E-Book, Deutsch, 173 Seiten
Augustin Doch alle schweigen
1. Auflage 2020
ISBN: 978-3-7521-2491-0
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 173 Seiten
ISBN: 978-3-7521-2491-0
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
"Doch alle schweigen" ist der zweite Roman nach "Schluchten zwischen den Welten". In ihren Erzählungen setzt sich die Autorin mit politischen, gesellschaftskritischen und zwischenmenschlichen Themen auseinander. Hauptberuflich ist sie als Ärztin tätig. Außerdem erschienen: "Über große und kleine Kriege", "Schluchten zwischen den Welten"
Autoren/Hrsg.
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Prolog
Es fühlt sich endgültig an.
Wie sie ein letztes Mal den Wecker verschlafen ausstellt.
Ein letztes Mal das Bett richtet.
Den warmen Kaffee schlurft.
Sie wärmt ihre knochigen, weißen Hände an der großen roten Tasse.
Kurz blitzt da eine Erinnerung auf: Ein Morgen fast wie immer. Ein Morgen danach.
Sie stellt das Radio an, lässt die Pop-Musik laufen.
Es schmerzt in den Ohren, ist überhaupt nicht ihr Geschmack.
Doch heute berührt es sie nicht.
Auch das scheint vorbei.
„Guten Morgen. Du bist noch hier?“, steht Lucia neben ihr und reibt sich müde die Augen.
„Ich fahre erst um 10 Uhr“, kaut sie lustlos auf ihrer Toastscheibe mit viel zu süßer Erdbeermarmelade.
„Bist du so schnell mit der Bahn am Hauptbahnhof?“, fragt ihre Freundin und streicht eine dunkle Strähne ihrer langen, spanischen Locken hinter das Ohr.
„Mach dir keine Sorgen, Lucia! Ich habe es schon im Griff“, greift sie wieder nach der Kaffeetasse.
„Ich werde dich vermissen, Kris“, lächelt die Freundin plötzlich traurig und setzt sich ihr gegenüber.
Beinahe erschrocken sieht sie von dem braunen Getränk auf und mustert das zarte Gesicht mit der straffen olivbraunen Haut, den schwarzen feurigen Augen und der spitzen, fast edlen Nase.
„Ich werde wiederkommen“, stellt sie abwehrend das Geschirr zusammen.
„Bevor du mich für immer verlassen möchtest?“, erwidert die Spanierin sofort und runzelt streng die Stirn.
Schweigend spült sie den Teller, der schon einen Sprung am Rand hat, die rote Tasse mit dem Kaffeerand, das Besteck und den Abwasch des vergangenen Abends.
Das Wasser wärmt ihre Haut, bringt ein wenig Leben in die Gefäße.
Um 10 Uhr am Hauptbahnhof.
Ein paar Stunden Zugfahrt.
Natürlich für immer.
Mit gesenktem Kopf trocknet sie ihre schmalen Hände an dem blau karierten Handtuch.
Alles ist hier so gewöhnlich.
Nichts hat mehr seinen Reiz von früher.
Es ist verbraucht.
„Ich kann ein Stück mit dir fahren“, hätte sie beinahe vergessen, dass sie nicht allein ist.
„Geht schon, Lucia. Ich schaffe das“, lacht sie selbst unsicher.
Die Freundin kneift die vollen, dunkelrot geschminkten Lippen zusammen.
„Ich habe es mir vorgenommen“, weicht sie einen Schritt zurück.
Ohne eine klare Emotion, vielleicht mit einem Funken Neugier beobachtet sie sich selbst, wie sie mit der schweren Holzbürste das lange blonde Haar kämmt. Die Strähnen fließen um ihren dünnen Hals.
Mit flauem Gefühl im Bauch starrt sie die grün-grauen ausdruckslosen Augen an, die durch tiefe Ringe müde scheinen.
Das Licht der Morgensonne blendet sie, als sie langsam, gar bedächtig, in ihre enge schwarze Jeans schlüpft, die BH-Träger über die Schulter zieht, innehält.
