E-Book, Deutsch, 416 Seiten
Ashdown Little Sister - Kannst du ihr vergeben?
1. Auflage 2019
ISBN: 978-3-641-21783-9
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Roman
E-Book, Deutsch, 416 Seiten
ISBN: 978-3-641-21783-9
Verlag: Blanvalet
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Sechzehn Jahre lang haben sich die Schwestern Jessica und Emily nicht gesehen. Jessica verließ nach einem tragischen Ereignis in ihrer Jugend das Elternhaus und brach den Kontakt ab. Erst auf der Beerdigung ihrer Mutter sehen sie sich wieder und nähern sich erneut an. Die Vergangenheit scheint vergessen, und Emily lädt Jessica ein, in ihrem Haus bei ihrer Familie zu wohnen. Doch als Emilys kleine Tochter Daisy verschwindet, während Jessica auf sie aufpassen sollte, brechen alte Wunden auf, und das schöne Leben, das Emily so sorgsam aufgebaut hat, gerät aus den Fugen …
Isabel Ashdown wurde in London geboren und wuchs an der Küste von Sussex auf. Ihr preisgekrönter Roman »Glasshopper« wurde zweimal zum besten Buch des Jahres gewählt. Sie schreibt inzwischen hauptberuflich und setzt sich ehrenamtlich für die gemeinnützige Organisation Pets as Therapy ein. Sie ist derzeit Royal Literary Fund Fellow an der Universität von Chichester.
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3 Jess
Ich sitze im Verhörraum des Polizeireviers von Newport, und alles, was ich denken kann, ist: Verdächtigen sie mich? Bin ich verhaftet? Die Polizistin meinte, nein, sie hielten es nur für besser, die Befragung auf dem Revier fortzusetzen. Aus Respekt gegenüber Emily und James. Trotzdem haben sie meine Kleider in Plastiktüten gesteckt, sind mir mit einem Zahnstocher unter die Fingernägel gefahren und haben Fingerabdrücke abgenommen.
»Das machen wir auch mit James und Emily«, sagt DCI Jacobs. Sie hat mich fast keine Sekunde aus den Augen gelassen, seit wir losgefahren sind, hat mir bei der Anmeldung geholfen, als wir auf dem Revier ankamen, wo am frühen Neujahrsmorgen natürlich der Teufel los war. Sie hat mir erklärt, dass sie die Ermittlung leitet. Ermittlung.
»Sie werden also auch deren Kleider in Plastiktüten stecken?«, frage ich.
»Nein, das nicht. Aber an ihren Kleidern ist auch kein Blut. Das ist das ganz normale Prozedere. Wir müssen Ihr Blut analysieren, Jess, um festzustellen, ob das Blut an Ihren Kleidern von Ihnen selbst oder von jemand anderem stammt. Oder von Daisy.«
Jedes Mal, wenn ihr Name fällt, dreht sich mir der Magen um, bei jeder Andeutung, bei jedem unausgesprochenen Verdacht, dass ihr etwas zugestoßen sein könnte …
Ein Polizist kommt herein und stellt mir einen Pappbecher mit Kaffee hin. Ich trinke einen Schluck und zucke zusammen: kein Zucker. Ich nehme den Mann vage wahr, groß, mit Bart, etwa Mitte vierzig, aber meine ganze Aufmerksamkeit gilt DCI Jacobs. Sie ist diejenige, die ich überzeugen muss. Er setzt sich neben sie und hantiert am Aufnahmegerät herum, während sie eine neue Seite in ihrem Notizblock aufschlägt und das Datum und noch ein paar andere Sachen notiert, die ich von dort, wo ich sitze, nicht lesen kann. Es geht los, DCI Jacobs geht alle Fragen von vorhin noch einmal durch, und ich gebe mir alle Mühe, ihren Rat zu beherzigen, nachzudenken, bevor ich antworte, mir die Szene bildlich vorzustellen. Aber es ist schwer, wirklich schwer, bei all den großen Lücken in meiner Erinnerung.
»Um wie viel Uhr sind James und Emily zu ihrer Party aufgebrochen?«, fragt DCI Jacobs und geht übergangslos noch einmal zum Anfang zurück. Ihre Miene ist undurchdringlich, ihre kantigen Züge verraten nichts darüber, was sie über mich denkt, was ihrer Meinung nach passiert ist.
