E-Book, Deutsch, 197 Seiten
Augustin Als wären wir Feinde
1. Auflage 2022
ISBN: 978-3-7546-9049-9
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
E-Book, Deutsch, 197 Seiten
ISBN: 978-3-7546-9049-9
Verlag: tolino media
Format: EPUB
Kopierschutz: Adobe DRM (»Systemvoraussetzungen)
In ihren Erzählungen setzt sich die Autorin mit politischen, gesellschaftskritischen und zwischenmenschlichen Themen auseinander. Hauptberuflich ist sie als Ärztin tätig. Außerdem erschienen: "Über große und kleine Kriege", "Schluchten zwischen den Welten"; "Doch alle schweigen"
Autoren/Hrsg.
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Kapitel 1 Amir
„Schuss!“, pfeifen die Kugeln um ihre Ohren.
„Laden!“, vollführen ihre Hände schon automatisch.
„Deckung!“, kauern sie sich hinter die Barrikaden.
Die Kugeln zischen über ihnen entlang.
Dann wird es still.
Gefährlich still.
Wahrscheinlich ist das der tödlichste Moment.
Nur ihr Atem keucht.
Yunus` feuchter Klang neben dem seinen.
Immerhin: Sie leben.
„Laden!“, flüstert der Kamerad an seiner Seite.
„Wie viel Schuss haben wir noch?“, blickt er aufmerksam zu der Munition zwischen ihnen.
„Reicht erst einmal noch“, kneift Yunus seine grünen Augen zusammen und drückt ab.
, hört er irgendwann auf zu zählen.
Danach wird es erneut still.
„Hast du getroffen?“, flüstert er dem anderen ins Ohr.
„Hoffentlich!“, bemerkt er, dass dessen Hände zittern.
Plötzlich schlagen über ihnen die Kugeln ein.
Eins, zwei, unzählige zerreißen die Luft.
Sie kauern sich noch kleiner hinter die schützenden Wände, halten die Hände über die Ohren.
Lauschen erneut.
Still.
Wo werden sie sein?
Vor allem: Wie nahe?
Fragend blickt er zu Yunus.
Der nickt.
Knall! Knall!, fliegen die Kugeln aus seiner Waffe durch die Luft.
Treffen oder treffen nicht.
Irgendwann zählt man nicht mehr.
So arbeiten sie sich zur nächsten Wand vor.
Ein Schuss, zwei Schüsse, mehrere.
Pause.
Ihre Brust hebt sich, senkt sich.
Das Herz klopft, krampft.
Hofft, spürt, dass es weiter schlägt.
„Um die Ecke!“, weist Yunus mit seinem faltigen Gesicht nach vorne, wo die Kugeln eingeschlagen sind.
Er greift in seine Tasche.
Zündet.
Wirft das Geschoss.
Der Weg ist frei.
Sie zählen nicht die Körper, über die sie unterwegs steigen.
Erahnen nur die Flammen rechts und links, die die Balken stürzen lassen.
Hören nicht die Schreie, leises Wimmern.
Nur ihren Atem, das feuchte Keuchen von Yunus in seinen Ohren, bemerken sie.
Die Füße stolpern beinahe über die Steine – große und kleine – die Scherben, das Holz und was da ansonsten vielleicht noch liegt.
Seine Ohren rauschen noch immer.
Das Herz schlägt zum Zerspringen.
Instinktiv duckt er sich plötzlich an die kalte Hauswand, zieht Yunus noch in letzter Sekunde mit sich.
Die Erde erzittert.
Glas zerspringt.
Schreie verhallen.
Die Flammen lodern.
„Scheiße!“, hält Yunus fassungslos die Hand vor den Mund.
„Wie viel haben wir noch?“, wühlt er eilig in den Taschen.
„Nicht mehr viel“, hält der Kamerad den Blick auf die Flammen gerichtet.
Am Ende der Straße sehen sie sie laufen.
