Arnold / Kindt / Lindblom | Lukas Bärfuss | E-Book | sack.de
E-Book

E-Book, Deutsch, Band 227, 98 Seiten

Reihe: TEXT+KRITIK

Arnold / Kindt / Lindblom Lukas Bärfuss

E-Book, Deutsch, Band 227, 98 Seiten

Reihe: TEXT+KRITIK

ISBN: 978-3-96707-112-2
Verlag: edition text+kritik
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark



"Meist kam er später als alle anderen und ging früher", schreibt der Lyriker Raphael Urweider in seinen Erinnerungen an frühe Begegnungen mit "Luki", der damals begonnen hatte, Kurzgeschichten zu schreiben. "Er war einer der wenigen, der eine Armbanduhr trug und auch immer wieder darauf schaute."
Seit diesen Anfängen Ende der 1990er Jahre ist ein mit existenziellen Fragen ringendes Werk entstanden – oft düster, manchmal komisch. "Das Schreiben ist ihm Instrument, die Welt zu greifen, ihre Zusammenhänge zu erkennen, Orientierung zu finden", so die Dramaturgin Judith Gerstenberg.
Diesem Schreiben und dem Menschen dahinter nähern sich die Beiträge des Heftes aus persönlicher, literaturkritischer und wissenschaftlicher Perspektive. Dabei verlangt der Autor seinen Leser*innen einiges ab. Germanist Peter von Matt: "Am Werk von Lukas Bärfuss kann man sich blaue Flecken holen."
27 Theaterstücke, drei Romane, zwei Essaybände, eine Novelle, einen Band mit Erzählungen: Lukas Bärfuss (*1971) hat in den letzten 20 Jahren ein beeindruckendes Werk geschaffen, das zuletzt mit dem Georg-Büchner-Preis 2019 ausgezeichnet wurde.
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Lukas Bärfuss reflektiert im neuen Essay DAS ULMENSTERBEN die "potentiell tödlichen Gefahren der zeitgenössischen Literatur": "Ein literarischer Text im Spätkapitalismus muss, ganz im Einklang mit den Forderungen an irgendeine andere Ware, viel versprechen und wenig einhalten."

Raphael Urweider erinnert sich an die ersten Begegnungen und einige Episoden aus der folgenden Freundschaft mit LUKI: "Bärfuss kann sehr überzeugend sein, er ist direkt, begeisternd und gibt einem das Gefühl, dass […] man ein Spielverderber ist, wenn man nicht mitmacht."

Judith Gerstenberg nimmt in ihrer werkübergreifenden Laudatio zur Verleihung des Büchner-Preises insbesondere Bärfuss' Dramen in den Blick: "Das einzige Wort, das Lukas Bärfuss für seine Poetik gelten lassen möchte, lautet: TROTZDEM."

Gregor Dotzauer zeichnet in einem Werküberblick Bärfuss' AUFATMEN IM GEGENWIND nach. Der "habituelle Provokateur" hält dabei an seinem Programm fest: "So kontinuierlich wie unroutiniert tut er das Unvermeidliche im Aussichtslosen."

Tom Kindt zeigt, wie Bärfuss in Meienbergs Tod, Der Bus und Hagard sein Publikum INS GELÄCHTER FÜHRT und "die fließenden Übergänge zwischen Belustigung, Befremden, Erschrecken und Entsetzen" auslotet: "Bärfuss' Werke legen es darauf an, eine Erfahrung des Komischen anzustoßen, […] in der Einsicht und Schmerz zusammenkommen."

Oliver Lubrich analysiert Hundert Tage, Koala und Öl: KOLONIALISMUS ALS METAPHER "für Schweizer Probleme" – für die "Kollaboration mit Diktaturen", "die kapitalistische Leistungsethik und Ausbeutung", "die Selbstsucht und Gier als Triebkräfte einer Ehekrise".

Victor Lindblom zeigt, wie Bärfuss im fiktionalen Modus von Koala "am Ende eines mühseligen Erkenntnisprozesses in einem fulminanten Wutausbruch allerhand radikalpessimistische Schlüsse" über unser Dasein zieht. In einer Existenz "außerhalb der Schöpfung" erscheine der Suizid "überzeugend wie ein schlüssiges Argument": IST ES WIRKLICH SO SCHLIMM?

Marta Famula untersucht das SKANDALON DES STERBENS in Alices Reise in die Schweiz: "Jenseits der theoretisch geführten ethischen Debatte markiert das Stück das subjektive Erleben des Suizids als ein unhintergehbares und dabei theoretisch kaum fassbares Problem."