Da sind sie wieder, die Erinnerungen.
Tief in ihrer Seele.
Verbrannte Erde, verbrannte Haut.
Als wären sie zerbrechlich streicht sie mit den zarten Fingerkuppen über die Schultern, die Oberarme, den Hals…
Sie schließt die Augen.
Ihre Haut brennt überall.
Eine tiefe Traurigkeit umhüllt sie wie ein unsichtbarer Mantel.
Eine ganze Flut aus Erinnerungen lässt sie erstarren.
„Kristina?“, hört sie jemanden an ihre Tür klopfen.
Abrupt reißt sie sich von ihrem Spiegelbild los, zieht den schweren roten Vorhang ein Stück vor, um nicht ganz so stark geblendet zu werden.
Sie seufzt, greift dann nach der blauen mit Blumen bestickten Bluse.
Ihre Finger zittern, als sie sie zuknöpft.
Ihr eigener Atem klingt in den Ohren.
„Kristina? Dein Zug fährt bald“, klopft es erneut an die Tür.
Eilig streift sie sich den beigefarbenen Cardigan über, legt den weißen dicken Wollschal um den Hals.
„Ich bin schon da!“, reißt sie die Tür auf.
Lucia mustert sie eindringlich. Das hat sie häufiger gemacht.
Nie mochte sie es.
Schließlich fühlt sie sich jedes Mal so unbehaglich dabei, als versuche jemand, sie bei der kleinsten Lüge zu überführen, in ihrem Herzen zu wühlen, Gefühle anzurühren, die nicht mehr da waren.
„Du bist spät dran“, runzelt die Freundin wieder streng die Stirn.
„Ich werde es sicherlich schaffen“, wirft sie sich achselzuckend den langen schwarzen Mantel über und schließt den Reißverschluss ihrer schwarzen hohen Stiefel.
„Bis bald!“, umarmt Lucia sie plötzlich und sie macht sich Vorwürfe, weil sie nach einer vierjährigen Freundschaft doch etwas empfinden sollte.
„Bis bald!“, lächelt sie im Türrahmen unsicher und drückt den Knopf für den Fahrstuhl.
„Du siehst gut aus. Guapa1!“, lacht die Spanierin und es soll den Schmerz der Trennung verbergen.
Das ist ihr bewusst.
„Bis bald!“, ruft sie unbeholfen, während sie den schweren Koffer in den Fahrstuhl hievt.
Sie winken.
Fast wie Kinder.
Ehe sich die metallenen Türen direkt vor ihrer Nase schließen.
„Bis bald!“, seufzt sie leise, als ihr die frische Novemberluft entgegen strömt.
Die kleinen Rollen des silbernen Koffers klacken auf dem Bürgersteig mit jedem Schritt.
Klack-klack…
Das ist ein eigentümlicher rhythmischer Klang.
Sie muss Acht geben, dass sie nicht auf den nassen, bunten Laubblättern am Boden ausrutscht.
Die kalte Herbstluft brennt in ihrem Hals.
Eine Frau – so Mitte 30 Jahre alt – schiebt einen marineblauen Kinderwagen langsam vor sich und telefoniert dabei so laut, als müssten alle Passierenden mitreden.
Nervös geht sie hinter ihr.
Allmählich wird die Zeit nämlich tatsächlich knapp.
Auch auf der Straße staut es sich. Manche Autofahrer hupen bereits genervt.
Zu allem Übel beginnt es zu regnen.
Die kalten, nassen Tropfen legen sich auf ihren dunklen Mantel.
„Entschuldigung, Madame!“, rempelt ein Mann mit Glatze und Lederjacke erst sie und danach die Mutter mit dem Kinderwagen an.
„Entschuldigung“, bittet sie die Frau mit einem verlegenen Lächeln und leiser Stimme.
„Oh, ich wusste gar nicht, dass Sie ebenfalls vorbei wollten. Sie laufen doch schon eine Weile hinter uns“, lacht die Dame gut gelaunt für einen grauen Novembermorgen.