Bewaffnet bis an die Zähne.
Bereit wie sie zum Äußersten zu schreiten.
Yunus legt die Waffe an.
„Wenigstens einen“, murmelt der.
„Nicht“, senkt er vorsichtig die Waffe.
„Wenigstens einen“, wiederholt der alte Kamerad jedoch immer wieder.
„Besser nicht. Komm“, zerrt er ihn auf die andere Straßenseite.
„Hilfe!“, klingt ein verzweifelter Ruf leise an ihre Ohren.
„Wo?“, blicken sie sich suchend um.
„Wir sollten besser...“, mahnt Yunus.
„Da!“, stürzt er schon zu der Frau.
„Hilfe!“, flüstert sie und schaut sie mit blassem Gesicht an.
„Hier!“, drückt er ihr sein Kopftuch auf die Wunde.
„Hier!“, reicht ihr Yunus etwas aus seiner Flasche.
„Hilfe!“, ruft sie erneut, während sie sich durch die Trümmer arbeiten.
„Komm!“, zerrt er den Kameraden am Ärmel weiter.
„Komm!“, murmelt er immer wieder, während seine Hände zu zittern beginnen.
Ihre schwarzen Stiefel zermalmen den gesprengten Beton unter den Füßen.
Das Knirschen hören sie nicht.
In ihren Köpfen rauscht das Blut, die Angst, oder was da sonst noch ist.
„Vorsicht!“, hilft er dem Kameraden über eine längst zerstörte Treppe.
„Leise!“, legt der urplötzlich einen Finger an die Lippen und bleibt stehen.
„Komm!“, drängt er, aber der Kamerad kommt nicht.
„Leise!“, legt der ein Ohr auf den Boden und späht aufmerksam nach rechts und links.
„Was? Wir müssen hier weg!“, zeigt er mit der Waffe in Richtung Ausgang, nachdem er auch gelauscht hat.
Doch Yunus kehrt zurück. Er lässt ihn stehen, geht mit großen Schritten zielstrebig an die graue rissige Wand gegenüber, bückt sich, lauscht.
„Wo gehst du hin?“, bleibt er unschlüssig stehen, weil noch immer sein Herz in der Brust zerspringt.
„Komm!“, winkt der Kamerad und legt ein paar Steine beiseite.
„Was? Wir müssen gehen!“, nähert er sich vorsichtig.
Noch schneller wirft Yunus einen Stein nach dem anderen zur Seite.
Da hört er es!
Die Stimmen.
Er lädt.
Zur Sicherheit.
Das ist das einzige, was zählt.
„Komm! Hilf mir!“, greift der alte Kamerad nach seinem Arm.
Doch er streckt den Lauf der Waffe in das Loch.
Jemand schreit erschrocken.
„Leise! Niederlegen! Amir, zieh die Waffe zurück!“, zerrt Yunus an seinem Arm.
Vorsichtig zieht er die Maschinenpistole zurück, starrt nun selbst in das Loch, das der Kamerad freigelegt hat.
Starrt nun selbst in acht ängstliche Kinderaugen, auf eine Frau oder die Abaya, unter der sie wohl verborgen ist, einen Mann in der Mitte des Lebens, der zwischen ihnen kauert.
„Wir können ihnen nicht helfen“, dreht er sich von dem Loch weg.
„Amir, wohin gehst du?“, ruft Yunus aufgeregt, als er mit der Waffe in der Hand sich von dem Loch entfernt.
„Wir haben keine Zeit“, erklärt er und deutet auf die Wände, hinter denen weiter die Schüsse fallen, die Erde bebt.
„Amir, hilf mir!“, kniet Yunus vor dem Loch und streckt die Hand hinein.
„Hier sind sie sicherer als draußen“, kneift er die Augen fest zusammen. „Komm endlich!“
„Bruder, wir müssen ihnen helfen. Der Mann ist verletzt“, stützt sich Yunus am Boden, um sich langsam zu erheben.
