch viel zu jung!“, bemüht er sich, sie zu beruhigen.
„Was macht mein Sohn in seiner neuen Heimat?“, verlangt sie schließlich über den Vater zu wissen.
Was würde sie wohl sagen, wenn er ihr erzählte, wie schwer er ihn hat überreden können, ihm überhaupt diese Reise zu gewähren? Schließlich solle er an die Kosten denken. Es gebe genug Arbeit in der Firma. Habe er denn nicht eigenes Taschengeld?
„Er arbeitet viel“, antwortet er daher vorsichtig.
Sie richtet sich in ihrem Schaukelstuhl auf.
„Setz dich doch, mein Junge!“ Die grau-blauen Augen wirken plötzlich müde.
Schwerfällig setzt er sich auf einen Plastikstuhl.
„So, er arbeitet viel...“ Ihre Augen funkeln neugierig.
„Ist er denn auch ausreichend für seine Familie da?“ Die Großmutter hat einen scharfen Verstand!
Verlegen faltet er die Hände ineinander.
„Ja, Großmutter.“
Sie lacht schallend, dass man meinen könnte, das ganze Haus würde beben.
„Junge, Junge, du bist ein schlechter Lügner! Sein Vater hat auch immer gearbeitet. Für Frau und Kinder gab es selten Zeit. Die hatten nur mich als Mutter. Tja, schlecht ist es ihnen gewiss nicht ergangen.“ Sie wippt zufrieden mit dem Stuhl.
„Aber alles nur für diese Illusion eines besseren Lebens.“
„Hast du noch starke Rückenschmerzen?“, versucht er ungeschickt das Thema zu wechseln.
„Hör mal: Ich bin zwar 87 Jahre alt. Doch dank der Tabletten, die mir mein Sohn geschickt hat, hüpfe ich wie in jungen Jahren.“ Tatendurstig trommelt sie mit den Fingern.
„Leontij hat ein Bild für dich mitgeschickt.“
Zusammen schauen sie auf die farbenfrohe Zeichnung des Fünfjährigen. Zusammen entwirren sie große moderne Autos, Flugzeuge und ein Herz für die Großmutter.
„Warum hast du ihn nicht mitgenommen?“, seufzt sie traurig. Den Jüngsten ihrer drei Enkel hat sie besonders gern.
„Großmutter, das geht nicht. Im Sommer werden sie dich besuchen. Das weißt du doch“, besänftigt er.
„Ja, ja, ihr jungen Menschen glaubt, dass ihr alle Zeit der Welt hättet. Aber mein Leben könnte mit jedem Tag enden. Erinnere dich an deinen Großvater. Wie er einfach beim Frühstück eingeschlafen ist.“
***
„Wie geht es der Mama, Vladislav?“, fragt ihn die Tante mit ihren ernsten Augen.
„Deutschland gefällt ihr“, lügt er und verschweigt die stummen Tränen der Sehnsucht.
„Kommst du in der Schule gut voran?“, mischt sich Andrii ein. In diesem Punkt ähnelt er seinem Bruder.
„Es geht“, weicht er aus. „Es könnte besser sein!“
***
Sie stopfen sich Bonbons in den Mund, während die amerikanischen Actionhelden auf der Leinwand die Welt retten.
„Er hätte sie töten müssen! Ich verstehe nicht, weshalb er stattdessen das Risiko eingegangen ist, selbst zu sterben...“, ereifert sich Pavlo, sein bester Freund seit dem ersten Schultag.
„“, zitiert er die junge Witwe des Spielfilms.
„Ich hätte das nicht getan! Du siehst doch, wie der Feind solche Verweichlichung zu seinem Vorteil ausnutzt. Ein wahrer Mann weiß sich zur Wehr zu setzen!“
Sie starren schweigend auf die Straße. Kein Bus ist weit und breit erkennbar. Wahrscheinlich müssen sie in ihr Dorf laufen.
