Artwinska / Rocko | Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Reihe: narr STUDIENBÜCHER LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT

Artwinska / Rocko Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert

Grundbegriffe - Autor:innen - Textinterpretationen

E-Book, Deutsch, 352 Seiten

Reihe: narr STUDIENBÜCHER LITERATUR- UND KULTURWISSENSCHAFT

ISBN: 978-3-381-10473-4
Verlag: Narr Francke Attempto Verlag
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



Das in deutsch-polnischer Zusammenarbeit entstandene Lehrbuch bietet eine moderne Literaturgeschichte der polnischen Literatur fur Studierende. Anhand exemplarischer Analysen und Interpretationen wird die Entwicklung der polnischen Literatur von der Romantik (1822-1863) bis zur Moderne (1890-1918) - erweitert um Bezuge zu fruheren und späteren Werken - verständlich erläutert. Die Gliederung erfolgt nicht nach Epochen, sondern nach zentralen Phänomenen und Grundbegriffen der polnischen Kultur. Im Mittelpunkt stehen die Wechselwirkungen zwischen literarischen und gesellschaftlichen Prozessen, die letztlich ein Verständnis fur die polnische Kultur und Mentalität ermöglichen. Mit diesem Band wird eine Lucke auf dem deutschsprachigen Buchmarkt geschlossen und an die neuesten Trends der Literaturgeschichtsschreibung angeknupft.

Prof. Dr. Anna Artwinska ist Inhaberin des Lehrstuhls fur slawische Literaturwissenschaft und Kulturstudien an der Universität Leipzig und lehrt dort westslawische Literaturen und Kulturen.
Artwinska / Rocko Polnische Literatur im langen 19. Jahrhundert jetzt bestellen!

