Weil soziale Ungleichheit und Ausgrenzung die Demokratie gefährden
E-Book, Deutsch, 268 Seiten
ISBN: 978-3-7526-9969-2
Verlag: BoD - Books on Demand
Format: EPUB
Kopierschutz: 6 - ePub Watermark
Autoren/Hrsg.
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Armut als Störfaktor
Über die Entwertung von Betroffenen1
Laura Wiesböck
Die Soziologin Laura Wiesböck hielt diesen Vortrag bei der Eröffnung der 12. Armutskonferenz. Sie gibt Einblicke in Armutsfaktoren sowie in die Gründe und die Auswirkungen des Bedürfnisses, zwischen „denen da unten“ und „denen da oben“ zu unterscheiden. Außerdem geht sie der Frage nach, welche Folgen das für den sozialen Zusammenhalt hat. Vielen Dank für die einleitenden Worte, vielen Dank für die Einladung. Mein Vortrag gestaltet sich mehr als eine Einführung denn als ein Vortrag per se. Deswegen werde ich ein paar Aspekte von Armut ansprechen, die uns wahrscheinlich allen bewusst sind, die es aber wert sind, noch einmal hervorgehoben zu werden. Ich beginne den Vortrag mit einer Frage, die ich auch häufig in Lehrveranstaltungen an der Universität zu Beginn stelle: Wie entsteht eigentlich Armut? Was sind die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen von Armut, unabhängig von individuellen Faktoren wie Schicksalsschlägen oder ähnlichem? Welche strukturellen Faktoren führen zu Armutsbetroffenheit? Aus soziologischer Perspektive können wir hier drei Ebenen benennen, nämlich Markt, Staat und Familie. Auf der Ebene des Arbeitsmarktes können wir seit den 80er Jahren starke Transformationsprozesse erkennen. Der Arbeitsmarkt wurde zunehmend dereguliert, liberalisiert und der ursprünglichen sozialen Sicherung beraubt. Das bedeutet, dass heute 300.000 Menschen in Österreich leben, die trotz Erwerbsarbeit unter der Armutsgefährdungsschwelle liegen. Im Gegensatz zu den USA ist das hierzulande ein relativ neues Phänomen: Arbeit schützt nicht mehr vor Armut. Auf der Ebene des Staates, des Wohlfahrtsstaates, können wir erkennen, dass ein Abbau von Sozialleistungen stattfindet, dass Armut trotz Sozialleistungen existiert und dass die Bedingungen für die Inanspruchnahme von Sozialleistungen verschärft werden. Auf der Ebene der Familie können wir beobachten, dass diese nicht mehr die soziale und ökonomische Absicherung bietet, wie das einst der Fall war. Das liegt nicht daran, dass unterschiedliche Familienformen per se weniger Absicherung bieten, sondern dass unterschiedliche Familienformen in unserem wohlfahrtsstaatlichen System nicht gleichwertig berücksichtigt werden. In Schweden finden sich Alleinerziehende beispielsweise nicht in demselben Ausmaß in den Armutsstatistiken wieder wie in Österreich, wo sie zu einer der am stärksten von Armutsgefährdung betroffenen Gruppe zählen. Diese drei Ebenen – Markt, Staat und Familie – sind also grundlegende strukturelle Faktoren für die Entstehung von Armut. Machtstrukturen öffentlicher Diskurse Im öffentlichen Diskurs sind jedoch jene Faktoren – Arbeitsmarkt, die Verbreitung atypischer Beschäftigungsformen, Working Poor, Wohlfahrtsstaat, Armut trotz sozialstaatlicher Leistung und Familie – nahezu unsichtbar. Armut wird im öffentlichen Diskurs stark individualisiert, als persönliche Leistungsunwilligkeit deklariert und zum Teil auch kriminalisiert. Während die Ökonomie zwischen unfreiwilliger und freiwilliger Arbeitslosigkeit unterscheidet, wird im öffentlichen Diskurs augenscheinlich nur zweitere verhandelt. Das basiert allerdings auf keiner empirischen Grundlage, sondern ist eine reine Unterstellung. Diese Unterstellung – und der öffentliche Diskurs im Allgemeinen – spielt für die Deutungen gesellschaftlicher Wertschätzung eine zentrale Rolle. Um die Zusammenhänge ausreichend zu beleuchten und zu verstehen, muss erörtert werden, was überhaupt ein Diskurs ist. Was bedeutet „Diskurs“? Was ist ein öffentlicher Diskurs, ein politischer Diskurs oder ein wissenschaftlicher Diskurs? Ein Diskurs ist ein sprachlich produzierter Sinnzusammenhang. Für mündige Bürger*innnen ist es wichtig zu verstehen, dass hinter Diskursen Machtstrukturen und Interessen liegen und Diskurse gleichzeitig diese Machtstrukturen und Interessen produzieren. Wenn beispielsweise Flucht als Migration bezeichnet wird, dann liegen dahinter Machtstrukturen und Interessen: Machtstrukturen, weil Tonangebende die Möglichkeit haben, die Diskursrichtung vorzugeben. Und Interessen, weil die Wortwahl auf eine Delegitimierung von Geflüchteten abzielt, denn Migration ist etwas Freiwilliges, Flucht etwas Notgedrungenes. Machtstrukturen und