»Um kurz nach sieben«, antworte ich.
»Wissen Sie, wo die Party stattfand?«
Ich schaue sie ausdruckslos an. »Nein. Also, ich weiß, dass die Party bei Marcus und Jan war, aber ich weiß nicht genau, wo die wohnen. Irgendwo in der Nähe von Shanklin, glaub ich. Fairbrother. So heißen sie mit Nachnamen.«
DCI Jacobs macht sich Notizen, obwohl das Lämpchen am Rekorder anzeigt, dass alles aufgenommen wird. »Und woher kennen Ihre Schwester und Ihr Schwager Marcus und Jan Fairbrother?«
»Er ist einer von James’ ältesten Freunden. Außerdem sind sie Geschäftspartner – ich glaube, sie haben vor ein paar Jahren ihre beiden IT-Firmen zusammengelegt. Wenn Sie das genauer wissen wollen, müssen Sie James fragen.«
»Sie sagten also, die beiden sind gegen sieben zu der Party aufgebrochen? Wieso sind Sie sich bei der Uhrzeit so sicher?« Offenbar will sie feststellen, wie zuverlässig ich bei so schlichten Informationen bin, denn sie stellt lauter solche Fragen.
»Es war auf jeden Fall kurz vor sieben – das weiß ich, weil Emily unbedingt pünktlich loswollte und Daisy noch nicht schlief. Ich war in der Küche, und James hatte sich gerade den Mantel angezogen und war dabei, die Hintertür abzuschließen. Emily stand unten an der Treppe und war total gestresst, weil Daisy immer noch in ihrem Bettchen vor sich hin plapperte. Ich hab ihnen gesagt, sie sollten ruhig gehen, ich würde mich schon um Daisy kümmern.«
DCI Jacobs gibt mir mit einem Kopfnicken zu verstehen, dass ich fortfahren soll.
»Ich passe seit Oktober regelmäßig auf sie auf und bin es gewohnt, sie ins Bett zu bringen.«
»Seit drei Monaten. Also seit Sie bei Ihrer Schwester und Ihrem Schwager eingezogen sind?«
»Ja. Emily hatte kurz davor wieder angefangen zu arbeiten. Sie ist Hilfslehrerin an der örtlichen Grundschule. Sie hatten schon lange nach einer Kinderfrau gesucht, aber keine gefunden, die ihnen gefiel, und als ich mich angeboten habe, das zu übernehmen, hat meine Schwester sich sehr gefreut.«
»Sind Sie ausgebildete Tagesmutter?«
Mir bleibt fast das Herz stehen; offensichtlich verdächtigen sie mich, sonst würden sie doch so etwas nicht fragen, oder? »Nicht direkt. Aber ich habe auf meinen Reisen öfter Kinder gehütet, und ich bin Daisys Tante, also hat Emily mir vertraut …« Das mit dem Kinderhüten auf Reisen ist gelogen, und mir wird ganz heiß. Ich hoffe bloß, dass sie es nicht bemerken. Plötzlich erscheint mir die kleine Flunkerei, die ich Emily aufgetischt habe, wie eine Riesenlüge und von großer Bedeutung, aber jetzt, Monate später, lässt sich daran nichts mehr ändern. Was würde Emily denken, wenn sie die Wahrheit wüsste?
»Sie sagten, Emily hätte niemanden gefunden, der ihr gefiel – woran lag das?«
»Wie meinen Sie das?«
»Weshalb haben die Bewerberinnen ihr nicht gefallen?«
»Ach so. Ich weiß nicht – sie hat ziemlich hohe Ansprüche – in Bezug auf die Ernährung, das Abstillen, solche Sachen – und ich nehme an, manchen war das zu viel; andere wird sie vielleicht einfach nicht gemocht haben. Sie ist eine gute Mutter, sehr gewissenhaft. Jemand, dem man seine Kinder anvertraut, muss einem sympathisch sein, da muss die Chemie stimmen, finden Sie nicht? So jemandem muss man vertrauen können.«
DCI Jacobs nickt langsam. »Haben Sie selbst Kinder, Jess?«
Ich schüttle den Kopf, unfähig, ihr in die Augen zu sehen. Es gefällt mir überhaupt nicht, wie sich diese Fragen anfühlen.