Er hat keine Ahnung, wie alt der Kamerad wirklich ist. Durch den grauen Bart, die langsamen Bewegungen und den wohl genährten Bauch besitzt er etwas Verwundbares. Das ist gefährlich.
Gefährlich mitten im Krieg.
„Amir, wir können sie nicht einfach hier lassen!“, fleht Yunus.
„Doch!“, schießt er einen Stein über den Boden. „Wir müssen!“
„Amir, wo ist dein Herz?“, greift sich der Kamerad an den Kopf und zieht das Kopftuch tiefer.
„Gib ihm dein Tuch und dann lass sie hier!“, bleibt er aber stehen.
„Amir, komm!“, nimmt der alte Mann sein eingestaubtes Tuch vom Kopf.
„Sie werden ihn erschießen. Jetzt lass endlich!“, entfernt er sich weiter von dem Loch.
„Amir!“, hastet der Kamerad an seine Seite.
„Scheiße!“, flucht der dann immer wieder, während er ihn eilig um die Ecken zerrt.
„Still!“, legt er einen Finger an die Lippen und lauscht, als sie den Ausgang erreicht haben.
„Da!“, deutet der Kamerad auf die gegenüberliegenden Fenster.
„Vorsicht!“, ziehen sie sich sofort in das Gebäude zurück und rennen, so schnell die Beine sie tragen, den ganzen Weg zurück. Stolpern erneut über den zerbröckelten Beton, die zerstörte Treppe, den langen Gang.
Dann bebt alles.
Alles.
Der Boden unter ihnen zerreißt.
Die Säulen stürzen.
Es ist still.
Benommen tastet er nach seiner Waffe.
Die liegt kühl in seiner Hand.
„Yunus!“, greift er danach neben sich zum Kameraden.
„Yunus!“, hockt er sich dann panisch neben den Älteren.
„Mach die Augen auf!“, schlägt er auf die runden Wangen.
Noch immer ist es still.
Benommen dreht er den Kopf, lässt den Blick kreisen.
Über Säulen, die zusammengestürzt sind.
Betondecke, die in der Mitte zusammengestürzt ist.
Eingestaubte Fetzen.
Kein Blut.
„Mach die verdammten Augen auf!“, versucht er, den Kameraden an die Wand zu dem Loch zu ziehen.
Er hält inne. Lauscht.
Noch immer ist es still.
Sind sie nun sicher?
„Helft mir!“, lässt er den Kameraden zu der Frau hinab, die erschrocken die Kinder an sich drückt.
„Los!“, zwängt er sich danach selbst durch das schmale Loch in den Keller.
„Leise!“, mahnt er die Frau und die Kinder.
„Yunus, mach die verdammten Augen auf!“, tastet er unten in dem dunklen Keller nach dem Puls am dicken und feuchten Hals des Kameraden.
„Scheiße! Scheiße!“, wiederholt er leise.
„Amir!“, sagt der Kamerad endlich mit schwacher Stimme.
„Still!“, lauschen sie nun alle nach den Schritten oben.
„Still!“, legt er nur noch den Finger warnend vor den Mund.
Sie kauern sich in die dunklen Ecken.
Die kleinen Kinder unter die lange Abaya der unsichtbaren Frau.
Er mit dem Kameraden auf der anderen Seite.
„Wo sind sie?“, hören sie die Stimmen.
„Weit können die nicht sein!“, lauschen sie mit pochendem Herzen.
„Weiter!“, entfernen sich die Schritte.
Fast möchten sie schon aufatmen.
„Da ist etwas“, haben sie nun offenbar doch eine Spur gefunden.
„Blut!“, beobachten sie.
„Bis dort drüben“, schließen sie und treten näher.
Erneut legt er mahnend den Finger vor die Lippen, schließt die Augen.
„Im...