Weitere Infos & Material


2.2 Literaturgeschichte: zwischen Unmöglichkeit und Notwendigkeit
Trotz aller Schwierigkeiten und Probleme, die die Literaturgeschichtsschreibung mit sich bringt, kann nicht auf eine Literaturgeschichte verzichtet werden. „[…] [W]e cannot write literary history with intellectual conviction, but we must read it“ (Perkins 1992, 17). Die historische Perspektive auf Literatur ermöglicht die Zusammenhänge zwischen Strömungen, Texten und Autor:innen zu begreifen und Kontinuitäten und Diskontinuitäten zu verfolgen. Die Dekonstruktion des Kanons als eine politische Aufgabe kann nur gelingen, wenn man versteht, wie, warum und von wem der jeweilige Kanon so und nicht anders konstruiert wurde. Auch die Versuche, die Literaturgeschichte zu zensieren oder aus politischen Gründen umzuschreiben – was übrigens nicht nur im Stalinismus passierte – erschließen sich nur dann, wenn man die zeitlichen, historischen und kulturellen Hintergründe kennt. Diese Art von Wissen ist mit einem hohen Lesepensum verbunden, erfordert Zeit und intellektuelle Kraft – damit ist sie nicht einfach in den studentischen Alltag zu integrieren. Doch es lohnt sich. Nutzen literaturhistorischer Kategorien Ein Denken in literaturhistorischen Kategorien bietet Orientierung und ist ein Mittel gegen das fragmentarische und zerstückelte Wissen: Es emanzipiert. Man studiert eine Literaturgeschichte nicht nur, um sich Wissen über Texte und Autor:innen anzueignen. Literarische Texte können durch die Erschließung literaturgeschichtlicher Kontexte tiefer gelesen und verstanden werden. Es ist ein befriedigendes Gefühl, wenn man beispielsweise erklären kann, auf welche romantischen Denkfiguren der Titel des Romans der zeitgenössischen Autorin Dorota Maslowska Wojna polsko-ruska pod flaga bialo-czerwona (2002, [Schneeweiß und Russenrot]) anspielt. Oder warum die polnischen Modernist:innen zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Idee der sozialen Solidarität aufgaben, die für eine Generation zuvor noch zentral gewesen war. Auch die Verbindungslinien innerhalb einer Epoche, z. B. die Entwicklungsstufen der Epik im Positivismus von der Novelle über den Tendenzroman zum ‚Roman des reifen Realismus‘, erschließen sich erst, wenn man die Epik dieser Zeit systematisch studiert. Anhand literarischer Texte kann man auch die Mentalitäts- und Sozialgeschichte einer Nation rekonstruieren und ihre kulturellen Eigenheiten kennenlernen. Und da niemand alle Texte einer Nationalliteratur gelesen haben kann – diese Vollständigkeit ist nicht zu erreichen –, erweist sich eine Literaturgeschichte als gute Abhilfe.   Für das Studium der Polonistik wäre es optimal, wenn die polnische Literaturgeschichte nicht der erste und einzige Untersuchungsgegenstand wäre. Sie steht nämlich in Beziehung zu den anderen europäischen Literaturen; manchmal formuliert sie dieselben Fragen, manchmal gibt sie auf dieselben Fragen andere Antworten als die deutsche, die ukrainische oder die französische Literatur (geschweige denn die Antike als Wiege der europäischen Zivilisation). Hat man sich in der Schule z. B. mit dem Konzept des Nationaldichters anhand der Weimarer Klassik befasst, so ist es einfacher, dieses Konzept auf die polnische Literatur und die Figur von Adam Mickiewicz zu übertragen. Diejenigen, die mal im Theater Samuel Becketts Drama En attendant Godot (1952, [Warten auf Godot]) gesehen haben, werden die Stücke von Tadeusz Rózewicz und Slawomir Mrozek, die wie Becketts Stück zum Theater des Absurden gehören, besser verstehen können. Denn das, was Walter Schamschula über die tschechische Literatur als europäische Literatur schreibt, ist auch auf die polnische übertragbar: Was die europäischen Hochkulturen seit dem Mittelalter hervorgebracht haben, ist auch bei ihnen [den böhmischen Ländern] vorhanden. Hier finden sich seit der Romantik alle Epochen der Kunstgeschichte im weitesten Sinne vertreten, und diese enge Bindung wirkt bis in die Gegenwart hinein und über diese hinaus. (Schamschula 2001, 1) Die polnische Literatur als Teil der europäischen Literatur zu begreifen bedeutet, sie in den Kontext anderer europäischer Literaturen zu stellen und in diesem zu interpretieren. Eine komparatistische Perspektive ermöglicht, das Singuläre und das Allgemeine im Verlauf der polnischen Literaturgeschichte zu erkennen, um dadurch einzelne Ereignisse besser einzuordnen. Dabei ist es jedoch illusorisch zu denken, dass man während eines dreijährigen