Aronen Der Sommer vor meinem Fenster
1. Auflage 2014
ISBN: 978-3-8387-5559-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Roman
E-Book, Deutsch, 398 Seiten
ISBN: 978-3-8387-5559-5
Verlag: Bastei Lübbe
Format: EPUB
Kopierschutz: 0 - No protection
Helsinki im Jahr 2005: Hagar Edith Wikström weiß noch nicht, dass dies der letzte idyllische Sommer in der Wohnsiedlung Kanaan sein wird. Sie arbeitet seit Jahren als Rundfunkjournalistin von Zuhause aus. Ihre Gewohnheit, Fenster, Höfe und Bewohner in ihrer Nachbarschaft zu beobachten, lässt sie in diesem Sommer Zeugin dramatischer Ereignisse werden, die in einer Katastrophe gipfeln ...
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Fürchtete mich Koba, respektierte auch er mich? Er war von uns außer der unauffälligen Brezel der Einzige, der auf den alten Fotos hätte dabei sein können, auf denen Ureinwohner, die ersten Erbauer von Kanaan, zu sehen waren.
Wir anderen waren zu sehr … alles Mögliche. Wenn uns etwas fehlte, dann Genügsamkeit, Bescheidenheit, Stillschweigen. Wir waren selbstbewusste, voluminöse, gut situierte, nach reichlich Nahrung verlangende Hybride, entwickelt aus jenen einheimischen Gewächsen, die früher diese Gärten füllten. Deshalb war es unsinnig, die Knookalas zu verspotten, die einfach genügend Geld und Willen und einen anderen Geschmack hatten. Also, einen schlechten Geschmack.
Das neue Kanaansland war verlogener als Österbottnien. Der dezente und aufgesetzt bescheidene, elegante Stil des heutigen Kanaans setzte regelmäßige, eher solide Einkünfte voraus. Die Häuserpreise waren gestiegen und nur noch für solche Käufer erschwinglich, die zwei Autos besaßen. Und ich wusste, was Sägeware kostete, selbst wenn man sie billig von einem kleinen Sägewerk, das in der Dunkelheit abgelegener Wälder lag, herbeischaffte. Ich hatte ausgerechnet, was es kosten würde, das Dach streichen zu lassen, von einem neuen Blechdach ganz zu schweigen. Ich hatte begriffen, dass Klempner die neue Arbeiteraristokratie darstellten. In meinem Besitz befand sich immer noch eine Quittung über Farben aus der Fabrik, die Traditionsfarben herstellte. Mir wurde klar, dass die Fortführung der Tradition ein kleines Erbe erforderte. Die Möbel in meinem Hause waren seit siebzig Jahren kaum je gewechselt worden, nicht weil meine Eltern das Alte zu schätzen gewusst hätten, sondern weil niemand in der Familie sich neue leisten konnte.
Armut wandelt sich stilmäßig und wirtschaftlich oft zu einem Gewinn für die nächste Generation. Suvi-Liina war bei mir und bot mir Geldscheine für jeden Geschirr- und Küchenschrank, jeden Tisch und Stuhl. Ich hatte ausgerechnet, dass ich mit dem Verkauf des alten Schreibtischs notfalls Keränen für den Umbau der Veranda und mit dem über hundert Jahre alten Essservice der Kairo-Fabrik einen neuen Öltank bezahlen könnte.
Das Geschirr hielt ich wohlweislich versteckt, denn ich hatte den Verdacht, dass Suvi-Liina ebenso habgierig war wie die richtige Martha Stewart. Ich konnte nirgends die alte Milchkanne meiner Mutter finden, die ich auf der Veranda als Blumenvase benutzt hatte.