Nachdenklich beschäftigt er sich mit dem Film. Hätte der Kriegsheld tatsächlich am Ende die Feinde töten sollen? Er hatte die Macht, er hatte den Ruhm und die Möglichkeit, in seiner Heimat damit noch mehr zum Helden zu werden. Aber es gab in seinem Leben nur Blut. Schon der grausame Mord an den Eltern hatte ihn zur Kampfausbildung bewogen. So war er zu einem sehr geübten, gar unschlagbaren Krieger geworden.
Doch genau in dem Moment, in dem er den Vater eines ungeborenen Kindes, die Trauer einer jungen Witwe hätte rächen können, trennt er sich vom Handwerk des Tötens und stirbt selbst.
„Viel zu schwere Thematik! Wir sollten auf den zweiten Teil warten“, holt ihn Pavlo zurück. Die Sommersprossen leuchten wie kleine Punkte auf dessen runden Wangen.
Der Wind weht eisig. Der Herbst ist bereits eingekehrt. Daher zieht er den Kragen seines Anoraks noch höher.
„Wirst du jetzt für immer dort bleiben?“, bricht der Freund schließlich die Stille.
Er seufzt tief. Alles fühlt sich irgendwie schwer an, seitdem er zurückgekehrt ist. Denn ein Teil von ihm ist nicht mitgereist.
„Ich weiß nicht“, gesteht er deshalb ehrlich. „Auf jeden Fall werde ich nicht mehr hierher zurückkehren.“
***
Am Abend spielen sie ausgelassen mit den Karten. Der Alkohol lockert die Zungen und lässt so manchen sonst Schweigsamen fröhlich singen.
„Deine Cousine wird uns morgen besuchen. Sie hat oft nach dir gefragt“, kündigt der Onkel mit hochrotem Kopf und einem unverschämten Grinsen auf den Lippen an.
Er spürt, wie er errötet. Die Cousine ist schon immer ein wenig sonderbar gewesen. Als wäre er ihr kleiner Bruder, ihr Kind, das sie bevormunden müsse. In Deutschland schien sie ihn dann vergessen zu haben. Das war ihm ganz recht.
Er denkt wehmütig an Jasmin.
***
Sie trägt ein weißes Kleid und lächelt ihr schönstes Lachen. Das, wenn die Grübchen an ihrem zarten Kinn weich mit den Wangen verfließen. Wenn sich kleine Fältchen unter den dunklen Augen bilden. Die Locken umspielen ihr Gesicht wie Licht, das sich in tausend Farben zerlegt. Ganz langsam blickt er hinunter bis zu ihren Füßen. Sie geht barfuß. Auf ihren nackten Zehen lagert sich der Tau.
Fröhlich springt sie vor ihm durch die langen Ähren der Getreidepflanzen, tanzt sie für ihn. Sie streifen durch die weiten Felder, über die kleinen Hügel. Sie ist bei ihm – überall.
Verzaubert folgt er ihren entzückten Rufen, wärmt er sich an ihrem Glück, das so unendlich scheint.
Ganz plötzlich reißt der krachende Blitz eines tosenden Gewitters den Moment entzwei. Regentropfen prasseln auf sein vollkommen durchnässtes Haar.
Während er erschrocken nach ihrer Hand greift, starrt sie ernst auf die hängenden Köpfe der Ähren.
„Vielleicht ist zu viel Blut geflossen“, erklärt sie dann. Auf ihren Lippen liegt ein Schmerz, zerrt er das Glück aus ihrer zarten Seele, dass er zu frösteln beginnt.
Es hagelt. Sie beginnen zu rennen, einen Schutz zu suchen.
Auf einmal ist es still. Totenstill. Mit vor Angst pochendem Herzen schlägt er rasch die Augenlider auf. Es ist einfach nur hell und unheimlich, gar beklemmend still. Und er ist allein.
***
Der Geschmack der Heimat hat seine Einzigartigkeit verloren.
Die bröckelnde Fassade des einstigen Schulgebäudes lässt ihn gleichgültig bleiben. Die Straßen sind...