Ralph Müller nimmt Bärfuss' ESSAYISTISCHE TUGENDEN und das Verhältnis von Stil und Moral – etwa im gleichnamigen "Anti-Essay" oder in der 'Strafpredigt' Die Schweiz ist des Wahnsinns – in den Blick und zeigt, wie "Stil mit Moral möglich wird".

Anke Detken zeichnet in ihrer Laudatio zur Lichtenberg-Poetikdozentur Bärfuss' ÄSTHETIK DER VERANTWORTLICHKEIT als eine 'durch die Postmoderne gestählte' Form der engagierten Literatur nach: "Allein moralisch ist Schreiben und Lesen wohl nicht zu rechtfertigen; ganz ohne Moral aber auch nicht."

Peter von Matt konstatiert bei Bärfuss eine werkübergreifende ÄSTHETIK DER KONFRONTATION: "Wir alle kennen die Situation, dass man im Finstern gegen eine Tür anrennt, die sonst immer offen steht. […] Genau so stößt man in Bärfuss' Stücken und Erzählungen irgendwann an eine imaginäre Mauer. Man weiß, hier muss ich durch, aber es geht nicht."

Thorsten Ahrend schreibt Bärfuss einen Brief und blickt auf 20 Jahre als sein Lektor zurück. "LIEBER LUKAS", erinnert er sich etwa an die Tage vor der Fertigstellung von Hundert Tage, "bevor das Buch gedruckt vorlag, habe ich Dich ab und an verflucht. […] Die Nächte vor der Abgabe in die Druckerei schlief ich auf einer Decke im Verlag auf dem Fußboden, das heißt ich schlief natürlich nicht, Du auch nicht, oder nur stundenweise."