Es hatten sich erstaunlich viele Fotos vom alten Kanaan erhalten, denn die Stadt hatte bis zu den Kriegen ihr Pachtgrundstücksgebiet fleißig fotografiert. Frauen in den Gärten neben dem Phlox in Kleid und Schürze, mit hervorstehenden Schlüsselbeinen, misstrauisch unter dem Rand des in die Stirn gezogenen Kopftuchs hervorlugend, die Augen tief in den Höhlen. Die Männer um das Fundament herum in Schirmmütze und Stiefelhosen, zum Zeichen der Hitze ohne Hemd, die Hosenträger herabgelassen von den nackten, krummen Schultern. Helfer bei der gemeinsamen Nachbarschaftsarbeit. Hohe Wangenknochen, kurze, magere, ein wenig verzogene Körper, große Hände, ungeduldig wegen der Umstandskrämerei des Fotografen, schon ein wenig aufgestanden, bereit, die nächste Arbeit anzupacken.
Menschen, die so aussehen, bringt die neue Zeit nicht mehr hervor. Auch die Nahrungsmittel sahen fremd aus, denn auf den Tischen erkennt man Milch in Flaschen, einen halben Weizenzopf, einen Kaffeekessel, Roggenbrotscheiben – und Bücklinge? Oder sogar Schweinerippchen?
Außer Koba und Brezel hätten wir anderen nicht mehr in diese Bilder gepasst. Nicht wir, nicht unser Essen und auch nicht die Ausstattung unserer Häuser, sosehr viele auch versuchten, das alte Kanaan nachzuahmen, sodass Suvi-Liina davon sogar reich wurde.
Ich war nicht der Standard, ich sah zu eigenartig aus. Hätte ich auf einem Foto eine Verwandte auf Heimurlaub aus der Irrenanstalt sein können? Uusitupa hätte wie ein Heldendarsteller von Suomi-Film ausgesehen, der im Vorbeifahren lediglich einen Abstecher gemacht hatte, um gnädigerweise seine Fans in der Arbeiterschaft zu begrüßen. Suvi-Liina hätte verlangt, dass in der Bildunterschrift ihr Warenzeichen Schrot und Korn erwähnt wird, sowie außerdem ein so hohes Fotohonorar, dass man sie überhaupt nicht auf dem Bild hätte haben wollen. Tsutsunen wäre damals Besitzer eines Schuhgeschäfts in Sortavala gewesen. Ihm hätte man selbst in Verkleidung den schuftenden Arbeiter nicht abgenommen, denn er war ein fröhlicher, kleiner Karelier, der es nicht geschafft hätte, die Zementmühle auch nur eine halbe Umdrehung zu bewegen. Er sah immer so aus, als wollte er gerade anfangen zu singen. Alissa? Russen wurden damals überhaupt nicht geduldet. Die Sippe der Knookalas wiederum klirrte zur selben Zeit in Österbottnien mit den Waffen.
Es blieb also nur Brezel übrig, denn unauffällige Menschen haben immer Brot gebacken. Und Koba. Dieser Ilkka Kärkkäinen, der in seinem späteren Leben die Gestalt von J. Dshugaschwili annahm, er wäre auch im Kanaan der Dreißigerjahre heimisch gewesen. Er wäre der Arbeiter gewesen, der nachts in der Bodenkammer Bücher verschlang und sich von der Masse immer dadurch unterschied, dass er wie nur wenige Menschen in jener Zeit eine Brille besaß.
Ich hatte gelesen, was der Revolutionär N. Wereschtschak in seinen Memoiren über das asiatische Gefängnis der Stadt Gory Anfang des 20. Jahrhunderts geschrieben hatte. Dort gab es einen kleinen, schwarzhaarigen und pockennarbigen georgischen Häftling, der in Erwartung der Verbannung durch Handschellen mit einem Kameraden zusammengeschlossen war. »Als er mich bemerkte, lächelte er. Er hatte ein eigentümliches Lächeln, das einem manchmal einen kalten Schauer über den Rücken jagte.«
Wie gut der Revolutionär doch Josef Wissarionowitsch beschreiben konnte, der sich dann in sowjetischer Zeit den Namen Stalin zulegte. Stal wie Stahl. Aber ich war es, die darauf kam, Kärkkäinen den heimlichen Namen Koba zu verpassen, den in Kanaan niemand sonst kannte. Als ich einmal mit Tauno sprach, rutschte mir aus Versehen »Koba« heraus, und der kluge Alte sah mich einen Moment prüfend an, ohne etwas zu sagen.
