E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Eismeertrilogie
Arvola Der Aufbruch
1. Auflage 2025
ISBN: 978-3-641-31266-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, Band 1, 416 Seiten
Reihe: Die Eismeertrilogie
ISBN: 978-3-641-31266-4
Verlag: btb
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Ingeborg Arvola, geboren 1974, wuchs in Pasvikdalen und Tromsø im hohen Norden Norwegens auf und hat bereits mehrere Romane für Kinder und Erwachsene geschrieben. Ihren internationalen Durchbruch erlebte sie 2022 mit dem Roman 'Der Aufbruch', dem ersten Buch in der historischen Eismeer-Trilogie. Der Roman, der von der Geschichte ihrer Familie inspiriert ist, wurde sofort ein Bestseller, erhielt den renommierten Brage-Literaturpreis und wurde für viele weitere Literaturpreise wie den Preis des Nordischen Rates und den Norwegischen Buchhändlerpreis nominiert. Auch international sorgte der Roman, der in 12 Länder verkauft wurde, für großes Aufsehen und erhielt überragende Kritiken.
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Mikko ist angesehen – auch hier. Er und seine Leute werden in der Scheune des Händlers Andreas Esbensen untergebracht. Dessen Frau Elizabeth bittet uns persönlich zur Tür herein und lädt uns später zur Suppe ein, nachdem wir so eine weite Anreise aus Näädämä hatten. Sie trägt ihr Haar hochgesteckt, Rock und Bluse sind aus demselben fein geblümten Stoff. Ihre Schürze ist weiß, wie frisch aus dem Laden. Als sie mir zur Begrüßung die Hand hinhält, habe ich Angst, sie schmutzig zu machen.
In der Scheune ist das Heu jetzt im März schon recht knapp. Umso mehr Platz für unser Lager. Wir haben genug Rentierfelle für alle dabei. Kaum haben wir all unsere Last abgelegt, gehe ich mit Aleksi los, um mich nach meinem Bruder Pehr Pudas und seiner Familie zu erkundigen.
Draußen halten wir inne und atmen wieder die Luft ein. Ein lauter Knall lockt uns zum Kai an der Landzunge, wo sich schon viele andere tummeln.
»Ruija«, flüstert Aleksi andächtig und späht aufs Meer hinaus, um zu sehen, ob man hier wirklich den Fisch im Wasser flimmern sieht.
»Ruija«, wiederhole ich und höre selbst, dass mir die großen Gefühle fehlen. Im Wasser ist kein Fisch zu sehen, dafür ist es voller kleiner Wellen. Zornig sehen sie aus. Das Wasser ist schwarz. Vielleicht weil es so tief ist? Ich fröstle. »Was war das für ein Knall?«, frage ich und schiebe das Gefühl und den Gedanken an die Tiefe beiseite.
Hinter uns liegt Esbensens Handelshof mit der Scheune, in der wir untergekommen sind, vor uns, an beiden Enden des gewaltigen Kais, befinden sich Fischereigebäude: ein großes, neues auf der Landzunge und ein kleines, schiefes auf der linken Seite, wo der Kai in schroffe Felsen übergeht. Der Kai ist breit und lang, fast wie in einer richtigen Stadt, und hier haben sich die Leute versammelt. Langsam schieben wir uns durch die vielen Menschen, die in Grüppchen auf den Planken verteilt stehen, angeregt ins Gespräch vertieft. Man versteht beinahe alles, was geredet wird, denn auch hier wird Finnisch gesprochen, genau wie in Neiden. Keiner dieser Menschen hier ist mein Bruder.
, brüllt ein Mann mit hitzig rotem Gesicht. Er wirft lose Fassdauben auf den Kai. Ich betrachte das Netz, das lose an einem Haken baumelt, der wiederum mit einem Seil an einem Kran befestigt ist, der über das Boot mit dem Mann und dem zersplitterten Fass hinausragt. Auf dem Kai steht ein junger Bursche mit gebeugtem Nacken und sammelt die Dauben zusammen.
