E-Book, Deutsch, 91 Seiten
Reihe: TEXT + KRITIK
Arnold / Wohlleben Christoph Ransmayr
1. Auflage 2018
ISBN: 978-3-86916-738-1
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
E-Book, Deutsch, 91 Seiten
Reihe: TEXT + KRITIK
ISBN: 978-3-86916-738-1
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Christoph Ransmayr (*1954): Kaum ein deutschsprachiger Schriftsteller dürfte die Welt so intensiv erlaufen haben. Jahrzehntelanges Reisen in die entlegensten Gegenden findet Eingang in sein vielfach ausgezeichnetes Werk. Am 18. November 2018 wird ihm in Berlin der Kleist-Preis verliehen.
Gehen, eine mögliche Spielform des Erzählens, ist für ihn die "Fortbewegungsart, die dem Denken, dem Sprechen und schließlich auch dem Schreiben" am meisten entspricht. Ransmayr wandert auf Sicht: mit Richtungs- und Perspektivenwechsel und der Bereitschaft stillzustehen, wenn sich Fremdes im vermeintlich Vertrauten auftut. Wanderlinien werden zu Schriftzügen, reale Weltregionen zu mythischen Landschaften, geografische Kartografien zu literarischen Kalligrafien. Jeder Weg, jede Erzählung führt zugleich in die Weite anderer Kulturen und in das Innerste des Menschen.
Die Beiträge des Heftes kundschaften diese interkulturellen, existenziellen Erzählräume aus: in literaturkritischen Podiumsdiskussionen, literarischen Porträts, fiktiven Dialogen, literaturwissenschaftlichen Aufsätzen und essayistischen Glossaren. Sie widmen sich Ransmayrs kunstvoller Sprache, die zwischen literarischer Reportage, Lyrik, Epik und Dramatik changiert und einen unverwechselbaren Ton anschlägt: den Ton des mündlichen Erzählers. Ergänzt wird der Band durch den erstmaligen Buchabdruck von Christoph Ransmayrs "Ballade von der glücklichen Rückkehr".
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Christoph Ransmayr Ballade von der Glücklichen Rückkehr
Genug! Genug. Eines Tages ist es genug. Kauern wir unter wehenden Eisfahnen? Liegen wir erschöpft unter dem Kreuz des Südens in einer mondlosen Tropennacht? Es ist genug. So weit sind wir gegangen so hoch sind wir hinaufgestiegen, immer höher bis uns der nächste Schritt ins Blaue geführt hätte in die Wolken, nur noch ins Leere. Über Packeis, Gletscherspalten, Geröll und die Dünensicheln des Großen Sandmeers sind wir gezogen, getaumelt, bis hierher bis an den Rand unserer Kraft. Aber eines Tages, aber jetzt ist es genug. So lange haben wir bloß geträumt: von den Eiskronen der Pole von den Quellflüssen des Amazonas, Niger und Nil. Von den flimmernden Seen der Luftspiegelungen in den Wüsten Takla Makan, Gobi und Tanezrouft. Geträumt von Gipfeln: Nanga Parbat, Shisha Pangma Dhaulagiri und Chogori und Makalu und schließlich sogar davon, daß unter unseren Füßen der höchste aller Berge läge: Sagarmatha! Chomolungma. Der, den die einen mit heiligen Namen tauften und andere aus der Ferne bewarfen mit dem Namen des Landvermessers George Everest. Er, der allerhöchste unter unseren Füßen! Genug. Eines Tages tragen unsere Ziele entweder den Schmuck unserer Spuren Felswände die Kerben von Eisäxten die Schneekuppen der oberen Troposphäre Wimpel, Gebetsfahnen und Dünen das verwehende Gewirr unseres Auftritts oder Wildnis, Schnee, Sand und Morast bleiben ungeschmückt und es zwingen uns zur Umkehr: Orkan. Hunger. Wunden. Höhenwahn. Fieber. Angst. Die Erschöpfung oder das Heimweh. So oder so: Eines Tages kehren wir unseren Träumen den Rücken und machen uns auf den Weg in die Tiefe zurück zu den Menschen. Wie viele sind wohl vor uns auf diesem Weg verschwunden, ins Eis gesunken in fauliges Wasser, in den Abgrund, den Treibsand? Der Weg zu den Menschen, zurück ins Vertraute verzehrt noch größere Kräfte als die Routen ins Innere eines Traums. Aber wir wollen doch nur dorthin wo wir herkommen wir wollen, sagen wir, keuchen wir, heulen wir nichts wie weg wir wollen nach Hause! Du schwarzer Himmel! unter dem wir jetzt so allein sind. Was haben wir nicht alles auf uns genommen seit jenem Morgen, an dem wir unser Bett das Haus, die Liebsten verlassen haben und auf und davon gegangen sind. Auf und davon! Nächte in Schneehöhlen, Polarlichter, Luftspiegelungen haben wir gegen eiserne Tagesordnungen getauscht saubere Bettwäsche gegen ein Biwak im Eis von Rosen gesäumte Seepromenaden gegen Treibsand ein candle light dinner gegen Hunger und Krämpfe Sommerabende gegen die arktische Finsternis. Dort die allgegenwärtigen Nachbarn hier die Verlassenheit, dort Milchseife, Lidschatten, Lavendel hier Würmer und Fliegenlarven unter der Haut. Rachen und Mund wie in Flammen die Zunge ein verkohltes Stück Fleisch. Dieser Durst. Der Durst war die schlimmste aller Plagen. Oder