Sonst hat wohl kaum jemand den Zusammenhang bemerkt: Er hatte dieses Lächeln und das gutmütige, immer schmunzelnde, entrückte Zusammenkneifen der Augen, das dem Gesicht eine freundliche, väterliche Wärme gab. Sei gegrüßt, Ukraine, woge im Winde, goldene Kornkammer Russlands du! Ich aber dünge derweil das Vaterland mit meinem Blut.
Der junge Ilkka Kärkkäinen war jedoch alles andere als klein, schwarz und pockennarbig gewesen. Er war ein rundgesichtiger, bebrillter Student der Politikwissenschaft mit Bürstenschnitt aus Viitasaari, der stille und begabte Sohn einer Kleinbauernfamilie. Ich hatte ihn im Studienkreis der akademischen Sozialistengesellschaft kennengelernt, wo er trockene und kluge Vorträge über die Spaltung der kommunistischen Partei und die Bedeutung des Klassenkampfes im Finnland der Gegenwart hielt.
Kärkkäinen verblasste jedoch bald in meiner Erinnerung, weil ihm die siegessichere, wütende Glut fehlte, die in den anderen Jünglingen der Bewegung vorhanden war und die wir damals mit Erotik verwechselten. (In der Glut der Trotzkisten und Maoisten lag keine Erotik.) Er geriet auch deshalb in Vergessenheit, weil die AUFGABE so viel Zeit in Anspruch nahm. Als sie dahinschwand – bei mir war es der Verkauf der Zeitschrift Fackel vor der Nationalen Aktienbank am Mannerheimweg –, schwand auch die Erinnerung an Kärkkäinen.
Da uns aber die Geschichte immer im Nacken sitzt, kehrte auch Kärkkäinen in mein Leben zurück.
Die Politikwissenschaftler interessierten sich umso mehr für die ersten Jahrzehnte des jungen Finnlands, je älter und krummer das Jahrhundert wurde. Die allmählich verschorfende, schwärende Wunde des Bürgerkriegs war keineswegs geheilt, und allmählich musste man einsehen, dass die Entzündung nur dadurch zum Abklingen gebracht werden konnte, dass man diejenigen Dinge, die falsch berichtet oder interpretiert, verschwiegen oder vergessen worden waren, mitsamt den Wurzeln ausgrub. Auch die Kirche begann, die Denkmäler und namenlosen Massengräber der unterlegenen Roten zu segnen. Die Männer der Arbeiterbewegung wiederum begannen zu mutmaßen, dass man auch für den roten Terror um Verzeihung bitten könnte.
Diesem langsam wachsenden, vielstimmigen Chor schloss sich auch Ilkka Kärkkäinen mit seinem Gesang an.
Bekanntlich flüchteten die unterlegenen Roten nach dem Bürgerkrieg von 1918 in hellen Scharen nach Sowjet-Russland, vor allem in die Karelische Sozialistische Sowjetrepublik, und verschwanden dann in den Dreißigerjahren während des stalinschen Terrors spurlos. Dieses Thema war für die Kommunistische Partei Finnlands, die nach den Kriegen aus dem Untergrund auferstanden war, gelinde gesagt, heikel. Über das Schicksal der Gesinnungsbrüder und -schwestern – manche von ihnen waren richtige Verwandte – war lange geschwiegen worden, weil es schwierig war, sich in die inneren Angelegenheiten des Nachbarn einzumischen und weil es unter denjenigen, die die eigenen Leute denunziert hatten, allzu viele bekannte finnische Namen gab.
Kärkkäinen begann, sich mir von Neuem zu zeigen, zuerst nur auf Pressefotos und in Zeitungsartikeln, denn er promovierte in den Achtzigerjahren über diese Flucht der Roten nach Sowjet-Russland. Die Dissertation war Qualitätsarbeit, umfassend, detailliert, insgesamt von hohem Niveau. Kärkkäinen hatte im Lauf der Jahre alle verfügbaren Quellen in Moskau, in der DDR und in Finnland gesichtet. Die Untersuchung wurde mit »sehr gut« bewertet, und eine Zeitlang erregte sie überall Aufmerksamkeit, auch dort, wo ich damals...