Peinlich berührt senkt sie den Kopf und rennt beinahe den Fußweg zur U-Bahn entlang.
Ein letztes Mal vorbei an den kleinen Geschäften, der Tischlerei, dem Buchladen, dem Gemüseladen.
Ein letztes Mal hebt sie den doch schweren Koffer die Treppen hinunter. Der Fahrstuhl wird wohl auch in Zukunft noch seine Reparatur erwarten.
Ein letztes Mal hält sie plötzlich mitten auf der Treppe, sodass andere Leute um sie einen Bogen machen müssen.
Sie dreht sich um, wirft einen überraschten Blick auf die roten Dächer vor dem Wolken verhangenen Himmel.
Auf einmal lächelt sie leise, denn es fühlt sich zum ersten Mal richtig an.
Auf dem Bahnsteig sammeln sich die Menschen. Jugendliche, deren Musik aggressiv wummert, Ältere und Familien schauen immer wieder zur Anzeigetafel.
5 Minuten Verspätung, liest sie und klopft nervös mit den Fingern auf ihren Koffer.
Ein junges Pärchen umarmt sich immer wieder direkt neben ihr innig. Die langen rot lackierten Nägel der schlanken, blondhaarigen Barbie krallen sich in seinen Nacken.
„Ich will nicht, dass du gehst“, säuselt er und zieht seine Freundin noch näher an seinen muskulösen Körper.
„Nur ein paar Stunden“, lacht sie und legt ihre ungewöhnlich kräftigen Finger auf seine Lippen.
„Liebling“, ertappt die Frau sie, wie sie das Paar ausdruckslos beobachtet, aus den Augenwinkeln.
Ihre Wangen färben sich rot vor Scham.
Die U-Bahn fährt ein.
Erwartungsgemäß drängen sich die Menschen aneinander. Der Ton ist rau wie überall in der Anonymität einer Großstadt.
Nur die Glücklichsten dürfen sich sitzend chauffieren lassen. Für die anderen scheint es fast als Segen, wenn sie sich noch irgendwo festhalten können.
Da kommt sie mit ihrem Koffer sicherlich genau im Moment.
Tausende Gerüche steigen gleichzeitig in ihre zarte Nase.
Dutzende Stimmen vermengen sich zu einem einzigen unverständlichen Rauschen.
Etliche Sprachen werden zu einem fremden Kauderwelsch.
Die Nähe ist drückend.
Sie ist ihr ohnehin lästig geworden.
Zum Beispiel die Jugendlichen, die sich nicht festhalten möchten und ständig gegen ihren Koffer treten.
„Sorry“, grinsen sie frech und es geht weiter.
Oder aber der Mann, der seinen kräftigen, mit Totenköpfen tätowierten Arm direkt vor ihrer Nase ausgestreckt hat. Er ist ein Riese, wahrscheinlich um einen Meter und neunzig groß. Seine Haut ist selbst im Gesicht mit furchterregenden Kreaturen verziert. Riesige Plug-Ohrringe durchspießen die dicken Ohrläppchen.
Bei jeder Station hofft sie, dass er endlich aussteigen würde, anstatt weiter schmatzend ein Brötchen direkt neben ihr zu verzehren.
Ab der Station Frankfurter Allee als Umstiegsmöglichkeit zur Berliner S-Bahn lässt es sich wieder atmen.
Sie verzieht sich in den gegenüberliegenden Türbereich und schließt ganz kurz die Augen.
Wie gerne wünschte sie sich ein Bett hierher! Wie gerne würde sie den Schlaf ganzer Jahrzehnte nachholen!
Etwas Feuchtes, Kaltes berührt sie an der Hand.
Erschrocken schlägt sie die Augen auf.
Doch glücklicherweise handelt es sich nur um die eingeregnete Rucksackschnalle der Reisenden neben ihr.
Eine junge Frau mit kurzem braunen Haar und einem gewaltigen Wanderrucksack unterhält sich mit ihren...