war es die Atemnot? Neunundzwanzigtausend Fuß über dem Spiegel des Meeres haben wir um Luft gehechelt. Wie Himmelsmatrosen zur Wolkenbestattung in unsere Schlafsäcke geschnürt an Felsbalkone und Zinnen genagelt haben wir im Stehen zu schlafen versucht weil unter hängenden Eiswänden kein Platz zum Liegen war. Der Himmel über unserem Ziel war von einem so dunklen, metallischen Blau daß uns selbst um die Mittagszeit Sternbilder erschienen: Schwan, Delphin, Drache, Andromeda. Atemnot, Höhenwahn, alles, was dort, wo wir herkamen unerträglich schien haben wir ertragen und sind Schritt für Schritt Graten und Schneepyramiden entgegengetaumelt die Schritt für Schritt zurückwichen vor uns. Und wozu alle Plagen? Auf höchste und heilige Berge sind wir gestiegen weil sie da waren, einfach da. Ach ja, sie standen im Weg zwischen uns und der Ferne ach ja, und eine unsichtbare Linie schien durch Gletscherabbrüche und Kaskaden aus Stein in die Höhe zu führen, weiter hinauf ein Faden, nur für uns sichtbar durch ein vertikales Labyrinth ins Leere unser Weg! Der Ozean, die Meere haben uns verführt weil unter einem von Wellenkämmen gefiederten Horizont das nie Gesehene lag ungetaufte Häfen, namenlose Gärten, unser Glück. Was ist und was war, konnte nicht alles sein. Und so haben wir selbst im Herzen der Wüste blühende Städte vermutet, Oasen, weiße Paläste, Zarzura das Paradies. Genug! Was es auch war, was wir hatten es war niemals genug. Denn dort, weit draußen und über den Wolken ja selbst in der Finsternis der pazifischen Tiefsee irgendwo dort unten, dort oben mußte etwas zu finden sein das zumindest entfernt den Malereien unserer Tagträume glich. Und so gingen und stiegen und drifteten wir trudelten, schwammen wir weiter von einem Pol zum andern, über Ozeane und die weißen Ketten des Himalaya und Karakorum hinweg und den Äquator entlang und bogen so unsere Wege zum Kreis. Und eines Tages, unter wehenden Eisfahnen das Kreuz des Südens hoch über uns war es genug und wir kehrten glücklich oder gezwungen von irgendeiner Not unseren Träumen den Rücken und sagten genug, wir wollen nach Hause. Seltsam, wie fern am Rande der Erschöpfung, am Ziel alles Vertraute erscheinen kann. Unerreichbar das Bett, die Wohnung, die Liebsten. Der Gipfel des Chomolungma, der Everest unter unseren Füßen Zarzura, die weiße Stadt, zum Greifen nah! Aber unser Bett: unerreichbar. Unsere Zuversicht, unsere Kräfte, Wasser und Brot selbst die Luft in den Lungen – alles erschöpft, alles zur Neige nur Weite, Tiefe, Verlassenheit davon gibt es auch jetzt noch und immer genug. Ein Königreich für ein Bett! Nichts wie weg, heulen wir, weg von hier nichts wie zurück. Wer sein Ziel erreicht hat, wer in der Ferne ganz oben, ganz unten angekommen ist, wir nämlich der muß erkennen daß noch nicht einmal die Hälfte der Strecke hinter ihm liegt daß die Flucht zurück ins Vertraute länger und schmerzhafter werden kann als der Weg ins Ungewisse jemals war. Genug! Zurück! Weiter! Alles sind wir bereit zu ertragen, alles um endlich dort anzukommen von wo wir aufgebrochen sind vor einer Ewigkeit. Aber wie langsam und widerwillig uns nun das Vertraute entgegenkommt unerträglich langsam so wie damals der Südgipfel des Everest oder die dunklen Buchten von Nowaja Semlja. Entgegen? Es schwindet mit unseren Kräften scheint schon verloren. Jetzt, wo wir endlich nach Hause wollen, hinab in die Tiefe weicht das Nächste und Liebste vor uns zurück. Träumen wir? Zwischen Brechern, Graten, verschneiten Felszinnen von Daunen und Federkissen? Von unserem Bett? Vielleicht, träumen wir, vielleicht, eines Tages unter wehenden Eisfahnen? in einer mondlosen Tropennacht? werden wir ankommen. Türen werden sich öffnen, keine Abgründe Arme, keine Spalten im Eis. Wir werden umarmen und umarmt werden. Rotweinkaraffen, Gärten, gedeckte Tische, alles wird leuchten in den Farben unseres Heimwehs alles so, wie es war. Und in der Nacht nach unserer Rückkehr werden wir schlafen, zum erstenmal seit Monaten seit einer Ewigkeit schlafen, ohne zu träumen überwältigt vom Glück, wieder zu sein wo wir vor langer Zeit waren. Schlafen werden wir bis ein Geräusch uns weckt, ein Wort und noch eines klingende Namen, Nanga Parbat, Cho Oyu, Gasherbrum Stimmen aus einer Tiefe, in die kein Lot mehr hinabreicht, kein
Seil Makalu, Amazonas, Takla Makan, Annapurna, der Südpol! Ein Stimmengewirr, ein Chor und sein Refrain: Auf und davon! Auf und davon! Schiffsschrauben, Triebwerke, die Kufen eines Hundegespanns das Knirschen von Schritten im Schnee und im Sand auf und davon, flüstert, braust es in unseren Ohren auf und davon, wer bleibt, ist...