»Weder Gott noch Satan haben Fässer zum Zerbrechen übrig«, ergänzt der andere Mann im Boot. Er ist groß und lächelt entspannt. »Mein Bruder ist so mürrisch, wie er ledig ist.«
Die Leute schmunzeln, einige gehen weiter ihrer Wege. Ich bleibe stehen und betrachte den Kerl mit dem roten Gesicht. Der heiraten sollte, genau wie ich. Nichts an seiner Gestalt ist anziehend. Seine Bewegungen sind brüsk, wo die von Mikko ruhig sind. Sein Mund wirkt verdrossen, wo Mikko ein kleines Lächeln aufgesetzt hat. Die Röte seines Gesichts nimmt um die Nase zu, also trinkt er wohl viel, während Mikko nur selten etwas anrührt. Seine Augen sind klein, das Haar ragt verschwitzt unter der Mützenkrempe hervor, Mikko hat einen klaren Blick und wäscht sich die Haare nach der Arbeit.
Die Ansammlung von Leuten, an deren Rand wir stehen, fachsimpelt nun nicht mehr darüber, wie man am besten Fässer herstellt, sondern spricht über die Boote der Russen.
»So hässliche Boote, wie von Satan persönlich gebaut«, sagt einer.
»Rund und schwer«, stimmt ein anderer zu. »Klobig.«
»Die sind für Fracht gebaut, nicht zum Fischen«, erklärt der erste. »Weil sie so viel Mehl transportieren und so viel Fisch. Pomorhandel ist sogar ein eigener Begriff, kennt ihr das nicht? Das kommt von den Pomoren.«
»Kaufen die wirklich jeden Fisch?«, fragt ein Junge.
»Ja, den schlechtesten Fisch verkaufen wir den Russen«, antwortet der Mann. »Die nehmen alles.«
»Alles?«
»Solange die Fische am Rücken eingeschnitten sind, denn so sparen sie sich den Zoll.«
»Was machen die denn mit all dem schlechten Fisch?«, will der Junge wissen.
»Da drüben gibt es so viele Leute. Unfassbar viele Menschen, die ernährt werden müssen.«
»Aber wenn sie so hungrig und arm sind, warum verkaufen die dann ihr Mehl?«
»Die haben da drüben so viel Mehl, unfassbare Mengen Mehl, die brauchen das nicht alles.«
»Du hast doch gerade gesagt, die Leute sind arm.«
»Viel Mehl?«, fragt ein anderer. »Was soll das bedeuten, viel Mehl?«
»Die Leute, die mit Mehl und Fisch handeln, sind nicht arm. Die, die einen Hof haben und Getreide anbauen, sind nicht arm, für die ist Fisch wertvoller als Mehl, weil es dort nicht so viele gibt, die Trockenfisch verkaufen. Ein Land braucht nicht nur Mehl, sondern auch Fisch.«
»Fisch ist wichtiger.«
»Was heißt denn viel Mehl?«, wiederholt der, der über Mehl sprechen wollte.
Aleksi und ich machen kehrt und gehen zurück zu den Häusern. Neben den Fischfabriken und dem Kai mit all seinen Schuppen und Nebengebäuden stehen auf der Landzunge sieben Wohnhäuser, zwei weitere werden gerade gebaut.
»Warum heißt der Onkel eigentlich Pehr Pudas und nicht Seipajærvi?« fragt Aleksi.
»Mein Bruder Simpa heißt auch Marjavara und nicht Seipajærvi«, ergänze ich.
»Warum?«, fragt Aleksi. »Das hört sich an, als wären wir gar nicht mit ihnen verwandt.«
»Warum ist das so …«, wiederhole ich nachdenklich, während ich gleichzeitig überlege, in welche Richtung wir zuerst gehen sollen. Wir können weiter an der Ansammlung von Häusern auf der Landzunge entlanggehen, aber wenn Pehr hier irgendwo wäre, dann wären wir ihm wohl schon längst über den Weg gelaufen? Oder seiner Frau Markka?
»Manche Familien haben nur einen Namen«, sagt Aleksi.
»Ja«, sage ich und steuere auf die Häuser zu, die über ein flaches Stück Land verstreut liegen, wo der Schnee geschmolzen ist und das gelbe Gras des Vorjahres kleine Büschel bildet.