»Was ist mit Emilys Stieftochter Chloe? Wie alt ist sie? Fünfzehn? Soweit ich weiß, war sie an dem Abend auch weg. Wie kommen Sie mit ihr zurecht?«
»Mit Chloe? Ich habe sie sehr gern, sie ist ein tolles Mädchen. Wir kommen sehr gut miteinander aus.«
DCI Jacobs wirft einen Blick auf ihre Notizen. »Nach meinen Informationen ist Chloes Mutter gestorben, als sie noch sehr klein war – und ein Jahr später haben Emily und James sich kennengelernt, richtig?«
»Ja. Da war Chloe vielleicht zwei oder drei.«
»Versteht Chloe sich gut mit Ihrer Schwester – mit ihrer Stiefmutter?«
Ist das eine Fangfrage? »Ja«, antworte ich, aber ihr entgeht mein Zögern nicht, und ich habe sofort das Gefühl, Emily verraten zu haben. Ich bin dermaßen erschöpft, dass ich alles falsch mache; selbst wenn ich die Wahrheit sage, klingt es, als würde ich lügen. Wie soll ich mich verhalten? Wie soll man die Hände auf den Tisch legen – wohin soll man den Blick richten – in welchem Ton soll man sprechen, wenn man weiß, dass sie die ganze Zeit auf ein Zeichen dafür lauern, dass man die Unwahrheit sagt? Verzweiflung überkommt mich, und plötzlich weiß ich nicht mehr, was sie mich gefragt hat.
»Emily und Chloe?« DCI Jacobs’ Augen weiten sich ein wenig, sie möchte offenbar, dass ich mehr dazu sage.
»Sie sind ganz normal, wie Mutter und Tochter eben – mal vertragen sie sich großartig, dann streiten sie sich. Ich war genauso in dem Alter. Chloe ist ein Teenager, was soll man da erwarten?«
»Aber mit Ihnen versteht Chloe sich sehr gut?«
»Ja, natürlich, ich bin ja auch nicht ihre Mutter. Für mich ist es einfach. Ich versuche, an den Wochenenden ein bisschen Zeit mit ihr zu verbringen, damit Emily sich um Daisy kümmern kann. Em ist immer müde; es ist schwer, nach der Babypause wieder arbeiten zu gehen.«
»Wie ist sie denn so, wenn sie müde ist? Verliert sie schon mal die Beherrschung?«
»Nein!«
DCI Jacobs sieht mich ungläubig an. »Nie?«
Die Frau macht mich ganz verrückt, ich könnte schreien. »Na ja, manchmal natürlich«, erwidere ich gereizt. »Sie ist schließlich kein Roboter. Aber nicht Daisy gegenüber, falls Sie das meinen. Daisy ist total pflegeleicht, Emily hätte gar keinen Grund, ihr gegenüber die Beherrschung zu verlieren. Sie ist ein Baby, Herrgott noch mal! James oder Chloe gegenüber ist Em vielleicht schon mal etwas gereizt – oder mir gegenüber – aber niemals gegenüber Daisy.«
Die Fragen hören nicht auf. »Und wie steht Chloe zu Daisy? Halten Sie es für möglich, dass sie sich ein bisschen vernachlässigt fühlt?«
Ich lache, aber ich merke sofort, dass das nicht gut ankommt. »Nein! Also, wenn Sie glauben, Chloe hätte irgendetwas damit zu tun …« Ich fasse es nicht, dass sie das denkt. »Chloe ist ganz vernarrt in ihre kleine Schwester! Außerdem war sie gestern Abend bei einer Freundin. Sie war nicht mal zu Hause. Sie war bei Beth.«
Der Polizist macht sich ein paar Notizen.
»Also«, fährt DCI Jacobs fort, »kommen wir noch einmal auf gestern Abend zurück. Haben Sie, nachdem Emily und James gegangen waren, nach Daisy gesehen?«
Ich überlege angestrengt, versuche, mich an die unauffälligen Einzelheiten des Abends zu erinnern, bemühe mich, mir alles ins Gedächtnis zu rufen, bevor ich antworte. »Ja. Jetzt erinnere ich mich wieder. Nachdem die beiden weg waren, hat Daisy noch eine ganze Weile in ihrem Bettchen vor sich hin geplappert – ich hatte das Babyphon eingeschaltet – , aber nach einer halben Stunde fing sie an zu weinen, und ich...