Interessen liegen also dem Diskurs zugrunde und werden mit ihm gleichzeitig auch produziert. Das ist sehr wichtig zu verstehen und verdeutlicht die Notwendigkeit von Sprachsensibilität: Durch Diskurse werden Muster gesellschaftlicher Wertschätzung oder Entwertung geformt. Dementsprechend wird der öffentliche Diskurs rund um das Thema Armutsbetroffenheit heute immer stärker zu einer moralischen Wertigkeitsprüfung. Das meritokratische Prinzip möchte uns glauben machen, dass jede Person den Status hat, den er oder sie verdient. Der Status würde demnach die Leistung eines Menschen widerspiegeln. Möchte man einen höheren Status erreichen, muss man sich mehr anstrengen und mehr Leistung erbringen. Und wenn man sich besonders anstrengt und sehr viel Leistung erbringt, dann würde daraus individuelle Statusgerechtigkeit folgen, so das Versprechen der klassischen Kapitalismus-Ideologie. Dieses Leistungsnarrativ können wir deutlich im öffentlichen Diskurs beobachten – wobei Leistung ausschließlich mit Erwerbsarbeit gleichgesetzt wird; hingegen bleibt unbezahlte Reproduktionsarbeit wie Pflege, Kindererziehung und Hausarbeit, auf der unsere Volkswirtschaft aufbaut, außen vor. Außen vor bleibt auch die Sicherheit, dass ein Vollzeitjob vor Armutsgefährdung schützt. Ich habe ein Beispiel mitgebracht: In einer Wahlwerbung wird von der „Gerechtigkeit für die Leistungswilligen“ gesprochen. Mit diesem Narrativ wird ein Muster gesellschaftlicher Deutung etabliert, nämlich dass es Leistungsunwillige im Gegensatz zu Leistungswilligen gibt. Bei genauerer Betrachtung sehen wir, dass dieses Narrativ den Anschein erwecken soll, dass Armutsbetroffene mutwillig untätig seien und sich auf Kosten der Gesellschaft ein „bequemes Leben“ in der „sozialen Hängematte“ machen. Soziale Abwertung und dahinterstehende Prozesse Auf der emotionalen Ebene lässt sich mit derartigen Bildern relativ einfach moralische Empörung über mutmaßlich Schuldige hervorrufen. Ein Grund dafür ist das starke Bedürfnis in unserer gegenwärtigen Kultur nach Eindeutigkeit, das Bedürfnis nach Schuldigen. Es wird als erleichternd empfunden, zu wissen, dass es eine*n „böse*n Strippenzieher*in“ oder eine*n Verantwortliche*n gibt. Dabei kommt ein Wunsch nach Komplexitätsreduktion zum Ausdruck. Ein ähnliches Muster lässt sich auch in Verschwörungstheorien erkennen. Armutsbetroffene werden damit zum Objekt kollektiver Abwertung. Das zeigt sich nicht nur im politischen Diskurs, sondern auch – wenn wir zum Beispiel ins Privatfernsehen schauen – in Scripted-Reality-TV-Formaten. Dort wird die abwertende Darstellung von Armut besonders deutlich. Armutsbetroffene werden in diesen Formaten dargestellt als unhygienische, übergewichtige, ungesund lebende, faule Menschen, die kurzfristig denken und ihre Kinder vernachlässigen. Sie werden als Feindbild zum Ideal der Leistungsgesellschaft portraitiert. Ein Beispiel für das Ausmaß an Menschenverachtung ist die Darstellung einer Person in der Sendung „Mitten im Leben“, deren Abbildung mit dem Text versehen ist: „Isst zur Not auch Klopapier.“ Armutsbetroffene machen in unserer Gesellschaft also in der Öffentlichkeit sehr viele und immer wiederkehrende Missachtungserfahrungen. Damit fehlt es ihnen nicht nur an Geld, sondern auch an Anerkennung und häufig auch an Selbstachtung. Sie bekommen das Gefühl, vorsätzlich gesellschaftsschädigend und finanziell parasitär zu handeln, nicht dazuzugehören, von der Gesellschaft nicht gebraucht zu werden und nutzlos zu sein. Sie entsprechen nicht den neoliberalen Kriterien, die heute als allumfassende Grundlage der Bewertung von Personen gelten: Effizienz, Verwertbarkeit, Funktionsfähigkeit und sichtbare Nützlichkeit für die „volkswirtschaftliche Produktivität“. Diese Logik des Marktes dringt auch in gesellschaftliche Sphären ein, die auf Basis des Solidaritätsprinzips entstanden sind. Deutlich wird dies an folgendem Narrativ: Personen sollen nicht mehr aus dem wohlfahrtsstaatlichen System herausbekommen, als sie eingezahlt haben. Diese Haltung führt jedoch das Prinzip von Wohlfahrtsstaatlichkeit, das auf Umverteilung basiert, ad absurdum. Dass man die soziale Kluft allein über die sogenannte Leistung legitimiert, dass also allein die Leistung verantwortlich sein soll für den Status, bezeichnet der Ökonom Thomas Piketty als Rechtfertigungsapparat des meritokratischen Extremismus. Es ist demnach nicht Armutsbetroffenheit, die zum gesellschaftlichen Problem stilisiert wird, sondern es sind die Armutsbetroffenen selbst. Dieser abwertende Blick auf ökonomisch...