Lukas Bärfuss Das Ulmensterben
Bevor ich mich einer bestimmten Art der Ascomycota widme, will ich die Aufmerksamkeit kurz einer Sache zuwenden, die mich seit einigen Jahren immer wieder beschäftigt. Sie betrifft eine gewisse literarische Form, die weit verbreitet ist und der ich neulich in der Form einer Kurzgeschichte begegnet bin. Als mein Blick mir am Ende eines langen und arbeitsreichen Tages nach leichter Zerstreuung war, fiel ich im Bücherregal zufällig auf einen Band, den ich vor zwölf oder mehr Jahren aus der Wühlkiste meiner Buchhandlung gefischt, bisher aber nicht gelesen hatte. Auf drei Dutzend Seiten lernte ich jetzt eine junge Frau kennen, die mit ihrer asthmatischen Schwester in einer namenlosen Provinz lebt. Die Eltern längst tot, die Aussichten auf eine Heirat gering mit täglich abnehmender Tendenz, besteht ihre einzige Möglichkeit, ein paar Stunden der Enge ihres Daseins zu entkommen, in den Theateraufführungen, die sommers in einer nahe gelegenen Stadt gegeben werden. Alle Jahre besucht die Frau diese Vorstellungen mit glühendem Herzen und lässt die kranke und argwöhnische Schwester derweil einen Sonntagnachmittag alleine. Nach einer Vorstellung von Shakespeares »As You Like It« und mit dem Kopf immer noch bei Rosalind und Orlando im Wald von Arden, vergisst unsere Heldin in der Toilette des Theaters ihre Handtasche. Geld, Fahrkarte, Schlüssel: unauffindbar. Tränen, Angst, Verzweiflung: die Heldin nun an jenem Punkt, den man in Hollywood Plot Point nennt. Auftritt Hund, Rasse Dobermann, er hat sich losgerissen, daher gefolgt von einem Mann. Kurzer Dialog auf den Treppen des Theaters, danach Spaziergang in seinen Laden, in dem er werktags Uhren repariert. Er serviert der jungen Frau nun ein karges, aber schmackhaftes Mahl aus Gulasch und Rotwein, das als frugal zu bezeichnen, die Autorin vermeidet. Geplauder über dieses und jenes. Während der Dobermann artig in einer Ecke wartet, stellt sich bald eine Vertrautheit ein. Später am Abend begleitet der Mann sie zum Bahnhof, wo er ihr die Karte für die Rückfahrt kauft. Beim Abschied auf dem Schotter am Ende des Bahnsteigs schenkt er ihr den ersten Kuss ihres Lebens und nimmt ihr das Versprechen ab, nach Ablauf eines Jahres dasselbe grüne Kleid anzuziehen, denselben Zug zu besteigen und seinen Laden mit den Uhren aufzusuchen. Was dort geschehen soll, wird nicht gesagt, aber die Aufregung, die das arme Wesen nun die nächsten zwölf Monate auf Trab hält, lässt vermuten, dass die Verheißung nicht in einem weiteren Teller des ungarischen Rindereintopfs besteht. Die Erzählung ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, man liest sie mit angehaltenem Atem und will natürlich wissen, ob die Heldin ihren Uhrmacher tatsächlich wiederfindet, wie sie es ihrer hilflosen und asthmatischen Schwester beibringen und welcher Art das Unglück sein wird, das unweigerlich zuschlagen muss. Glücklich enden diese Geschichten nie. Die Erzählung, übrigens, ist äußerst geschickt und sorgfältig gebaut, und so sehr ich die Autorin für ihre Handwerkskunst bewundere, scheint mir diese Erzählung ein prototypisches Beispiel für einige der grundlegenden und potenziell tödlichen Gefahren der zeitgenössischen Literatur zu sein, die, wenn sie sich nicht von diesem stilistischen Efeu befreit, daran ersticken wird. Damit man mich richtig versteht: Es liegt nicht an dieser spezifischen Geschichte. Sie steht nur als Exempel. Man findet dieselbe Manier bei allen Erzählungen dieser Autorin, die übrigens mit einigen hohen, ja den allerhöchsten Ehrungen ausgezeichnet wurde. Das Problem beschränkt sich gleichfalls nicht auf die Autorin. Wäre dies der Fall, würde ich keine Zeit damit verlieren, denn es müsste genügend Auswahl geben, um auch für meinen Geschmack das Passende zu finden. Nein, dieses Genre und seine Konventionen haben mittlerweile eine horizontale, vertikale und damit hegemoniale Verbreitung gefunden. Nur deshalb nehme ich mir Zeit und Mühe, um in aller Kürze und bevor ich auf das eigentliche Thema komme, das Problem in seinen Grundzügen darzulegen. Zuerst: Diese Literatur überlässt der Psychologie das alleinige Primat. Die sozialen, ökonomischen, politischen Bedingungen der handelnden Figuren werden höchstens nebenbei erwähnt und im Ungefähren belassen. Die erzählerische Anstrengung gilt alleine dem Versuch, die Grenze des Mentalen zu überschreiten und das Problem der Qualia für einen kurzen Augenblick aufzuheben. Bekanntlich weiß niemand, wie es ist, ein anderes als das eigene Bewusstsein zu besitzen, und jeder Versuch, diese erkenntnistheoretische Grenze zu überwinden, gehört in den Bereich des Fantastischen, eine Eigenschaft, die deshalb wesensmäßig zu dieser Art von Literatur gehört. So führt sie in aller Regel eine beliebige Person ein und beginnt, diese so lange vor unseren Augen ihrer gesellschaftlichen Hüllen zu entkleiden, bis sie nackt vor uns steht. Und wie weiland die Leichen im anatomischen Theater, so liegen alsbald diese Heldinnen vor uns, und wie der Präparator dort die Muskeln, Gewebe und Nerven, geht die