Studiums der Slawistik noch nebenbei die Klassiker:innen der Weltliteratur lesen oder sich gründlich mit dem innerslawistischen Vergleich befassen kann. Das, was man jedoch trotz des Zeitmangels erreichen kann, ist, eine Sensibilisierung für diese Problematik zu entwickeln, z. B. im Rahmen eines Seminars zur Vergleichenden Literaturwissenschaft. Komparatistische Perspektive der Literaturgeschichtsschreibung Die Theoretiker:innen der neueren, poststrukturalistischen Literaturgeschichten – die trotz aller Krisen der Gattung weiter geschrieben werden – formulieren häufig das Postulat, die jeweilige nationale Literatur in den europäischen Kontext zu stellen und bei der Interpretation der Texte eine pluralistische Perspektive einzunehmen. In der Praxis wird das aber leider nicht so leicht umgesetzt. Ein gutes Beispiel für eine komparatistisch-pluralistische Perspektive auf die Literaturen Ost- und Ostmitteleuropas stellt die von Marcel Cornis-Pope und John Neubauer herausgegebene History of the Literary Cultures of East-Central Europe (2004–2010) dar, in der ideologische und ästhetische Phänomene literatur- und kulturübergreifend diskutiert werden. Die poststrukturalistischen Literaturgeschichten zeigen sich durch die Debatten über die Krise der Literaturgeschichtsschreibung gut informiert. Die meisten von ihnen werden als kollektive Monographien verfasst, um die Multiperspektivität und Vielstimmigkeit zu fördern und der Gefahr einer eindimensionalen Darstellung entgegenzuwirken (vgl. Werberger 2012). Im polnischen Kontext fällt zudem die Vielfalt von experimentellen Darstellungsformaten auf, die eine Alternative zu den auf dem chronologischen Prinzip basierenden Literaturgeschichten anbietet. In der Monographie Nowe Historie Literatury [Neue Literaturgeschichten] von Joanna Maj werden diese in drei Gruppen gegliedert: formy enumeracyjne [Aufzählungsformate], formy podmiotowe [subjektbasierte Formate] und formy performatywne [performative Formate] (vgl. Maj 2021). Während in der ersten Gruppe u. a. die Liste und das Alphabet als Ordnungsmuster dienen, geht es in der zweiten Gruppe um persönliche Zeugnisse wie Tagebücher und Gespräche, die eine Erzählung aus subjektiver Perspektive befürworten. Die dritte Gruppe umfasst solche Darstellungen, die die Geschichte der Literatur als performatives Aushandeln oder kommunikatives Spiel definieren, was beispielsweise ein literarischer Reiseführer im Hinblick auf den Umgang mit dem Raum tut (Maj 2021, 207f.). Die Formate aller drei Gruppen stehen in Opposition zu den klassischen Synthesen der polnischen Literatur und setzen bewusst auf Unvollständigkeit und Arbitrarität. Ihr primäres Ziel ist nicht die Vermittlung von Basiswissen, sondern eine Neuperspektivierung des Materials und die Entwicklung neuer Fragestellungen. Im Endeffekt tragen sie auch zur Revision des Kanons bei, indem sie z. B. regionale Geschichten in den Vordergrund rücken oder die Biographien von wenig bekannten Autor:innen rekonstruieren. Auch aus der Perspektive der ausländischen Polonistik sind sie eine wichtige Ergänzung zu den traditionellen Lehrwerken und erleichtern nicht selten den Einstieg in die Problematik der Literaturgeschichte. So konnte ich als Dozentin z. B. die Erfahrung machen, dass die Publikation 99 ksiazek. Czyli maly kanon górnoslaski (2011, [99 Bücher. Oder ein kleiner Kanon Oberschlesiens]) von Zbigniew Kadlubek, die verschiedene Sprachen und Traditionen miteinander verbindet (Polnisch, Deutsch, Tschechisch, Jiddisch, Schlesisch), in einem Seminar eine interessante Diskussion über die Prozesse der Inklusion und Exklusion in der Literaturgeschichte auslöste. Die Studierenden erwarben dadurch wichtiges Wissen über „Literaturgeschichte als Verflechtungsgeschichte“ (Werberger 2012), welches dennoch, aus meiner Perspektive, umso sinnvoller...


Ihre Fragen, Wünsche oder Anmerkungen
Vorname*
Nachname*
Ihre E-Mail-Adresse*
Kundennr.
Ihre Nachricht*
Lediglich mit * gekennzeichnete Felder sind Pflichtfelder.
Wenn Sie die im Kontaktformular eingegebenen Daten durch Klick auf den nachfolgenden Button übersenden, erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir Ihr Angaben für die Beantwortung Ihrer Anfrage verwenden. Selbstverständlich werden Ihre Daten vertraulich behandelt und nicht an Dritte weitergegeben. Sie können der Verwendung Ihrer Daten jederzeit widersprechen. Das Datenhandling bei Sack Fachmedien erklären wir Ihnen in unserer Datenschutzerklärung.