»Wie bei deinem Großvater, Okki Pekka Köngäs.«
Ich nicke.
»Da heißen alle Köngäs, und wenn man von einem Köngäs hört, weiß man gleich, dass man mit ihm verwandt ist.«
»Pehr und Markka haben geheiratet und ein Stück Land bekommen«, sage ich. »Vielleicht heißt die Gegend so, Pudas? Und sie haben den Namen passend zu ihrem neuen Land bekommen?«
»Heißt Markkas Familie Pudas?«
»Nein, sie hieß ja Aikio, bevor sie geheiratet hat.«
»Sie auch?«
Mikkos Boot wirkt klein neben dem von Händler Esbensen. Es bietet sicher doppelt so viel Platz. Mein Blick wandert von den Booten zu den Häusern, die sich zum Festland hin aneinanderreihen. Ein weißer Strand führt in einer langen Biegung zum Land, gegenüber liegt ein ähnlicher Strand, dazwischen Gebäude und Gras vom Vorjahr. Fast wie ein Band zwischen der Halbinsel und dem Festland. Würde man die Landschaft wie ein Vogel aus der Luft betrachten, ähnelte sie vielleicht einem Holzhammer, aber was wissen Vögel schon von Holzhämmern? Vögel sehen die Welt wohl nicht in Menschenbegriffen. Aber was sehen sie dann?
Aleksi und ich schlendern weiter. Hinter mir liegt das Haus aus meinem Traum, das Fenster, das Gesicht der Frau. Aber hinter dem Fenster war nichts. Hinter keinem der Fenster, an denen wir vorbeigehen, ist etwas zu sehen. Es ist bereits Abend, aber das Wetter ist gut, und alle halten sich draußen auf. Die Kinder sammeln Seegras für die Kühe und Rentiere. Jungen, jünger als Aleksi, haben ihre Hosen ausgezogen und staken zwischen den Steinen herum, um an den Tang zu kommen. Es sieht kalt aus. Aber sie lachen und schreien. Ich meine, irgendwo Schafe blöken zu hören, vielleicht bekommen auch sie von dem nahrhaften Futter. Die Männer hantieren an den Gerätschaften und Booten herum. Auf der Landzunge gibt es vier Holzstege und fünf Häuser. In der Mitte steht eine Gemeinschaftssauna, aus deren Schornstein kein Rauch aufsteigt. Es ist nicht Samstag. Wohnt mein Bruder in einem dieser Häuser? Konnte er vielleicht sogar eins kaufen? Ich betrachte die Frauen, die Viehfutter und Fischsuppe kochen und die im Laufe des Tages getrocknete Wäsche einsammeln. Manche helfen ihren älteren Kindern dabei, die merkwürdigen Gestelle auszubessern, die überall herumstehen: lange Holzstangen, mit Seilen und Nägeln aneinander befestigt, als hätte man lauter Gebäude errichten wollen, es sich dann jedoch anders überlegt.
»Was die nur mit all diesen Bauten ohne Dach und Wände wollen«, sage ich, stupse den nächsten Pfahl an und merke, wie fest er steht, obwohl das Gebilde eher wackelig aussieht.
»Das sind Gerüste zum Aufhängen von Fischen«, sagt Aleksi. »Trockenfisch.«
»Woher weißt du das?«, frage ich, freundlich beeindruckt.
»Ich will Fischer werden, Mama, da muss ich doch wissen, wo man die Fische aufhängt, die ich fange«, gibt er mit einem Grinsen zurück.
»Und dass jemand sie am Rücken aufschneiden muss, damit die Russen sie zollfrei kaufen können«, füge ich hinzu, was wir beide gerade eben auf dem Steg erfahren haben.
Aleksi versetzt mir einen Knuff und lacht. »Ganz genau.«
Er gibt mir einen weiteren Knuff, und ich lege ihm dankbar den Arm um die Schulter. Aber nur ganz kurz, damit er sich nicht entzieht.
»Fragen wir jetzt nach dem Onkel?«, drängt er, als ich meinen Arm wieder wegnehme.
»Ich laufe lieber erst mal ein bisschen herum und halte nach...