Erzählerin nun daran, die Wünsche, Begierden, Gedanken und Affekte dieser Heldin freizulegen. Die Erzählerin besitzt zu diesem Zwecke nicht nur ein literarisches Seziermesser, mit dem sie jede Schutzschicht wie etwa Selbsttäuschung, Lebenslügen und falsches Gerede beiseiteschafft – sie verfügt darüber hinaus über einen fantastischen Röntgenapparat, der das unsichtbare Geschehen aufzeichnet und ins Bild rückt. So wandelt diese arme Heldin nach wenigen Seiten seziert und bis auf die Knochen entkleidet durch ihre provinzielle Existenz. Den Augen der fiktiven Figuren bleiben diese Vivisektionen allerdings verborgen. So heißt es etwa in jener Erzählung über unsere Heldin: »Die Mühe, die sie darauf verwendet hat, es geheim zu halten, war vielleicht gar nicht erforderlich, angesichts der Meinung, die die Leute sich von ihr gebildet haben – die Leute, die sie jetzt kennt, irren sich darin genauso gründlich wie die Leute, die sie vor langer Zeit kannte.« Man braucht hier nicht zu wissen, was diese Person geheimhalten will oder muss, und es ist ebenfalls einerlei, worin die Leute irren: Entscheidend ist die deutliche und unüberbrückbare Trennung zwischen dem Wissen der Leserin und jenem der Figuren. Nur wir Leser erkennen sie als zerfledderten Rest einer pathologischen Untersuchung. Alle anderen, ob Protagonist oder Antagonist, haben davon keine Ahnung und behandeln sie auch weiterhin wie eine der ihren. Natürlich findet diese Behauptung keine Grundlage in der Wirklichkeit. So wie in Schauergeschichten Vampire empfindlich gegen Sonnenlicht sind und in der Science-Fiction Raumschiffe schneller als das Licht reisen, handelt es sich hier um eine Konvention des Genres. Während sich dort der Leser niemals fragt, ob diese Behauptung in den Bereich der Wirklichkeit oder der Hirngespinste gehört, behauptet dieses Genre einen Realismus, eine dokumentarische Haltung. Niemals bringt diese Literatur ihre eigene Fantastik zum Bewusstsein. Hier wird nichts erschaffen und nichts konstruiert, hier wird bezeugt, und deshalb unternimmt diese Belletristik alles, um den Anschein der Natürlichkeit zu bewahren und ihre Künstlichkeit zu verbergen. Sie kaschiert jede Nahtstelle und hängt die Mechanik ab. Ihre hauptsächlichen Instrumente, Retuschierpinsel und Concealer, versteckt sie schamhaft, und obwohl gerade in der Fabriziertheit ihre Kraft liegen würde, fürchtet sich diese Erzählform vor der eigenen Puppenhaftigkeit und es bleibt die Frage, was eigentlich der Grund für die Angst ist. Weil ich die Sache nicht unnötig verlängern und endlich zu Ceratocystis novo-ulmi wechseln will, darf ich summarisch auf jene Erzähltheoretiker verweisen, die bereits vor langer Zeit definierten, dass nur jemand zum Helden werden kann, der mit aller Kraft ein bestimmtes Ziel verfolgt, er muss nach etwas streben, das er vorderhand nicht in die Hände bekommt. Die zur Frage stehende Literatur weiß noch davon, aber es gibt für ihre Heldinnen kein Abenteuer mehr. Die Gesellschaft, in der sie leben, hat dies nicht vorgesehen, im Gegenteil, ihre Absicht besteht gerade darin, durch den Fortschritt alle Fährnisse von ihren Bürgern fernzuhalten. Und weil es keine Gefahr gibt, fehlt ebenso die Entscheidung zwischen Erlösung und Untergang. Alles was den Heldinnen bleibt, ist ein langsames Absterben. Es gibt keinen Konflikt mehr, und weil das nicht hinzunehmen ist, weil es nämlich die Bedeutungslosigkeit der Heldin und damit gleichzeitig der Erzählung beweisen würde, wird behauptet, dass sich der Konflikt in die Innenwelt der Figuren verlagert habe und es nun unter den interessierten Blicken einer zugewandten Leserschaft die erste Aufgabe der Erzählerin sei, ihn von dort zu befreien und ans Tageslicht zu befördern. Allerdings bleibt auch dies, da es ja ein Vorgang ist, der nur für die Leser sichtbar ist, für die Dramaturgie weiterhin wirkungslos. Die Lösung für dieses narrative Dilemma liegt in einer Epiphanie, in der Erscheinung des Göttlichen, des Transzendenten. So bricht früher oder später unweigerlich die Metaphysik in eine Existenz, in der es dafür weder Form noch Sprache gibt. In der nämlichen Erzählung besteht dieser Einbruch darin, dass dieser Mann nach dem verstrichenen Jahr unsere Frau, die pünktlich in einem zwar anderen, aber immerhin grünen Kleid in seinem Laden erscheint, wortlos ins Gesicht schlägt. Zerstört kehrt die Frau zu ihrer kranken Schwester zurück, die irgendwann stirbt, aber sie bleibt trotzdem unverheiratet, hat hier und da eine Affäre, aber leidet doch ihr ganzes Leben lang an dieser Kränkung. Schließlich erfährt...


Kindt, Tom
Tom Kindt ist Professor für Allgemeine und Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Literatur der Moderne, Gegenwartsliteratur, Erzähltheorie, Komikforschung, Geschichte der Germanistik.

Lindblom, Victor
Victor Lindblom ist Diplomassistent im Bereich Germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Fribourg (Schweiz). Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Fiktionstheorie, Schweizer Literatur.


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